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  • Day 117

    Der Brief

    June 25, 2023 in Spain ⋅ ⛅ 18 °C

    Es war mir von Anfang an ein Anliegen, mit diesem Blog allen aus meinem Umfeld, die an meiner Reise interessiert sind, auch ein Stück näher zu bringen, wieso mir so viel am Camino liegt. Die folgende Geschichte ist sehr persönlich, aber sie zeigt so gut wie kaum eine andere die besondere Art von Menschen, die man auf dem Weg kennenlernt und die teils schon nach kürzester Zeit bessere Freunde sind, als man jemals erwartet hätte. Und die besondere Art von Verbindung und Verständnis, die hier zwischen Menschen entstehen, die sich sonst nie begegnet wären.
    (Alle Dialoge haben natürlich auf Englisch stattgefunden.)

    Vor knapp einem Jahr hat eine ehemals gute Freundin, damals für mich sehr unerwartet, die Freundschaft mit mir beendet. Es tut nach wie vor weh und ich habe auf diesem Weg viel darüber nachgedacht. Ich habe sogar einen Stein von daheim mitgenommen, den ich irgendwann ablegen wollte, um diese ehemalige Freundin loszulassen. Außerdem habe ich lange darüber nachgedacht, einen Brief zu schreiben, da ich ihr noch vieles zu sagen hatte - und das habe ich getan, ohne festzulegen, ob ich ihn abschicken werde, oder nicht.

    Diesen Brief habe ich im Laufe der letzten zwei Wochen geschrieben und beim Sonnenuntergang in Piñeres de Pría abgeschlossen. Ich habe lange überlegt, wie ich ihn beenden soll, und in dem Moment sind mir endlich die (hoffentlich) richtigen Worte gekommen.
    Auf dem Weg zurück zur Herberge spricht mich Shanti, die von der ganzen Sache weiß, darauf an und ich erzähle ihr, dass ich den Brief beendet habe. Maru, der mitbekommt, dass ich etwas emotional bin, zeigt mir ein Foto, das er von mir vor der tiefstehenden Sonne gemacht hat.
    "Das ist dein Leben. Deine Zukunft", sagt er und zeigt auf die hell strahlende Sonne. Mir kommen die Tränen und Shanti umarmt mich.
    "Es ist okay", sagt sie. "Du hast gerade etwas Schweres geschafft." Sie erklärt leise ein paar anderen Pilgern, die das ganze leider mitbekommen, die Sache mit dem Brief.
    "Das ist der Grund, warum du hier bist", stellt Maru fest, als ich mich wieder gefangen habe.
    "Es ist nicht der Grund, warum ich diesen Camino begonnen habe", antworte ich. "Aber vielleicht einer der Gründe, warum ich ihn gehe."

    Am nächsten Morgen habe ich den grauen Stein in der Hand, während ich mit Maru, Sam und Nathalie die Herberge verlasse. Ich musste mich von Shanti verabschieden, die von Nueva einen Zug nach Oviedo nimmt, um den Camino Primitivo zu gehen.
    Als nach wenigen Metern das Meer wieder in der Ferne auftaucht, wo ich es auch gestern beim Sonnenuntergang gesehen habe, atme ich einmal tief durch und schleudere den Stein in Richtung Atlantik.
    Als ich zu den anderen aufhole, gehe ich eine Weile schweigend neben Maru, der wahrscheinlich sieht, dass ich Tränen in den Augen habe.
    "Ich hatte eine beste Freundin", beginne ich schließlich zu erklären. "Sie hat unsere Freundschaft vor einem Jahr beendet. Ich habe einen Brief an sie geschrieben und ihn gestern Abend beendet. Ich weiß noch nicht, ob ich ihn abschicken werde. Aber ich habe ihn geschrieben. Ich hatte auch einen Stein von daheim dabei und wusste noch nicht, wo ich ihn lassen werde, also habe ich jetzt einfach aufs Meer geschaut und ihn weggeworfen."
    "Jetzt sind deine Schultern leichter", sagt Maru in seinem gebrochenen Englisch.
    "Ja."
    "Vor wie vielen Tagen hast du deinen Camino begonnen?", will er wissen.
    "Vor 117."
    "Also waren sie 116 Tage lang zu schwer", stellt er fest. "Dein Camino beginnt heute!"
    Ich bin tief berührt und angetan von der Weisheit des jungen Koreaners. Und er hat Recht. Meine Schultern sind jetzt leichter.
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