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  • Day 8

    Letzte Male & Crêpe

    August 25, 2023 in France ⋅ ☁️ 25 °C

    Beim Frühstück merkt man, wie wir über die Woche zusammengeschweißt sind. Von Tag zu Tag wurde die Stimmung immer lustiger und die Witze immer persönlicher. Über die Zeit haben sich Frühstücksgruppen gebildet, diese sind jedoch nicht fest. Ich setze mich heute erst zur Zähneputzengang, entscheide mich dann noch ein bisschen Zeit mit Anna, Dani, Magda und Lili zu verbringen. Mein Wechsel wird mit absolut ernster Abneigung kommentiert.

    Am Strand zeigt uns Chris Tricks, die er öfters probiert und lustig fände von uns zu sehen. Darunter sind mit beiden Füßen in Richtung Spitze gedreht stehen (Caveman), sich mit Füßen voran aufs Brett setzen (Truckdriver), sich mit verschränkten Arm aufs Brett legen (Coffin), rückwärts fahren und zuletzt mit den Finnen nach vorne fahren. Dann wünscht er uns eine schöne letzte Surfstunde und geht mit uns gemeinsam ins Wasser.
    Heute paddele ich das erste Mal ganz raus ins Lineup, mittlerweile habe ich genug Selbstbewusstsein. Nicht nur ist Chris bei mir, auch Bernie stößt zu uns. Die beiden setzen sich aufs Board, mein Gleichgewicht reicht dafür allerdings nicht aus. Selbst, wenn ich es geschafft habe bequem zu sitzen, bin ich bisher immer zu langsam gewesen, mich parallel zur eintreffenden Wassermasse zu drehen.
    Einige der Wellen schwappen einfach über mich hinweg, so gut kann ich sie nicht lesen. Der Lehrer gibt mir Bescheid, wenn eine passende kommt. Meine Schultern sind allmählich müde vom Paddeln. Die meisten Wellen bringen mich einwandfrei zum Strand, also probiere ich gegen Ende der Kurszeit den Trick mit beiden Füßen nach vorne zu versuchen; so fahre ich oft auf dem Skateboard. Eine Weile stehe ich. Kurz vorm Strand falle ich und das Brett rast mir gegen die Schläfe.
    Der Sand ist sehr gemütlich. So möchte ich die letzte Stunde aber nicht beenden, also rappele ich mich noch einmal auf. Die letzte Welle stellt mich zufrieden.

    Mein Neoprenanzug hängt schon von meiner Hüfte, während Lotte darüber redet, dass sie noch ein Board ausgeliehen hat. Da sie es gerade nicht braucht, kann ich mit Bernie zusammen noch für eine weitere Viertelstunde ins Wasser. Irgendwie verrückt, dass ich mit jemand mir Bekanntem aus Konstanz im Atlantik sitze und wir gemeinsam auf gutes Wasser warten. Die letzten Wellen sind perfekt. Ich bekomme nicht alle und fahre nicht fehlerfrei, aber sie sind genau richtig, um mir ein Gefühl von Abschluss zu geben.

    Ich hatte nicht vor lange am Strand zu sein, aber ich werde traurig, als mir einfällt, dass ich diesen nicht mehr sehen werde. Das Volleyballspiel ist immer noch chaotisch, aber man merkt, dass alle über die Woche besser geworden sind. Ich selbst aber spiele nicht viel besser als Dani, welche wegen ihrer Schulterverletzung nur einen Arm benutzen kann.
    Mittlerweile ist die Zähneputzengang mit dem Surfen fertig. Wir machen ein paar Gruppenbilder und planen noch einmal planschen zu gehen. Es fällt uns schwer, uns aufzuhieven. Ich schaufele geistesabwesend ein bisschen Sand auf Joanas und Hannahs Füße. Kurz darauf ist erstere eine sandige Meerjungfrau und letztere ein Berg. Wir diskutieren darüber, welches Tier uns alle am ehesten ähnlich ist; ich bin wohl ein Hund. Dann diskutieren wir darüber, wer welche Hunderasse wäre; ich offensichtlich ein Windhund.
    Im Wasser machen Hannah und ich es wie Joana vorhin und schwimmen wie Meerjungfrauen. Dann machen wir Bauchplatscher auf die Wellen. Ich werde sie vermissen, vor dem Urlaub habe ich 5 Jahre keinen Wellengang gesehen, gehört oder gespürt. Hoffentlich ist das nächste Mal nicht wieder so weit weg.

