Satellite
  • Verschollen zwischen 7 Millionen

    November 14, 2018 in Chile ⋅ ⛅ 21 °C

    (28.09.) Wie im Fluge sind die letzten drei Wochen vergangen. So schnell und so prall gefüllt, dass ich nicht einmal zu einem Blogeintrag gekommen bin. Mittlerweile sitze ich im Bus, ungefähr auf halber Strecke nach Santiago de Chile (insgesamt sind es ca. 50 Stunden Fahrt), und lasse die Eindrücke der vergangenen Tage und Wochen auf mich wirken. Noch fällt es mir schwer, die Erlebnisse, Gedanken und Gefühle der Zeit in Santa Cruz in Worte zu fassen.
    Nachdem die ersten Tage von einem merkwürdigen Gefühl geprägt waren, das verursachte, dass ich mir unsicher war, ob meine Rückkehr nach Bolivien ein Traum war oder ob ich schlichtweg die letzten drei Jahr geträumt hatte und überhaupt nicht weggewesen war, fühlte ich mich bald wieder in meine altgewohnte Umgebung ein. So verbachte ich die Tage hauptsächlich in dem Kinderheim („Hogar“) aushelfend, in dem ich mein FSJ absolviert hatte und die restliche Zeit mit meinen alten Freunden und ein paar neuen Bekanntschaften.
    Gewohnt habe ich die Zeit über bei meinem guten Freund Javier, mit dem ich mir eine Matratze auf dem Boden seines 12qm-großen/kleinen Zimmers im Haus seines Onkels teilte.
    Gerne würde ich meinen Wochen in Santa Cruz näher beschreiben, doch so sehr ich es versuche, mir fallen nur klischeebehaftete Phrasen wie „irgendwie war alles anders, irgendwie aber auch alles gleich“ ein...

    Es fühlt sich komisch an, nun ein weiteres Mal auf dem Weg zu einem nächsten Lebensabschnitt zu sein, abermals in der Ungewissheit, wann ich zu meiner Zweit-Familie zurückkehren werde. Fest steht nur- und das weiß ich nach diesem Aufenthalt umso mehr – dass ich zurückkehren werde.

    …. Dies war der Blogeintrag, den ich vor knapp eineinhalb Monaten verfasst und dann nie veröffentlicht habe, mit dem Ziel, ihn irgendwann umfassend und der wunderbaren Zeit in Bolivien gerecht werdend fertigzuschreiben. Nun ist seitdem so viel Zeit vergangen, dass ich ihn eigentlich löschen sollte, aber ich wollte ihn euch dann doch nicht vorenthalten, gerade weil er meine Gedanken der langen Busfahrt auf eine Art widerspiegelt, die ich jetzt nicht mehr wiedergeben könnte.
    Letzteres liegt einerseits an der zeitlichen Distanz, die mich mittlerweile von der Zeit in Bolivien trennt aber auch von der emotionalen Distanz, die sich zwar nicht gewollt, aber doch allmählich durch mein ganz anderes Leben in Santiago eingestellt hat. Das soll nicht heißen, dass ich die Aussage des letzten Satzes meines veralteten Blogeintrages ändern würde! Aber meine schlagartig veränderten Lebensumstände hier lassen wenig Raum für Nostalgie.
    Aber was ist an Santiago so anders?
    1) Santiago ist nicht Südamerika. Santiago ist auch nicht Chile. Und Chile ist in großen Teilen auch nicht Südamerika. Was ist also Santiago?
    In den ersten Tagen und vielleicht sogar Wochen hätte meine Antwort darauf wohl gelautet: „eine charmelose, austauschbare, anonyme, unsympathische Billig-Kopie einer amerikanisch-europäischen Großstadt“. Dies lag wohl vor allem an den wunderbaren Erfahrungen meiner Reise und der Erwartung, eine typische Latino-Stadt zu finden und der dadurch vorprogrammierten Enttäuschung bei der Ankunft in Santiago. Vielleicht sollte ich ein bisschen meine Erwartungen ausführen, sodass meine erste Antwort auf die Frage „Was ist Santiago?“ verständlicher wird… So unterschiedlich die Länder, die ich bisher in Südamerika besucht hatte, hinsichtlich ihrer Landschaften, Kulturen und Leute auch gewesen sein mögen, so hatten doch alle ein distinktes, ähnliches Flair. Ich rede hier bewusst von einer subjektiven Erfahrung, jemand anderes mag dies anders erlebt haben, aber für mich hatte dieses Flair immer mit einer allgegenwärtigen Lebensfreude, Gastfreundlichkeit, Herzlichkeit und Positivität zu tun. Keines dieser Wörter würde ich gebrauchen, um den Durchschnitts-Chilenen (Ausnahmen ausgenommen!!), wie ich ihn bisher kennengelernt habe, zu beschreiben. Was ich in den ersten Tagen vorgefunden habe, war eine höfliche, distanzierte Freundlichkeit und eine Anonymität auf den Straßen, wie sie auch zB. in der Schweiz vorzufinden ist.
    Außerdem macht sich immer wieder ein gewisser Nationalstolz bemerkbar. Nun mangelt es in anderen Ländern Südamerikas keineswegs an Nationalstolz, ganz im Gegenteil: wo man auch hingeht, überall wird stolz die Landesflagge hochgehalten und die Heimat verteidigt. Allerdings geht es dabei in den seltensten Fällen um einen ausgrenzenden AfD-Nationalstolz, sondern vielmehr ein Gefühl von („Wir haben zwar nicht viel, doch wir stehen zusammen und sind stolz auf unser Land“). Der Stolz, den ich hier aber bisher vorgefunden habe, hat häufig einen arroganten Beigeschmack, der durch abfällige Kommentare über andere (ärmere) Länder und eine „Wir sind etwas Besseres“-Haltung entsteht.

