• Ab in den hohen Norden

    7 Januari 2024, Gulf of Bothnia ⋅ 🌬 -8 °C

    Der angekündigte Tag auf See entwickelt sich schon früher als vermutet zum Tag auf Eis. Durch die niedrigen Temperaturen der Vortage – teilweise unter -40 Grad – ist die Ostsee bereits südlich der schwedischen Stadt Umeå von einer geschlossenen Eisschicht bedeckt, über die wir – so scheint es zumindest – sanft hinweggleiten.
    Ich stehe vorn am Bug und könnte stundenlang zusehen, wie wir Ice Age-mäßig die riesige weiße Landschaft aufknacken. Die Risse eilen uns teilweise hunderte Meter voraus, fußballfeldgroße Platten driften ächzend auseinander und geben kurz den Blick frei auf die darunterliegende schwarze Ostsee. Schollen schieben sich übereinander, wirken dabei recht unvorbereitet und erschrocken ob der plötzlichen Bewegung, dürfen sich aber vermutlich den Rest ihres Daseins wieder in Stille von der tiefstehenden Sonne bescheinen lassen.

    Je nördlicher wir kommen, desto langsamer wird unsere Fahrt. Und was vorn am Bug so schön aussieht, ist unten in meiner Kabine vor allem eins: Laut. Die schwedische Küstenwache hat uns mittlerweile angewiesen, bestimmte Wegpunkte abzufahren. Das macht es den Behörden leichter, den Schiffsverkehr bei Eis zu überwachen. Viel los ist hier oben ohnehin nicht.

    Frank, unser Lappland-Experte aus Emden, der vor 16 Jahren mit seiner Freundin in eine kleine Stadt in Nordschweden ausgewandert ist und dort als Allgemeinmediziner arbeitet, hält unterdessen einen sehr spannenden Vortrag. Er spricht darüber, wie es ist, wenn das nächste Krankenhaus 170 Kilometer entfernt ist. Wenn man sich die Bilder seiner Praxis anschaut, dann kriegt man ein ganz gutes Gefühl, wo es bei uns im ländlichen Raum so hingehen könnte in den nächsten Jahren. Mit Kamera und riesigem Bildschirm schaltet er je nach Fall Experten aus den entsprechenden Fachrichtungen dazu, die in irgendeiner Uniklinik in der Großstadt sitzen und mit deren Hilfe er genau abklären kann, ob dem Patienten vor Ort geholfen werden kann oder doch der Krankenwagen bzw. Hubschrauber los muss.

    Krankenkassen gibt es übrigens nicht in Schweden, das Gesundheitssystem ist hier komplett steuerfinanziert. Über unseren aufgeblasenen Krankenkassen-Apparat mit all seinen zu finanzierenden Vorständen und Verwaltungssitzen schüttelt man in Schweden nur ungläubig den Kopf. Dafür greift der Staat jedem in Schweden Einkaufenden kräftig in die Tasche.
    Alkohol ist hier ja bekanntlich besonders teuer, was dazu führt, dass jeder zu einer Party seine eigene Flasche Schnaps mitbringt, um den Gastgeber nicht unnötig zu belasten. Da gibt jeder dann für alle mal ne Runde aus und nimmt am Ende seine Flasche wieder mit nach Haus.

    Spannend auch, dass Datenschutz und Privatsphäre in Schweden etwas anders definiert werden als bei uns. Wem der Porsche da vorn gehört, kann jeder anhand des Kennzeichens in einem öffentlichen Register einsehen. Ebenso, wieviel Steuern jemand in den vergangenen Jahren gezahlt hat, was dazu führt, dass die Zeitungen jährlich im März riesige Listen abdrucken, wer in welcher Kommune am meisten verdient hat. Bevor man also einen Handwerker engagiert, schaut man erstmal nach, wie sein Geschäft so gelaufen ist die letzten Jahre – möglicherweise nimmt man dann doch lieber einen anderen?

    Während die Gäste und ich gebannt Franks Erzählungen lauschen, wird das Eis draußen merklich dicker.
    Am Ende des Tages kämpfen wir uns bereits in Zeitlupe durch die etwa 60cm dicke Platte. Alles an Bord vibriert, als würde man mit einem gigantischen Bus über Kopfsteinpflaster fahren. Am Klavier hängt durch das Gerumpel immerhin mein fauler Freund c nicht mehr so sehr in den Seilen, sodass ich heute sehr vergnügt meine musikalischen Runden drehe. An Schlaf ist ohnehin nicht zu denken, sodass ich nach getaner Arbeit auch erstmals auf dieser Reise in der Crewbar vorbeischaue und der wohl innigsten Karaokedarbietung ever des Songs „Bochum“ von einem unserer Köche beiwohne.
    Als wir um 1:30 Uhr schließlich zum Stehen kommen, weil uns die Behörden erst am nächsten Morgen einen lokalen Eisbrecher für die letzten Seemeilen bis zum Hafen zur Verfügung stellen werden, fällt das gesamte Schiff ob der plötzlichen Stille in einen wohligen Dornröschenschlaf.
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