• Tag 82: Gastfreundschaft & Trümmer

    August 23, 2024 in Turkey ⋅ ☀️ 30 °C

    Heute gefahren: 81km
    Bisher gefahren gesamt: 4.584km
    Heute Höhenmeter im Anstieg: 945hm
    Höhenmeter im Anstieg bisher: 43.357hm
    Platte Reifen: 4
    Pausentage gesamt: 21
    Fahrtage gesamt: 61

    Der Tag begann mit Ausschlafen - das machen wir sehr selten, weil unsere Morgenroutine doch recht lange braucht, wenn wir zelten.
    Da wir die Nacht aber im Hotel mit Frühstück verbrachten und das erst um 8 Uhr begann, klingelt der Wecker um 7:45 und wir sitzen um 8 Uhr am Tisch. Diesmal kein Buffet sondern echtes türkisches Frühstück mit Produkten aus Hatay (so heißt die Provinzregion, Antakya ist die Hauptstadt). Das Brot wurde kurz zuvor frisch gebracht und war noch warm. Es war extrem lecker - von Oliven in diversen Ausführungen über eingelegten und gekochten Rosmarin mit Tomaten und Paprika über verschiedenen Käse, Pizza und Ei war alles dabei. Wir wissen das immer so richtig zu schätzen, wenn wir Frühstück serviert bekommen. Zudem kann sich der Frühstücksfachmann Vincent für unsere Frühstücke zu Hause neue Inspiration holen 😄
    Danach ging es raus ins Trümmerfeld - es wird an allen Ecken und Enden gebaut, Beton gemischt, gemauert, LKWs mit Schutt und Kies fahren umher und es ist extrem staubig. Unglaublich, dass die Menschen das seit 1,5 Jahren so ertragen (müssen).
    Wir konnten auch nur die paar Hauptstraßen fahren, denn alle anderen sind durch den Schutt nicht passierbar.
    In der Stadt und auf den nächsten 30km immer wieder Container-Dörfer. teilweise von anderen Ländern und türkischen Provinzen gesponsert. Die Menschen scheinen häufig keine Perspektive auf baldiges Verlassen der Container zu haben, denn davor werden Tomaten und anderes Gemüse angepflanzt - auf den 2m, die vor ihrem Container bleiben.
    Und die schicken Neubauten sind anscheinend exklusiv, wie dieser Bericht ganz gut zeigt: https://www.arte.tv/de/videos/118803-000-A/tuer…

    Erst nach 50km ist die Gegend weniger besiedelt und dementsprechend weniger Schutt und beschädigte Häuser aber es ist überall weiterhin sichtbar.
    Und das vor einer wunderschönen Bergkulisse - über 2000m hoch sind die Berge des Amanosgebirges, das sich hier in der Region von Nord nach Süd zieht. und überall sind Oliven angepflanzt.

    Nach gut 65km brauchen wir eine Pause. Es ist schon wieder wahnsinnig heiß und wir sind fertig. Wir entdecken einen Markt, kaufen uns apathisch Obst und wollen mal wieder nur in Ruhe gelassen werden (alle Blicke sind auf uns und unsere Räder gerichtet und aus allen Ecken schalt es „Hello“, „where are you from“).
    Also setzen wir uns mit unseren Stühlen etwas abseits vor ein Haus und essen türkische Bananen und Trauben.

    Bis der Hausbesitzer kommt und uns einlädt zu Essen. Zuerst wehren wir uns, dann gehen wir doch mit. Im einen Moment wollen wir unsere Ruhe und in nächsten Moment gehen wir entgegen aller Pläne einer Einladung nach. Wir stellen also unsere Räder ab, er führt uns über das Grundstück seiner Eltern, wir überquerten die Straße und plötzlich sitzen wir in seinem Lieblingskebab-Laden. Und er lud uns zum Essen ein. Keine Wiederrede und Kemal war einfach super herzlich die ganze Zeit. Er hat mehrmals telefoniert und vermutlich weiß nun jeder, dass Alemans mit Bisikleta seine Gäste sind :)

