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  • Day 58

    Tag 56: Würzburg

    June 4, 2022 in Germany ⋅ ⛅ 21 °C

    Vom Weinfass in den Ziegenstall...was für ein Aufstieg! Es ist urig schön hier, die weiß getünchten Wände, die alten Holzböden, die leicht gekrümmten typischen Stalldecken, liebevoll eingerichtet...man kann sich hier nur wohlfühlen. Nur im Winter möchte ich hier nicht sein. Meine Wirtin schwärmt mir von den wunderbar kühlen Räumen zu jeder Jahreszeit vor, im Winter müsse man sich halt richtig warm anziehen, und Decken habe sie auch genug....für sie ändere sich trotz der steigenden Energiekosten nichts, es sei nur eine Frage der Kleidung. Auch Versorgungsengpässe sehe sie nicht auf uns zukommen. Wir müssten lediglich unser Bewusstsein ändern. Schon seit Jahren sammle sie das Fallobst in den Wiesen und an den Straßen und koche es ein. Zehn Gläser Apfelkompott seien zusammen mit Pfannekuchen zehn vollständige Mahlzeiten.... Einen Fernseher brauche sie (ebenso wie ihre Pensionsgäste) auch nicht und mit dem WLAN sei das bei ihr so ne Sache. Ich sollte es mal im Frühstücksraum versuchen, da dürft es vermutlich mit der Einwahl klappen.
    Mein Fahrrad kommt in den ehemaligen Schweinestall und für mich geht's mit dem Zug (die handumhäkelten Sektgläser des Junggesellinnen-Abschieds - man kann sie sich umhängen - sind echt ein Hingucker) nach Würzburg, dem "Herz der Weinregion Franken".
    Und mit Wein werde ich auch begrüßt. Auf dem Marktplatz der Altstadt ist gerade Weinfest. Weinausschank an jeder Ecke und Kante, dazwischen lange Bänke und Tische, die gegen Mittag schon echt gut besucht sind. Und heute hadere ich nicht lange rum, ich hol mir ne Erdbeerbowle und setz mich einfach dazu.
    Meine Tischnachbarin, ich schätze sie auf Mitte 40, kommt aus Mainz und trifft sich gerade mit ehemaligen Arbeitskollegen. Sie sei Chemikerin, habe sich in der Firma aber nicht mehr wohl gefühlt und den Drang nach etwas Anderem, Neuen verspürt. Da habe sie vor rund drei Jahren gekündigt und mit dem Weinbaustudium an der Uni in Geisenheim angefangen. "Aber so richtig Spaß hat es nie gemacht, vielleicht liegt es an Corona. Man kennt die Kommilitonen (viele mittleren Alters), die Hörsäle, Dozenten und Professoren fast nur aus Onlinevorlesungen, so hab ich mir das nicht vorgestellt." Nach 6 Semestern die Entscheidung: "Ich kehre in meinen alten Beruf zurück. Ich habe einen anderen, neuen Weg versucht, der war nichts, jetzt ist alles okay." Auf keinen Fall fühle sie sich als Versagerin. Und dümmer sei sie ja auch nicht geworden. Ein Stückchen Weinberg sei schon gepachtet und "mal sehen, vielleicht wird mein Wein ja ein edles Tröpfchen"... Das Fass im Keller stehe schon bereit.
    Zur Uni mach ich mich dann auch auf den Weg. Er existiert wirklich noch, der Raum, in dem Wilhelm Conrad Röntgen die X-Strahlen durch Zufall entdeckte. Ein skurril anmutender Versuchsaufbau auf einer Art von altem Küchentisch, ein eichener Schreibtisch, einige kĺeinere und größere Gefäße.... In solch einem Umfeld eine so bahnbrechende Entdeckung! Am 08. November 1895 entdeckt Röntgen die X-Strahlen, bereits am 28. Dezember veröffentlicht er seine Ergebnisse und vier Wochen später, am 23. Januar 1896, hält er dazu einen öffentlich Vortrag vor der physikalisch-medizinischen Gesellschaft in Würzburg. Das Publikum ist so begeistert, dass noch während der Veranstaltung (angeblich unter Ovationen) entschieden wird, die X-Strahlen in Röntgenstrahlen umzubenennen.
    Weiter geht's zum Mainufer. Auf einem urigen tiefroten kleinen Boot genieß ich ein Päuschen. Ruhig ist es hier. Herrlich der Blick auf die alte Mainbrücke und die Festung Marienberg.
    Und herrlich ist der Blick von der Festung auf die Stadt und die sie umgebenden Weinberge. Manch Paar sitzt hier eng umschlungen auf der Festungsmauer und hat die Welt um sich herum vergessen...
    Diese Idylle ist auf der Alten Mainbrücke mit ihren barocken Heiligenfiguren dann auch vergessen, denn ich tauche ein ins "Brückenschoppen". Ein Schoppen Frankenwein am Brückenausschank geholt, sich zu all den anderen gesellt und einfach die Atmosphäre genossen.
    Noch ein kurzer Abstecher zur Residenz Würzburg, ein riesiger unter Regie von Balthasar Neumann entstandener barocker Schlossbau. Das UNESCO Weltkulturerbe gilt als ebenbürtig mit Schloss Versailles bei Paris und Schönbrunn in Wien, dennoch kann ich mich für die Residenz (zumindest heute) nicht begeistern. Alles wirkt so überdimensioniert, so protzig.
    Also ab nach Hause, ins kleine beschauliche Ochsenfurt, da fühl ich mich wohl.
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