    Als wir zurück sind, gibt es schon fast Essen. Heute sollen wir den Neopren besonders gründlich auswaschen. Ich liebe Wetsuits und Leute darin. Gut, dass ich vor dem Urlaub für acht Euro einen Eigenen ergattert habe.
    Das Motto der anstehenden Party, "All white", ist für die meisten, nach einer Woche des Klamottenwechselns, unpraktisch. Die Camper*innen, welche auch das ursprünglich zur Auswahl stehende "Flower Power" bevorzugt hätten, schließen sich mir an, dem Strom entgegen zu schwimmen. Besonders rebellisch ist das nicht von mir. Nicht nur habe ich am Vortag als Vorbereitung auf meine Weiterreise Wäsche gemacht, sondern mein liebstes Shirt ist auch noch weiß und mit Blumen bedruckt. Hannah und Ich lassen uns etwas zu viel Zeit beim Schminken.

    Wir sind zu spät zur Abschlussrunde mit Diashow der Fotos, die Lili Zwirner über die Woche von uns beim Surfen geschossen hat. Zum Glück ist die hinterlegte Musik nicht traurig, denn ich muss Tränen zurückhalten. Nach dem letzten Bild, welches ein gephotoshopptes Bild der Surflehrer in oberkörperfreier Muskelpose ist, verliert die Fotografin ein paar Worte darüber, wie wir an die Bilder gelangen und wie wir sie vergüten können.
    Als jemand aus meinem Kurs mit mir gestellt in die Kamera gelächelt hatte, haben wir mit ihr gescherzt, dass uns das bessere Chancen für den "Happiest surfer of the week"-Preis verschaffen würde. Sie verneinte das, ließ uns aber wissen, dass wir tatsächlich hoch auf ihrer Favoritenliste stünden. Nachdem man mir und meinem Gesicht zu einigen Surfzeiten den Frust anmerken konnte, erwarte ich nicht, in der Auswahl zu stehen. Als Lili in meine Richtung deutet, bin ich mir plötzlich sicher, dass niemand anderes gemeint ist. Das "Nikki" begleitet vom Klatschen aller bestätigt meine Vermutung.
    Solch einen Preis zu erhalten bedeutet mir unglaublich viel. Es ist ein großes Kompliment an meine Person, und das vor so vielen tollen Menschen.
    Es ist nicht das erste Mal, dass ich das höre. Abgesehen von jetzt und meinem 1. Platz als "Sonnenschein" im Abiturbuch meines Jahrgangs, teilen mir Leute oft mit, dass ihnen meine als strahlend wahrgenommene Art gefällt. Selbst komme ich mir oft grantig vor. Meiner Meinung nach, hätte jede*r hier genauso geehrt werden können. Niemand scheint von der positiven Auswirkung der Woche unberührt geblieben zu sein.

    Als Preis wird meine Trinkgebühr für den Sangria-Abend übernommen. Ich kann in Clubs zwar auch meine Hüfte schütteln und den Bass spüren, aber so gemeinschaftlich wie wir jetzt tanzen fühle ich mich viel wohler. Die Lieder, die wir aussuchen, bilden einen guten Mix aus instrumentallastiger Tanzmusik und karaokeartiger Chartmusik, sodass alle sich bewegt fühlen, die Plattform zu betreten. Nachdem Marc und Bernie mit mir zusammen die Holzdielen im Takt zu "Horse" von Salvatore Ganacci zum Knallen bringen, leitet Dani eine Choreographie zu Jerusalema ein, welche der Rest von uns nach circa der Hälfte des Tracks versteht und umsetzt. Als Culcha Candela die Mischung aus Pop und Elektro aus dem Gleichgewicht bringt, setze ich mich zu Danis Freunden und Chris, welcher mit mir darüber redet, wie er Surfen gelernt hat. Die Wellen in Irland können riesig werden, wie mich der dort Gebürtige überzeugt, indem er mir sein Handy mit einem YouTube-Video unter die Nase hält.
    Als Bernie sich daneben setzt und Gitarre spielt, sammeln sich immer mehr Stimmen an unserem Biertisch. Bevor die Lichter im Camp ausgehen, schaffen wir es, drei Lieder zu spielen. Der Tisch pocht unter rhythmischem Klopfen. Zum Einsatz des Refrains kennen alle den Text. Wir spielen besser als die alte Coverband, für die Leute aus dem Schulorchester sich regelmäßig in meinem Musikkeller eingefunden haben. Vielleicht vernebelt der Sinn von Gemeinschaft aber auch mein Einschätzungsvermögen.
    Die Woche ist untermalt von andauernder musikalischer Untermalung. Im Alltag sorgt dafür normalerweise immer eine Bluetoothbox, hier reichen unsere Stimmen und alles Umliegende. Musik aus Lautsprechern würde nicht stören, trotzdem hört man außerhalb des Camps nahezu nie welche.