    Nun soll man ja aber nicht alle Leute eines Landes gleichermaßen über einen Kamm scheren und eine der großen Lektionen des Reisens ist, dass die Bevölkerung und die Umstände eines Landes niemals in schwarz-weiß-Kategorien einzuordnen sind.

    Mein anfängliches Bild der 7-Millionen-Stadt war nämlich vor allem von meiner alltäglichen Umgebung geprägt. Das bedeutet, von meinem (doch recht wohlhabenden) Viertel, der Uni und ein paar touristischen Orten im Zentrum. Erst als ich eines Tages mehr oder weniger zufällig in ein mir bis dahin unbekanntes Stadtviertel gestolpert bin, wurde mir bewusst, dass Santiago wohl doch ein wenig mehr zu bieten hat als es meine beschränkte Wahrnehmung bis dato glauben mochte. Ich fand mich auf einem Markt wieder, wie ich ihn auch in Santa Cruz hätte vorfinden könnte und war plötzlich nicht mehr von Anzugträgern und Mode-Tussies umgeben, sondern von Menschen in abgetragenen, ungewaschenen Klamotten, außerdem von Müll in jeder Ecke und von zahlreichen vertrauten Gerüchen (nicht alle davon appetitlich, aber eben doch irgendwie von der Reise und dem Jahr in Bolivien vertraut). Einfach herrlich! Und so surreal es auch klingen mag, aber zum ersten Mal fühlte ich mich richtig wohl in Santiago.

    Im Laufe der letzten Wochen habe ich außerdem durch einige Gespräche mit Chilenen und Erfahrungsaustausche mit Ausländern sowie die gemeinsame Reise mit Papa & Brigitte (hier nochmal zum Nachlesen, wer will: https://findpenguins.com/juergen/trip/chile-pat…) mein Bild noch ein wenig mehr relativieren und umdenken können.
    Zum Beispiel weiß ich nun, bzw. habe nun ein besseres Verständnis davon, dass der hochnäsig wirkende Nationalstolz nicht von irgendwo herkommt: Immerhin ist Chile das wohlhabendste Land Südamerikas und gleichzeitig der Wirtschaftsmotor des Kontinents. Das macht sich vor allem in der guten Infrastruktur und den sauberen Straßen bemerkbar, die wenig mit allem, was ich bisher in Südamerika gesehen habe, zu tun haben. Hinzu kommt, dass sich das chilenische Volk vor nicht allzu langer Zeit (knapp 25 Jahre) mehr oder weniger aus eigenen Kräften aus der Militär-Diktatur General Pinochets befreit hat. So entwickle ich Stück für Stück ein breiteres Verständnis dafür, warum „die Chilenen“ so sind, wie sie sind und warum man trotz allem mit ihnen gut auskommen kann.

    2) Der zweite Grund für den Mangel an Raum für Nostalgie - neben der so anderen Umgebung - ist die Umstellung, was meine Lebensinhalte angeht: da spielt nämlich doch tatsächlich ganz unverhofft und plötzlich die Uni eine Rolle! Potz Blitz! Ich bin ja schließlich nicht zum Spaß in Chile, sondern um hier die Datenerhebung für meine Masterarbeit zu realisieren. Dabei geht es um die kulturspezifischen Unterschiede in der Wahrnehmung von psychischen Störungen und Psychotherapie zwischen Chile und der Schweiz. Das Ganze geht mal mehr, mal weniger schnell voran, da die Ethikkommission hier wahnsinnig langsam arbeitet, aber Ende dieser Woche winken sie das Projekt wohl durch und dann kann ich endlich mit der eigentlichen Teilnehmer-Rekrutierung durchstarten. Das heißt vor allem, auf dem Campus und in den Kursen Mail-Adressen sammeln, im Austausch gegen Schokoriegel! Bin mal gespannt, welche Erfahrungen mich da so erwarten 😊
    Leben „tu“ ich gemeinsam mit einem Chilenen, der sich gemeinsam mit einem Kumpel nach Abschluss ihres Jura-Studiums als Anwalt selbstständig gemacht hat, in einer hellen, geräumigen Wohnung mit hübschem Balkon im 5ten Stock und Blick auf viieel Grün. So verbringe ich die Tage 11.825,97 Kilometer von zu Hause entfernt (Luftlinie Fribourg-Santiago) gar nicht so anders als in der Heimat - mal auf dem Velo, mal in der Metro, in der Uni und der Bibliothek, mal in Parks und Museen, oder auch mal mit Netflix auf der Couch. Ganz normaler Wahnsinn.

    Es bleibt also zu sagen, dass Santiago und Chile weitaus mehr sind als amerikanisch-europäische Verhältnisse und arroganter Nationalstolz. Ob ich bis Ende meiner Zeit hier dann so ganz begriffen habe, was dieses Land wirklich ausmacht (vielleicht ist es ja die vielfältige Mischung aus all den genannten Dingen?), ist fragwürdig, aber ich bin gespannt auf die Überraschungen, die das vielseitige Land mir weiterhin zu bieten hat. Und dass die Stadt eines Tages zu meinem Lieblingsort wird, zweifle ich zwar stark an, aber immerhin lässt es sich hier mittlerweile ganz gut leben!

    Auf bald und sonnige Grüße aus dem sommerlichen Santiago!
    Jan

    Ps: Die Bilder sind Eindrücke aus meinem „Alltag“ hier, außerdem haben sich ein paar Bolivien-Bilder mithineinverirrt. Ich versuche, sie einzeln zu kommentieren, sofern ich sie noch zuordnen kann. Bilder von der Patagonien-Reise gibt’s auf Papas Blog 😊
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