• Niendorf

    Mar 20–21 in Germany ⋅ ☀️ 9 °C

    3.188 TAGE AUF UNSERER
    LEBENSREISE IM BLAUEN BUS (Fahrtstrecke 90 km/ Gesamt 387.078 km / Ø121,41 km)

    Wohnmobilstellplatz
    Niendorf
    Deutschland

    Hilde hat Bauch und ich habe Rücken. Und vorzugsweise werden wir oft genug früh am Morgen auf dieses Art an die Vergänglichkeit des Leibes erinnert. Vielleicht auch deshalb entzünde ich, gleich nachdem ich aufgestanden bin, zwei Kerzen. Eine große dunkelrote und eine kleine weiße Kerze. Nicht am Abend, wenn die Nacht kommt, also nur selten, nein im aufgehenden Licht der Sonne entzünde ich unsere Lichter im Bus. An der Flamme eines kleinen Streichholzes, das zwischen meinen Fingern verglüht zu Asche.

    Das ist kein bewusstes Ritual, das hat sich im Laufe der Reise entwickelt, wie so manch andere Seltsamkeit, für die wir gut sind. Dazu gehören auch die unterschiedlichsten Begegnungen mit Menschen und Tieren. Erst als wir von unserem Morgenspaziergang zurückkommen, sehe ich das Grab hinter dem Felsbrocken am Ende des Parkplatzes. Da gegenüber haben Dennis und sein Hund Blue vor einer Woche übernachtet, die bald zu ihrer großen Reise aufbrechen werden. Skandinavien möchten sie, die Weite und Einsamkeit hat so manchen Reisenden in den Bann gezogen und nicht wieder losgelassen.

    Eigentlich sehe ich die Ansammlung der kleinen blühenden Frühlingsboten, bunte Krokusse, ein einzelnes Schneeglöckchen, ein Ensemble blauer Blütenköpfe im Schutze des Rauhreifs. Dann sehe ich die Kerze, an den Felsen gelehnt, und die ausgeschnittene Papierbiene im Gras. Kurz bin ich geneigt, auch sie an den Felsen zu lehnen, dann erinnere ich mich meiner Handlungsstränge, dass ich nicht lebe, um eine Situation zu verändern, sondern um sie in ihrer Form und ihrer Weise anzunehmen.

    Das mag missverständlich klingen, aber im Laufe meines Berufslebens als Sozialarbeiter und alleinerziehender Vater, habe ich sehr wohl gemerkt, dass wirkliche Veränderung nur in den Menschen stattfinden kann, wenn sie Annahme ihrer selbst erfahren. Dann können sie, auch manchmal mit meiner Unterstützung, ihre Lebenssituation bewusst und langfristig verändern.

    Der Weg der kleinen Schritte ist auch unser Pfad durchs Leben, jetzt noch mehr bedingt durch unser zunehmendes Alter, das uns allerdings kaum einer ansieht. Nur der Bauch und der Rücken kennen uns zu gut.

    Wir starten in den letzten Tag auf unserer Ostseeküstentour erst spät am Mittag, während die Galloways sich zur Siesta zurückgezogen haben. In Kellenhusen hat meine Frau vor der Heirat gearbeitet, wir waren jung verliebt, und ich habe sie öfter besucht. Es gibt schöne Bilder in der Erinnerung und manche habe ich mir aufgehoben. Erst viel später beruhigt sich die aufgewühlte See der Scheidung, und im Nachhinein öffnen sich die schönen Bilder einer alten Liebe. Vermutlich musst du dafür alt werden und alleine leben, dann haben Herz und Seele Raum und Zeit, die Wogen zu glätten.

    Ich denke wieder an meine Oma, die immer den jungen Mann an ihrer Seite gesehen hat, bevor er in den Krieg zog und nicht wieder gekommen. Ihr Leben lang ist dieser junge Mann an ihrer Seite, selbst als sie alt ist und auf ihr Sterben zugeht. Ihn hat sie nie verlassen, was für mich unvorstellbar ist.