    Es gab leckeres Kebab vom Grill und diverse Salate dazu. Kemals Frau Zeynap kommt noch dazu und wir unterhalten uns per Google Translate. Sie erzählen, dass sie ein Kind bekommen und letztes Jahr 2 Tage vor dem Erdbeben geheiratet haben und viele Freunde durch das Erdbeben verloren haben. Kemals Haus und das seiner Eltern war nur leicht beschädigt und sie konnten weiter darin wohnen. Für sie ist alles schon Alltag und sie leben ihr Leben weiter. Ich habe das Gefühl, anders könnte man hier auch nicht leben.
    Zeynap erzählt auf die Frage hin, was sie arbeitet, dass Kemal nicht will, dass sie arbeitete und sie seit dass sie mit der Schule fertig ist, Hausfrau ist. Hier scheint ein konservativeres Leben geführt zu werden, ganz anders als was wir gestern bei Ali in der Stadt erlebt haben.
    Wir müssen zügig aufessen, denn bei seinen Eltern wartet schon Çay auf uns. Also noch Tee trinken mit seinen Eltern und seiner Schwester. Und Feigen essen und die obligatorischen Sonnenblumenkerne und leckere Chips - die meine neueste Obsession sind: Maraş Tarhanası. Chips aus der Stadt Kahramanmaras aus Yoghurt, Getreide und Thymian. Lecker. 😋
    Zwischendrin kommt noch der Paketmann, denn es werden Olivenöl, Oliven und weitere Spezialitäten abgeholt, die die Familie herstellt. Leider können wir keinen Kanister Olivenöl mitnehmen :(
    Wir haben das Gefühl, dass sie mit diesem Geschäft ganz gut leben können.

    Wir müssen noch mehrmals abwehren, dass wir nicht duschen wollen und über Nacht bleiben und irgendwann dürfen wir auch gehen. Natürlich bekommen wir Chips, Feigen und Wasser noch mit.
    Was für ein schönes Erlebnis mal wieder, wir sind ganz beseelt, wie nett diese Leute hier sind, obwohl sie soviel weniger haben und sie solches Leid erfahren haben.

    Einschub Vincent: bei der Verabschiedung nimmt mich Kemal beiseite und bedeutet mir ich darf seiner Frau nicht die Hand zur Verabschiedung geben. Einschub Ende.

    Wir fahren schließlich noch 10km, finden einen okayen Schlafplatz und hoffen, dass die viele Hunde hier uns nachts nicht überraschen.

    19:00 Uhr Ein Mann, namens Turgut hat noch angehalten und uns seine Nummer gegeben, falls wir Hilfe brauchen.

    19:30 Uhr Achja, gerade kam noch ein Auto und lud uns in ein Haus ein. Aber wir haben nach 10min Überzeugungsarbeit abgelehnt. Manchmal ist das schwieriger als einfach anzunehmen, aber die Erlebnisse heute mussten erstmal wieder verarbeitet werden. Merke: wenn wir sagen, dass es im Zelt für uns beide "Romantic" ist, dann wird meist wissend-schlüpfrig gelacht und sie lassen es, zumindest mit der Übernachtungseinladung, bleiben. Was denken die Menschen, was wir nach 80 Kilometer bergauf und bergab radeln bei praller Sonne abends im Zelt machen, so ganz ohne Dusche nur mit Katzenwäsche, auf unseren aufblasbaren Matten?

    Einschub Vincent: Vorschau: Am nächsten Morgen um 07:30 Uhr steht das gleiche Auto vom Vorabend wieder vor unserem Zelt und wird uns einladen wollen. Da ich an dem Morgen jedoch schon um 05:50 Uhr von einem kleffenden Hund geweckt wurde und um 06:10 Uhr ein wieder neuer netter Mensch vor mir steht und uns zum Frühstück einladen will, kann ich mit dem Typ vom Vorabend der um 07:30 Uhr auftaucht, ganz gut umgehen. Einschub Ende.

    Zurück zum Abend und den netten Menschen :)
    21:00 Uhr Die Ereignisse überschlagen sich:
    Keine Zeit für Verarbeitung, denn Turgut und seine Frau sind vorbei gekommen, während wir hier im Dunklen sitzen. Sie haben uns selbst gepflückten Çay Tee aus den Bergen gebracht, getrocknete Feigen und weiteres Obst. Wir wissen häufig nicht, wie wir uns bedanken sollen. Dann sagen sie immer, dass es zu ihrer Religion gehört, anderen Menschen zu helfen und sich zu kümmern. Ein schönes Werteverständnis.
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