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  • Day 8

    Wassertaufe

    September 8, 2022 in Germany ⋅ ⛅ 23 °C

    Heute Morgen habe ich mich von Niko verabschiedet. Wir sind die letzen zwei Tage von Brück über Lutherstadt Wittenberg nach Torgau geradelt. Bis gestern hatten wir großes Glück mit dem Wetter, denn es blieb trocken und sogar sommerlich. Gestern war allerdings schon ein Wetterumschwung spürbar. Die Luft war heiss und feucht. Es war drückend schwül und gegen Ende unserer Strecke waren die Straßen vom Regen nass. Die verantwortliche Husche dafür hatten wir glücklicherweise umfahren.
    Die Kilometer der letzten Tage rollten leicht dahin. Der Wind hielt sich zurück und die Radwege waren in perfektem Zustand. Naja - fast perfektem Zustand. An unserer letzten Rast in Brandenburg wurden wir von der Wirtin bereits gewarnt, dass man die Landesgrenze zwischen Brandenburg und Sachsen-Anhalt daran erkennt, dass sich der asphaltierte Weg in einen Schotterweg wandelt. Und exakt so war es auch. Wir hatten bis Wittenberg nur knappe 20 km von der Landesgrenze, doch diese waren anstrengender als die 35 km zuvor. Zwischendurch gab es auch Waldwege mit tiefen Sandpassagen und zwei, drei Mal küsste ich gefühlt schon anhaltischen Boden. Gott sei Dank ging alles gut und auch Niko kam - bis auf Seufzer und Flüche - unbeschadet durch.
    In Wittenberg hatten wir diesmal eine Unterkunft über booking.com reserviert. Die Pension „Alabama“ lag sehr verkehrsgünstig ;)
    Zu meiner Freude befand sich unser Zimmer unter dem Dach - ich habe insgesamt fünf Fahrradtaschen zu schleppen. Zu Nikos Freude hatten wir das Fenster zur gut befahrenen Bundesstraße. Wegen des Lärms mussten wir uns allerdings nur bedingt sorgen, da das Dachfenster sowieso nicht richtig in geöffneter Stellung hielt. Somit war die stickige Schwüle eigentlich das größere Problem. Egal - frisch machen und los auf Luthers Spuren.
    Niko hatte bereits ein paar Dinge über Wittenberg recherchiert und so konnten wir gezielt die Highlights ansteuern. Marktplatz, Stadtkirche (mit der „Judensau“) und Schlosskirche (mit Luthers Thesentür). Leider waren die Kirchen bereits geschlossen.
    Nach einem Stadtrundgang ließen wir uns bei einem griechischen Italiener - das Lokal hieß treffend „Mediterraneo“ - nieder. Nach den 55 km war Pasta-Party angesagt und ich gab die Bestellung für uns auf. Anschließend sagte Niko spaßig - doch schon mit vorwurfsvollem Blick „Du blamierst uns!“. Ich wusste sofort, was er meinte. Ich hatte als Vorspeise für uns Bruschetta bestellt - und wie es dort steht ausgesprochen. Es folgte ein kurzes Gespräch über die richtige Aussprache und Niko überzeugte mich mittels Wikipedia und seiner halbitalienischen So-Gut-Wie-Schwägerin von brus'ket:a. Als der italienische Grieche uns dann die Vorspeise brachte und fragte, wer die Bruschetta (Aussprache wie geschrieben) bekommt, waren wir doch kurz verwirrt und feigsten.
    Zurück im Sweet Home Alabama fand Niko dann eine Möglichkeit, das Dachfenster doch etwas zu öffnen. Es war nicht genug, um den Raum merklich zu kühlen, doch ausreichend, um den Straßenlärm hineinzulassen. Entsprechend erholsam war unsere Nacht.
    Das Frühstück war auf ähnlichem Niveau wie unsere Nacht. Mittelmäßiger Kaffee, hart gekochte Eier und eine sehr überschaubare Auswahl an Aufschnitt - kein Vergleich mit dem herzlichen Frühstück bei Gisela mit selbstgemachter Pfirsichmarmelade.
    Wir packten unsere Sachen und rollten los. Unser Weg führte uns erneut über den Marktplatz, unweit der Stadtkirche St. Marien - Luther’s Predigtkirche. Ich nutzte die Möglichkeit auf meinen ersten Stempel im „Pilgerpass”.
