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  • Day 184

    Großzügigkeit gebiert Großzügigkeit

    March 3, 2023 in Morocco ⋅ ☀️ 15 °C

    Mein Blick zurück auf 100 Tage Marokko ist geprägt von der beeindruckenden und vielerorts noch lebendigen (Berber-)Kultur. Bodenständige, selbstbewusste und in sich ruhende Menschen mit herzlicher Offenheit, grosszügiger Gastfreundschaft und unerschütterlicher Zuversicht: "ma ken muschkil", macht nichts - wir finden schon eine Lösung. Und alles wird sich fügen, "inshallah".

    Besonders deutlich formuliert es Zaïd in seinem Museum der Source Lalla Mimouna: "weisst Du, wenn ihr meine Bücher und Kalligraphien anschaut und nichts davon kauft, so macht das gar nichts. Dafür erzählt ihr mitunter weiter von mir und vielleicht kommt irgendwann mal der Freund eines Freundes von euch und kauft gleich mehrere Stücke auf einmal."

    Es ist derselbe Zaïd, der nach dem heftigen Unwetter von Mitte Februar in Gummistiefeln und Pelerine in den Trümmern seines Museumsgartens steht und sagt: "weisst Du, ich mache einfach weiter. Ich putze das alles in den nächsten Wochen und dann beginnen wir wieder aufzubauen. Was mir passiert ist, ist ja eigentlich gar nichts im Vergleich zu den Erdbebenopfern in der Türkei und Syrien oder im Vergleich zu meinem Schulfreund, der schwer krank und unter großen Schmerzen in Casablanca in der Klinik liegt" - sagt der über Siebzigjährige und schaufelt weiter.

    Oder Tuda, die sich freut wie ein Kind, dass ich nach 16 Jahren noch an sie gedacht und sie mit Hilfe eines Fotos im hintersten Dadès-Tal gesucht und schließlich gefunden hatte. (2007 war ich alleine und mit dem Fahrrad in den südlichen Flanken des hohen Atlas unterwegs, als ich am Velo einen Platten einfing. Tuda kam gerade schwer beladen aus den Oasengärten hochgestiegen und hieß mich mitzukommen, ihr Nachbar könne das schon flicken. Dann gab es erstmal eine deftige Tajine zum Zmittag - und nachher reparierte Ikhlaf den Schlauch.) Die Fotos von damals hatten sich in meiner Erinnerung eingebrannt und so habe ich ein paar Tage zuvor unseren Sohn gebeten, mir ein paar Seiten aus jenem Fotobuch zu schicken.
    Mit Tudas Foto von damals fragte ich mich durch, bis der junge Mann am Strassenrand lächelnd erklärte: "das ist meine Mutter, komm mit!"

    Dann etwa Hafid: der Betreiber der Ecolodge Tamaount oberhalb von Demnate lässt die Camper kostenfrei auf seinem Parkplatz stehen, bietet Dusche und WC und selbst den Stromanschluss ganz selbstverständlich an, interessiert sich für seine Gäste und organisiert für jedes Problem eine praktische Lösung. Das französische Paar mit ihrer 12-jährigen Tochter und dem Traum, den afrikanischen Kontinent zu umrunden, quartiert er kurzerhand in einem leeren Hotelzimmer ein, denn um im unisolierten Camion auf dem Boden zu schlafen sei's jetzt zu kalt. Aufgebrochen mit einem ausgedienten Firmen-Kleintransporter haben die sich vorgenommen, den Camion unterwegs auszubauen. Hafid organisiert kurzerhand eine Equipe junger Schreiner-Handwerker aus dem Dorf und das Abenteuer beginnt. "Die können das", ist Hafid überzeugt und wenn dies auch das erste Mal sei, so möglicherweise nicht das letzte Mal. Er wittert bereits das neue Geschäftsfeld: Wohn-Camions im Berber-Style, mit marrokanischen Dekors und in echtem Holzhandwerk.

    Der junge Coiffeur im Dorf hat seinen Salon (in der Garage des Hauses) vor zwei Jahren und just während der Corona-Einschränkungen eröffnet, alles schlicht und einfach, sauber und geschmackvoll. Er schnippelt während mehr als einer Stunde geduldig und akkurat an meinen Haaren und am Bart, verpasst diesem unperfekten Kopf einen perfekten Haarschnitt und verlangt am Ende 30 Dirham (keine 3.50 in CHF). Ich gebe ihm 50 und er steckt es emotionsfrei dankend ein. Ja, auch das ist gesunder Berber-Stolz: keine überschwängliche oder unterwürfige Knickser vor der "Großzügigkeit" eines Europäers, denn jeder gibt was er kann. Und mein Trinkgeld ermöglicht ihm, wieder grosszügig zu sein bei jenem, der weniger geben kann.
    Geld ist nur Geld; wahre Werte und menschliche Würde sind davon unabhängig.

    Wie oft wurden wir eingeladen zum Tee, zum Essen, zum Freitags-Couscous - aus purer Gastfreundschaft, aus Freude an der Begegnung und aus Interesse an uns und unserer Geschichte. Zeit dazu hat man allemal und Begegnungen sind das Tor zur Welt - für sie wie für uns.

    Das Leben ist ein Geben und Nehmen - oder umgekehrt.

    So einfach könnte es sein, wenn wir statt der Profitmaximierungs- und Konkurrenz-Logik wieder zurückfinden könnten zu einer grosszügig vertrauenden und schenkenden Haltung. Die Berber machen es uns vor.

    (Eine "Etude" dazu aus unseren Kurz-Ferien bei Ilona und Dieter auf La Gomera: Ilona bringt eine Flasche Weisswein zum Tapas-Znacht in unserem kurzzeitigen Appartement - und macht uns damit die erste Freude. Da wir zwei Tage später zur Überbrückung in ihrem Arbeitszimmer eine Nacht verbringen, bringen wir die (noch nicht angebrochene) Flasche Weisswein mit - und machen ihnen eine kleine Freude. Und als wir zwei Tage später auf ihrer Terrasse sitzen und den Wein gemeinsam genießen, freuen wir uns alle vier zum dritten Mal.)

    Gibt es denn auch eine kritische Wahrnehmung zu unserer Marokko-Reise? Ja, das ist die Sorge darüber, dass dieses Land in zu kurzer Zeit mit zuviel chinesischer Massenware und unendlichen Plastik-Mengen überschwemmt wurde. Die Menschen wie auch die Infrastrukturen waren überhaupt nicht darauf vorbereitet und so ist das Müll-Problem allgegenwärtig. Auch dieses Land braucht Zeit, die "Segnungen des wirtschaftlichen Fortschritts" in den Griff zu kriegen, (wieder) ein sorgendes Bewusstsein zu entwickeln, entsprechende Strukturen (Abfall-Entsorgung, Abwasser-Reinigung etc.) aufzubauen und wieder vermehrt in nachhaltigen Kreisläufen zu produzieren. Bleibt zu hoffen, dass diese Gesellschaften nicht alle Fehler der modernen Welt wiederholen müssen.
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