Satellite
Show on map
  • Day 122

    Repair-Café Marokko

    December 31, 2022 in Morocco ⋅ ☁️ 7 °C

    Vermutlich ist es das, was mich an diesem Land stets wieder fasziniert, neben der natürlichen Freundlichkeit der Menschen und der Monumentalität der Landschaft:
    in den wuseligen Ortschaften mit all den chaotisch anmutenden Ein-Lokal-Betrieben herrscht eine unglaubliche Kreativität und ein unermessliches Problemlöse-Potenzial. Die Grundvoraussetzung dazu: Hilfsbereitschaft, Großzügigkeit und Zeit. So kann mit wenig Geld Erstaunliches bewirkt werden.

    Die Kunstleder-Einsätze in unseren Sitzüberzügen sind in den letzten Monaten stark abgewetzt worden; pro Sitz jeweils die zwei Wülste links und rechts, der ganze Rest ist noch neuwertig. Abdessalam hat am Sonntagabend beide Überzüge mitgenommen - und kaum zwei Stunden später per WhatsApp mitgeteilt, es sei geflickt. Der Polsterer von nebenan hat die Einsätze herausgetrennt, aus einem farbähnlichen Material passende Ecken zugeschnitten und diese wieder eingenäht - für umgerechnet 5 Euro.

    Er selbst hat meinen alten "Babouches" eine neue Sohle aufgenagelt und das Oberleder frisch versiegelt. Und meinen einst teuren Meindl-Schuhen, die oben noch einwandfrei sind, hat er einfach das völlig abgelaufene Profil überklebt. Die 20 Dirham musste ich ihm noch fast aufnötigen.

    Originell die Holzkohle-Öfen aus alten Blechkesseln, die praktisch in jeder Ortschaft gekauft werden können. Bohrer, Draht und Blechschere reichen da aus, um mit geschickten Schnitten und ein paar Biegungen einen Grill für Spiessli, Teekanne etc. herzustellen. Gewusst wie!

    Mit gemischten Gefühlen begutachte ich den neueren Trend, aus Plastikabfall Streifen zu Schneiden und daraus wieder neue Taschen, Körbe und Traghilfen zu flechten, in origineller Buntheit. Das Grundmaterial ist mir da einfach nicht sympathisch.

    Irgendwie faszinierend, was auf dem Souk auf Tüchern und Planen ausgebreitet wird: haufenweise Schrauben, Muttern, Nägel und Beschläge, meist in grossen Haufen bunt durcheinander. Ebenso Kabelstücke, Lampenfassungen, Kippschalter, Steckdosen, Elektro-Komponenten etc., selbstverständlich alles gebraucht. Könnte ja noch zu irgendwas nützlich sein.

    Da werden Alteisen-Stangen gebündelt für ein paar Dirham verkauft, zum nächsten Schweisser gebracht und dieser macht in 10 Minuten ein grobes Gestell, Kostenpunkt 15 Dirham (1.5 Euro). Dieses wird auf dem Fahrrad nach Hause geschoben, dort mit Drahtgeflecht überzogen und schon sind die jungen Bäume vor ungewolltem Verbiss durch die Ziegen geschützt.

    Was die Psychologie in Mitteleuropa den depressiven und konsumkranken Burnout-Patienten empfiehlt und wieder mühselig aufzubauen versucht, ist hier tagtäglich erlebbar: Die Erfahrung von Selbstwirksamkeit.
    Was es dazu braucht? Den Mut, etwas auszuprobieren, die Abkehr von perfektionistischen Vorstellungen, die Geduld zu mitunter mehrfachen Anläufen und die Nachsicht, dass das Leben selten perfekt ist. Großzügigkeit eben, auch sich selbst gegenüber.

    Die arabische Sprache kennt dafür ein paar Schlüsselbegriffe, die Wunder bewirken können:
    inshállah - "so (und wann) Gott will" makénmuschkil - "macht nichts, ist nur halb so schlimm, wird sich schon wieder ergeben"
    bechér - "ist (schon) gut"
    schukrán - "danke"
    (meine persönliche Übersetzung, phonetisch und sinngemäß, Liste wird laufend erweitert)

    Das wichtigste Utensil jedes Handwerkers und jedes Ladenbesitzers ist die Teekanne (wahlweise noch der Gaskocher oder etwas Holzkohle). Damit wird erstmal ein Tee gekocht - und bis dieser trinkbereit ist, gibt's schon mal Zeit zum Gespräch, zum gegenseitigen Kennenlernen.
    Es gibt unter den Händlern heute leider viele, die dieses uralte Ritual als reine Kundenbindungsmassnahme missbrauchen. Aber es gibt auch immer noch diejenigen, die aus echtem Interesse, aus Mitmenschlichkeit und Großzügigkeit einen Tee anbieten. Welch kraftvolle Friedens-Einladung!

    Wenn Du mal in Agdz beim Schuhmacher Abdessalam zum Tee sitzt, dann bestell ihm einen herzlichen Gruß von mir.
    Read more