    Zu unserer Freude war die Beschaffenheit der Wege hinter Wittenberg wieder auf EuroVelo-Niveau. Bis Torgau hatten wir heute knapp 67 km vor unseren Lenkerstangen. Wir planten zwei Pausen nach jeweils ca. 20 km - abhängig davon, was sich dort dann als Pausenmöglichkeit anbietet. Die ersten Kilometer spürte ich in mich hinein. Wie gehts meinem Hintern? Wie schwer sind die Beine? Was machen die Knie? Eine meiner größten Sorge ist, dass mein Körper irgendwie nicht mitmacht. Ich bin kein Radfahrer. Für meinen Körper ist diese Art von Belastung neu. Ich habe mich auch nicht sonderlich auf diese neue Art von Belastung vorbereitet. Ich vertraue einfach darauf, dass sich mein Körper während der Reise irgendwie daran gewöhnt. Bei den Muskeln und meinem Hintern mache ich mir da auch eher weniger Sorgen. Daran gewöhne ich mich schon und kann die Abhärtungsdosis anhand der Etappenlänge variieren. Größere Sorgen mache ich mir da bei den Gelenken - insbesondere den Knien. Wenn die nicht mehr wollen, geht - so befürchte ich - nicht mehr viel.
    Deshalb möchte ich es bei den einzelnen Etappen auch nicht übertreiben. Am Ende von 60 Kilometern steigt in mir merklich die Freude auf das Zielbier, eine warme Dusche und das Bett. Niko erzählte mir von seiner Radtour an die Ostsee mit Matthias. Sie legten dabei 180km am Tag zurück. Klar - die Zielsetzung und das Gepäck waren da ganz anders.
    Ich versuche mich so gut und so oft es geht zu dehnen. Vor kurzem wurde ich durch einen mir sehr wichtigen Menschen auf Yoga aufmerksam, welches mir diese Möglichkeit bietet. Kurz vor Start landete somit auch noch eine Yoga-Matte in meinem Reisegepäck und ist zu einem regelmäßig genutzten Gegenstand geworden.
    Wie gesagt, fühlte ich in mich hinein und merkte anfangs ein leichtes Stechen in meinem rechten Knie. Ich war sehr dankbar, als dieses nach den ersten Kilometern verschwand und ich schmerzfrei dahin radelte.
    Wie vereinbart hielten wir ab Kilometer 20 nach einer Einkehrmöglichkeit Ausschau. Bis wir fündig wurden, mussten wir noch knapp zehn Kilometer unserer Beine kreisen lassen und fanden schließlich die Burg Klöden. Eine recht verfallene alte Burg aus dem 13 Jahrhundert, welche mehrmals vom Elbhochwasser zerstört und anschließend auf einem höher aufgeschüttetem Sockel wieder aufgebaut wurde. Heute finden dort Radtouristen eine gute Möglichkeit, sich zu stärken. Da es bereits Mittag war, hieß das für uns „Zweimal Bauernschnitzel, bitte!“.
    Gut gestärkt und erholt ging es entlang der Elbe weiter. Felder und Deiche dominierten die heutige Etappe. Über den frisch geernteten Feldern kreisten unzählige Greifvögel und hielten nach einem Snack Ausschau. Ich bin immer wieder von diesen anmutigen Vögeln und ihrem ruhigen Flug fasziniert.
    Wie eingangs erwähnt, wurde es zunehmend heißer und schwüler. In einiger Entfernung, doch leider in unserer Richtung, türmten sich - wie Niko richtig bemerkte - Cumulonimbus Wolken auf. Seltsam, was manchmal aus der Schulzeit hängen bleibt. Noch waren sie sehr hell und wirkten wenig bedrohlich. Da für den späten Nachmittag allerdings Regen vorhergesagt war und wir die Wolken ungern im ihrer dunklen und bedrohlichen Variante erleben wollten, ließen wir die zweite Rast aus und zogen die verbleibenden 37 km durch.
    Trocken erreichten wir unser Hotel in Torgau. Noch vor den Zimmerformalien orderte Niko zwei Zielbier, welche wir zufrieden vor dem Hotel genossen.
    Anschließen ging’s aufs Zimmer und natürlich befand sich dieses wieder im zweiten Obergeschoß. Neben einem leisen Fluchen auf der Treppe regte ich mich nicht weiter darüber auf. Niko war da sehr viel glücklicher als er bei Anblick der Zimmertür feststellte, dass wir diesmal nicht zur Straßenseite residierten. Wir witzelten, ob auf unserer Seite stattdessen der Grossflughafen Torgau liegen könnte.
    Das Zimmer war geräumig und mit 90‘er Jahre Charm eingerichtet. Als ich die halb geschlossene Aussen-Jalousie öffnete, musste ich laut lachen. Niko schaute mich erschrocken an, trat ans Fenster und sah … eine Bahnlinie direkt unter unserem Fenster. Das Gleisbett war neu und weit und breit kein Schallschutz. Noch während wir lachten recherchierte Niko, dass dies nur ein Betriebsgleis für den Hafen war und somit wohl kaum genutzt wird. Wir hatten tatsächlich nicht eine Zugfahrt während unseres Aufenthaltes.