    An der Seebrücke kommt ein Mann mit seinem Pferd vom Wasser zurück. Es geht ruhig über die Brücke, vielleicht hat er ihm den Horizont gezeigt, und die Möwen, die überm Meer ihre Pirouetten drehen. Zwischen der Käserei und Klosterseeschleuse machen wir einen stillen Spaziergang zwischen den Feldern. Die Nacht war so kalt, dass das Wasser in den tiefen Gräben noch eine Eisschicht trägt, dort wo die Sonne nicht hingekommen ist. Die Kirche in Cismar, nebenan wohnt jemand, an dessen Hauswand Kunstwerke lehnen, die an den schlanken Bau des Gebäude erinnern.

    Dann kommt unser Auftritt in Lensterstrand. Am Piratenkeller vorbei liegt der Parkplatz keine fünfzig Meter vom Wasser entfernt. Ich jubele zu früh, denn kaum ist Hilde in Strandnähe angekommen, drehen die vierbeinigen Jungs am Rad. Unsere läufige Hundedame ist der Hit, da vergisst mancher seiner gute Erziehung.

    Gegen den Willen aller und mit Hilfe meines Stocks, der mir Halt gibt, kämpfen wir uns zum Bus zurück. Hilde ist völlig erschöpft, als wäre sie den Hundestrand zehnmal auf und ab gerannt, konnte ja keiner ahnen, dass wir gerade die Rushhour erwischt haben. Das war es dann mit Meer und Strand, jetzt sind die einsamen, aber auch schönen Wiesenspaziergänge
    wieder dran.

    Nächster Halt am Strand dürfte leider erst Ende Mai/Anfang Juni in Helsingborg, Schweden sein. Da fehlt mir noch das Stück bis Porsgrunn in Norwegen. Aber erstmal Grömitz und dann durchs Hinterland bis auf die Höhe von Rettin, wo wir uns dem Gut Brodau von der anderen Seite nähern, die mit den Seen den schöneren Anblick bietet.

    Wasser kaufen in Scharbeutz, Tanken in Pansdorf, Spaziergang in Niendorf. Als wir zum Bezahlen des Stellplatzes vorne zum Automaten fahren, kommt eine gemischte Gruppe ordentlich gekleideter Damen und Herren Richtung der Toiletten geeilt, von einem dringenden Bedürfnis beflügelt, ihre Ordnung verlierend.

    Erst als sie wieder ins Licht der Laterne treten, die Kleidung nachträglich richten, sehen sie uns. So kommen wir ins Gespräch. Deutschlandweit seien sie hergekommen, um einen ortsansässigen Freund zu beerdigen, der auf seiner letzten Reise in der Ostsee bestattet werden wollte.

    Sie sind höchstens Mitte Fünfzig, tendenziell etwas jünger, und in ihrem Aussehen und Auftreten sehr unterschiedlich, obwohl sie sich gut zu kennen scheinen. Der Tod glättet alle Unterschiede und Differenzen, kommt mir in den Sinn. So traurig der Anlass ist, so froh ist jeder, wieder in sein Leben zurückgehen zu können.

    Es wäre interessant, einzelnen Personen später mal wieder zu begegnen, in ihrem persönlichen Umfeld oder unterwegs auf Reisen, losgelöst von der Situation und der Gruppe. So umgibt uns hier eine wohlwollende, kleine Menschenmenge, die mir in der Freundlichkeit ihres eigenen Glücks ein Buch abkaufen.

    So rundet sich dieser Tag auf eine besondere Weise mit dem Morgenspaziergang, während die Kronen der noch kahlen Bäume still in den blauen Himmel schauen. Es sei ein Kommen und Gehen auf dieser Welt, so sagt man leichtfüßig, wenn der Abstand groß genug ist, und nachdenklich, wenn sich die Spanne verringert. Und hoffentlich eines Tages dann auch mit einer tiefen, inneren Zufriedenheit.
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