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  • Day 367–368

    Ton, Steine und Scherben

    October 11, 2023 in China ⋅ ☁️ 19 °C

    In Chengdu schicken wir die Räder per Zug-Spedition voraus und nehmen den Nachtzug, der uns am nächsten Tag in Xi'an bei der nächsten klassischen Sehenswürdigkeit ausspuckt: Der Terrakotta Armee. Andere Reisende, mit denen wir vorher gesprochen hatten, haben uns zwei Dinge über die Tonfiguren gesagt: Es ist voll, aber es lohnt sich. Beides ist wahr.

    Die vor mehr als 2000 Jahren erbaute Armee ist wahrhaftig pompös. In drei Hallen schauen wir uns die Figuren an, die die Archäolog:innen seit der Entdeckung im Jahr 1974 mühevoll ausgegraben und zusammengepuzzlet haben. Die über 8000 Figuren sind detailliert modelliert und waren einst kunstvoll bemalt und mit Waffen ausgestattet. Sie dienten als symbolische Wachen des pyramidenähnlichen Mausoleums eines frühen chinesischen Kaisers. Das Mausoleum selber liegt wenige Kilometer entfernt und wurde noch nicht freigelegt.

    Trotz der Menge an Ton, Steinen und Scherben wehen hier wenig Gesellschaftskritik und Revolutionsgeist durchs Land: Je mehr wir in den großen Städten sind, desto mehr fallen uns die vielen Polizisten und die blinkenden Polizeistationen auf, die an jeder großen Kreuzung Präsenz zeigen. Oft stehen die Beamten eher gelangweilt herum. Was hier genau kontrolliert wird, bleibt unklar. Man kann sich aber sehr gut vorstellen, dass jede mögliche Demonstration aufgelöst wäre, noch ehe sich zehn Menschen versammelt hätten.

    Sowohl im Zug, als auch im Museum wird statt eines Tickets die Personalausweis-Nummer gescannt und auch unsere Bezahl-Apps sind mit der Passnummer verknüpft. Die DSGVO findet hier leider keine Anwendung und die deutsche Debatte über Vorratdatenspeicherung führt hier wohl eher zu erstaunten Gesichtern. Falls der chinesische Staat wissen möchte, wo wir gerade sind und was wir gerade tun, kann er das sehr schnell herausfinden.

    Auch im Bahnhof werden unsere Pässe mehrfach kontrolliert und unser Gepäck durchleuchtet. Unsere Taschenmesser haben wir zum Glück mit der nicht ganz so strengen Spedition mitgeschickt - unsere Haarschneideschere ist den Beamten jedoch 4 mm zu lang und wird konfisziert. Auch im Zug nehmen die Eisenbahnbeamten ihre Fürsorgepflicht sehr ernst: Jede Tasche wird peinlich genau an Ort und Stelle gerückt. Es darf wirklich kein Rucksackbändel aus der Ablage herunterhängen.

    Und da das Ticketsystem uns nicht nebeneinander gesetzt hat, werden wir gleich zu kleinen Rebellen. Obwohl ringsherum noch sehr viele Plätze frei sind, bringt unser Verhalten hier die ein oder anderen Chinesin im Zug vollkommen durcheinander, denn eigentlich soll ja jeder auf dem zugewiesenen Platz sitzen und es gibt keine freie Entscheidungsmacht für niemand.

    In Xi'an bekommen wir nach einer weiteren länglichen Diskussion mit Hotelpersonal und Polizeibeamten ("this hotel does not have suitable facilities and business procedures to host foreigners") wieder ein kostenloses Upgrade in das teurere und ganz offiziell ausländertaugliche Hotel um die Ecke. So ziehen wir immerhin unseren Vorteil aus dem unverständlichen System.

    Wir begegnen insgesamt vielen Regeln, die uns irrational erscheinen, die aber dem Anschein nach von der Mehrheit der Menschen beflissen und gehorsam eingehalten werden. Bei jeder Sehenswürdigkeit wird man mit vielen Schildern schließlich auch darauf hingewiesen, sich zivilisiert und anständig zu verhalten ("Be civilized"). Gleichzeitig wird, sobald die Ordnungshüter kurz weggucken, in der Warteschlange auch gerne gedrängelt, geschubst oder die Ticketkontrolle umgangen. Wir wüssten ein paar Dinge - und noch viel mehr - die wir ändern würden, wenn wir Kaiser von China wärn.
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