    Das Programm war das Gleiche wie die vergangenen Tage. Kurz dehnen, duschen und nochmal los. Niko hatte ein paar architektonische bzw. stadtplanerische Sehenswürdigkeiten rausgesucht, als da wären: der schwarze Graben, die Altstadt mit Markplatz und Schloss Hartenfels mit seinem weltberühmten Treppenturm. Torgau überraschte uns beide sehr positiv.
    Zurück auf dem Zimmer wurde es Zeit für die Scheidebecher. Niko hatte hierfür extra zwei kleine Single Malt Whiskys mitgebracht, welche wir aus den Weingläsern unserer Minibar genossen.
    Mit Blick auf die WetterApp hatten wir den Plan, morgen sehr früh aufzustehen und gegen neun zu starten. Dann sollten wir vor dem starken Regen loskommen und mit etwas Glück trocken bleiben. Zum Einschlafen hörten wir eine Folge des Schwarze Akte Podcasts.
    Der Himmel beim Aufstehen war grau - doch noch war es trocken. Wir gingen zum Frühstück. Noch während des Frühstücks begann es allerdings bereits zu tröpfeln. Alles halb so wild. Aus den einzelnen Tropfen wurde dann allerdings richtiger Regen und wir hatten plötzlich keine Eile mehr beim Frühstück. Nach Niko‘s App sollte es bald wieder schwächer werden - diese Pause wollten wir für den Start nutzen. Mir gefiel die App und ich lud sie mir ebenfalls runter. Bei einem weiteren Blick in die App war von der Abschwächung leider nichts mehr zu sehen. Im Gegenteil - es wurde tendenziell stärker. Also packten wir zusammen und beluden die Räder.
    Es hieß Abschied nehmen und obwohl ich die Reise ursprünglich sowieso allein geplant hatte, fühlte es sich komisch an, nun tatsächlich allein weiterzufahren. In mir stieg die Frage nach dem „Warum?“ auf. Niko sagte gestern, dass ihm drei Tage Radtour reichen würden. Warum fuhr ich dann weiter? Dazu noch allein? Wollte ich vielleicht doch jemandem etwas beweisen? Mir eventuell? Möglicherweise. Wann oder wie wäre ein Beweis (wofür?) erbracht?
    Ich hatte keine rechte Antwort auf diese Fragen. Möglicherweise finde ich die Antwort unterwegs und möglicherweise endet dann meine Reise. Bisher war ich jeden Nachmittag froh, als wir unser Ziel erreichten. Der Hintern tat weh, die Beide waren müde und ich freute mich auf Dehnung und Dusche. Doch ebenso machte sich jeden Morgen eine Vorfreude in mir breit, als ich die erste Meter auf dem Rad saß. Die Strapazen des Vortages waren vergessen und ich freute mich auf die Strecke. Solange dieses Gefühl da ist, fahre ich auf jeden Fall weiter. Ob dieses Gefühl bleibt, wenn ich allein radle, werde ich sehen. Heute morgen war es - trotz des Sauwetters - spürbar.
    Niko und ich verabschiedeten uns, ich dankte ihm, dass er die ersten Tage mitkam und wir wünschten uns alles Gute für den Weg. Ohne ihn wäre mir der Start ungleich schwerer gefallen. Wenn du das hier liest, lieber Niko, von Herzen Dank für deine Hilfe!
    Und auch Dank für den Ventil-Adapter. Er kam heute an einer Tankstelle zum Einsatz. Leider erst nach etwa 40 Kilometern. Doch mit etwa vier bar zu fahren, statt mit zweieinhalb, ist (fast) wie Fliegen - selbst bei Regen.
    Davon gab‘s heute reichlich. Es regnete die komplette Strecke durch. Und da meine Schuhe (ich hatte mir extra wasserfeste Wanderschuhe für solche Situationen geholt) nach etwa einer halben Stunde durchnässt waren, beschloss ich die knapp 50 Kilometer durchzufahren. Das Problem waren nicht die Schuhe, sondern, dass das Wasser an meiner Gore-Tex Hose in meine Verse lief und von dort in den ganzen Schuh. Niko hatte heute Morgen Gamaschen übergezogen, die genau dies verhindern. Dass wird meine nächste Investition.
    Trotz des Regens fuhr sich die Strecke recht gut dahin. Hat wohl etwas mit Erwartungsmanagement zu tun. Wenn man eh auf einen Misttag eingestellt ist, kann man nur schwer enttäuscht werden. Ich fuhr tatsächlich durch und kam völlig durchnässt in meiner Pension in Riesa an.
    Meine Sachen trocknen mittlerweile mit Hilfe von Ventilatoren und Kaufland-Werbeprospekten. Hier hat es aufgehört zu regnen und ich bin zuversichtlich, dass bis morgen alles wieder trocken ist. Niko ist mittlerweile daheim angekommen und ich ziehe mal los und schaue, was Riesa so zu bieten hat. Niko‘s Stadtführungen fehlen mir schon jetzt.
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