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  • Day 259

    Das Nirwana und andere Ziele am Horizont

    June 25, 2023 in Indonesia ⋅ ⛅ 29 °C

    Bei einer langen Fahrradreise erlebt man die meisten Highlights im Vorüberfahren. Einerseits lässt man viele "offizielle" Sehenswürdigkeiten links liegen, da die Abstecher zu weit oder zu viele Höhenmeter zu bewältigen wären, andererseits erlebt man so viele Alltags-Highlights, dass das Bedürfnis nach weiteren "echten Highlights" gar nicht mehr so groß ist.

    Wenn wir in Bali auf 100 Kilometern an mindestens 100 kleinen und großen Tempeln vorbeifahren, müssen wir den größten nicht extra besuchen und wenn wir auf Timor durch lauter Dörfer mit einigen Pfahlbauten fahren, lohnt der Abstecher in die besonders schönen touristischeren traditionellen Dörfer nicht. Ähnliches gilt für spektakuläre Landschaften: Der Wasserfall, den man "unbedingt gesehen haben muss", ist oftmals für Autos und Reisebusse gar nicht so weit entfernt, gleicht aber den Dutzenden Wasserfällen, die wir in Tasmanien und Neuseeland gesehen haben und die wir auf einsamen Nebenstraßen passieren.

    Zumal eines in Indonesien nicht gastfreundlich ist: Die Eintrittspreise für sämtliche Sehenswürdigkeiten haben einen Ausländer-Eintrittspreis, der oft beim zehn- bis zwanzigfachen des lokalen Preises und damit über dem Eintrittspreis entsprechender Sehenswürdigkeit in Deutschland liegt.

    Ein Highlight, das wir uns dennoch nicht entgehen lassen können, ist der buddhistische Tempel Borobudur. Er ist die meistbesuchte Sehenswürdigkeit Indonesiens und spielt in einer Liga mit den Pyramiden von Gizeh und Machu Picchu. Der Tempel ist zehn Stockwerke hoch, mit Buddha-Figuren in verschiedenen Gebetshaltungen gespickt und gipfelt in einer Stupa, die das Nirvana repräsentiert. Er wurde vor über 1.000 Jahren erbaut und stammt aus einer Zeit, in der die Bevölkerung Javas noch überwiegend buddhistisch war. Als die Bevölkerung mehrheitlich zum Islam konvertierte, wurde der Tempel vergessen, vom Dschungel überwuchert, erst von den Eng- und Holländern wiederentdeckt und später aufwändig freigelegt und restauriert.

    Während der Tempel wahrlich beeindruckend ist, erstaunt uns die Infrastruktur, die entgegen der Preisgestaltung eben nicht europäischen Standards entspricht: Infoschilder sind Mangelware, den einzigen Flyer gibt es nicht ausgedruckt, sondern nur per Zufallsfund als Datei auf der Webseite (#zerowaste?) und die Öffnungszeiten findet man dort nur versteckt unter den Corona-Infos. Einige Gebäude auf dem Areal stehen leer und der ebenfalls nicht ausgeschilderte Aussichtspunkt in unmittelbarer Nähe des Tempels ist trotz bestem Blick auf den Tempel verwaist und wirkt verlassen. Und das Tempelmuseum, das über die Restaurierung der Anlage berichtet, stößt besonders bei den indonesischen Tourist:innen nicht auf allzu großes Interesse. Als wir hineinkommen, sind wir für die wenigen Anwesenden jedenfalls deutlich spannender, als die Ausstellungsstücke und werden für gemeinsame Fotos von Gruppe zu Gruppe gereicht.

    Nach einem Nasi Goreng zum Mittag geht die Reise weiter: Radit aus Yogyakarta hat uns in der nächsten Stadt einen Freund vermittelt, bei dem wir in der folgenden Nacht bleiben können. Er betreibt eine kleine private Englischschule ("Horizon") und nutzt unseren Besuch als Praxisübung für einige seiner Schüler:innen. Sie bringen kleine Snacks mit und so haben wir bei englischen Konversationen einen gemütlichen und unterhaltsamen Abend mit Einblicken in ihre Lebenswelten:

    👩🏻 Nita, 42, möchte als Zusatzqualifikation Wassermanagement studieren und braucht für das Stipendium ein Englisch-Zertifikat.

    🧕🏽 Heddi, 18, braucht das Englischzertifikat ebenfalls für ein Stipendium, um an einer guten Uni Psychologie studieren zu können.

    🧑🏾 Tama, 17, wird im nächsten Jahr in Marokko oder Ägypten Islamwissenschaften studieren und braucht dafür ein Grundniveau an Englisch.

    👨🏻 Zulfi, 38, hat die letzten Jahre als Matrose auf Öltankern rund um Indonesien gearbeitet und möchte sich für den nächsten Karriereschritt nun bei einer deutschen Reederei bewerben.

    👨🏿‍💻 Kizik, 21, liest gerne internationale Medien und schaut gerne amerikanische Filme, die er noch besser verstehen möchte.

    Während wir uns über die Ausländer-Preise für Sehenswürdigkeiten beschweren, haben die Schüler:innen ein viel größeres Problem: Für ein TOEFL-Zertifikat, das für die meisten Stipendien verlangt wird, müssen Indonesier:innen mit ca. 200 € das Gleiche wie wir bezahlen. Bei den Lebenshaltungskosten ist das in Indonesien ein Vermögen.

    So unterschiedlich wie die Motivation der Schüler:innen ist, so unterschiedlich nehmen sie an dem Gespräch teil: Einige löchern uns mit Fragen über unser Studium oder wie man in Deutschland den kalten Winter überlebt, während andere neugierig-schüchtern zuhören oder auch mal vom Smartphone abgelenkt werden. Ein Schüler fragt, wie viel Whitening-Cream wir für unseren hellen Hautton verwenden würden. Und dann geht es noch um Fußball, den Krieg in der Ukraine, den Unterschied zwischen Bundeskanzler und -präsident und die neusten Hollywood-Actionfilme.

    Die Stunden mit der Englischklasse vergehen schnell und Dank gemeinsamer Internetkultur fühlen wir uns in vielen Punkten verbunden. In anderen bleiben unsere Lebenswelten und -horizonte weit voneinander entfernt - Urlaub im Ausland wird für die meisten hier wohl ein Traum bleiben. Es sei denn, sie schaffen einen guten Englischtest und haben Glück, ein Stipendium zu bekommen. Wir drücken die Daumen.
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