    Das Losziehen in die Clubs erinnert mich stark an Montagabend. Die Stimmung bleibt zwar ausgelassen und gemeinschaftlich, aber auf der Tanzfläche finde ich mich plötzlich alleine wieder. Es kommen immer wieder Leute aus dem Camp ins Beach Break, aber über die Dreiviertelstunde, die ich dort zubringe, bin ich länger alleine als in Gesellschaft. Als ich es aufgebe, meine vorherig wohlige Partystimmung aufrecht zu halten, und auf die Straße trete, begegne ich glücklicherweise Hannah und Dario zusammen mit einer anderen Camperin. Wir besorgen uns zusammen Crêpes bei dem Schuppen, dessen Inhaber*innen wohl diesen Sommer einen Jungen aus unserem Zeltlager zusammengeschlagen haben, wie mir Chris auf dem Weg zur Promenade erzählt hat. Ich frage mich, was für Geschäfte wohl im Schatten des Imbiss-Arcade-Hybridgebäudes ablaufen, und ob die nette Frau, die unser Essen zubereitet, die Geschichte auch gehört oder gar miterlebt hat.
    Auf dem Rückweg bekomme ich das Gefühl, meine Empfindungen zum Gesprächsthema nicht ehrlich teilen zu können, da es sich eigentlich nicht um mich dreht. Während die anderen aufs Klo müssen, laufe ich das kurze Reststück zurück also alleine. Das ist häufig die einzige Art, wie ich Leuten kommunizieren kann, dass etwas nicht stimmt, wenn ich es nicht ansprechen kann. Für jetzt ist das in Ordnung; mir ist bewusst, dass ich diese Verhaltensweise zuhause mit Freunden lange durchgesprochen habe. Für einen Abend geht das klar. Lange zu trotzen schaffe ich ohnehin nicht, kuscheln mit den jetzt Eingetroffenen ist zu schön.

    Nach dem Zähneputzen bringe ich Hannah zu ihrem Zelt. Als ich zurücklaufe höre ich Lotte das Wort "Heartbreak" benutzen. Zurück bei den Hängematten erklärt mir jemand, dass sie versucht hat, sich an jemandem im Club ranzumachen. Anscheinend habe ich nicht nur ich versucht den einzigen Vorteil des kommenden Abschieds zu nutzen. Während ich auf Danis, Lilis, Annas und Magdas Rückkehr warte, läuft mir die zurückliegende Abweisung nochmal durch den Kopf.

    Als es passiert ist, hatte ich eigentlich nicht das Gefühl, ich wäre verletzt. Meine Erwartungen waren schließlich nicht allzu hoch und meine Empfindungen für die Person nicht allzu groß. Jetzt aber trifft mich die folgende Vermutung stark.
    Ich sei für viele Leute zu androgyn, zu wenig weiblich oder männlich. Das sei für viele bestimmt abschreckend, wenn es um Romantik oder Körperlichkeit geht.
    Die Aussage ist eigentlich nicht Teil der Zurückweisung gewesen, aber sie tut weh. Mir ist das schon länger bewusst. Vorher konnte ich diese Annahme jedoch als irrationale Angst abtun. Jetzt ist sie real. Jemandem ist es aufgefallen. Und in so direkter Abfolge bin ich mir sicher, dass das der Grund für die Ablehnung war.
    Mir gefällt es nicht, als androgyn betitelt zu werden. Ich ziele es selten darauf ab, nicht in Geschlechter zu passen. Ich eigne mir viel eher das, was mir gefällt, an und sehe mich so als weiblich und männlich zugleich. Den "Vibe einer besten Freundin" zugeschrieben bekommen zu haben, tröstet mich also wenigstens. Immerhin wurde ich nicht als "femininer Typ" bezeichnet oder, wie sonst so oft, mit Harry Styles verglichen.

    Als die Mädchen, wegen denen ich noch wach bin, eintreffen, schaffen sie es mich ein wenig zu trösten. Sie verstehen meine Probleme mit der Mutmaßung und machen mir bewusst, dass das erstens nicht alle stört und dass zweitens Attraktivität subjektiv ist. Mir wird klar, dass man mich eigentlich richtig gelesen, nur nicht als anziehend empfunden hat. Das ist nicht schön, aber ich werde darüber hinwegkommen können.
    Ich folge den vieren noch zum Zähneputzen. Lili bietet mir einen Schlafplatz bei ihnen im Zelt an, und erteilt mir die Erlaubnis, sie nachts zu wecken, sollte ich reden wollen. Wir verabschieden uns zwischen ihrem und meinem Zelt.
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