• Viereinhalb Tage am Klavier

    11 April, Pazifischer Ozean ⋅ ☁️ 16 °C

    Um uns ein möglichst dramatisches Finale der Reise zu bieten, frischt der Wind anderthalb Tage vor unserer Ankunft in Los Angeles nochmal merklich auf. Von spiegelglatter See und blauem Himmel hin zu weißen Wellenkämmen und lustigen Gäste-Sturmfrisuren sind nur wenige Stunden vergangen.

    Nach einem herrlichen Sport-Bummel-Lese-Vormittag sitze ich heut zum vorletzten Mal am Klavier und freu mich innerlich noch ein bisschen über die ausgesprochen gute Bewertung meiner Tätigkeit hier an Bord, die ich gerade bei meiner Chefin unterschreiben musste. "Schade, dass du so selten hier bist. Du passt so gut hier her, ich wünschte, wir hätten mehr von deiner Sorte." Das klingt schon erstmal nicht nach völlig versagt, würde ich sagen. Offensichtlich ist der Brandbrief vom Band-Pianisten von vor drei Wochen noch nicht bei ihr angekommen. ;-)

    Auf dem kleinen Schiff mag das Miteinander familiärer und das Abenteuer noch abenteuerlicher sein - mein eigentliche Arbeit ist hier dafür unerhört entspannt. Denn während ich auf Expedition wahlweise Klavier spielen, dazu singen oder gar als DJ fungieren muss, bin ich hier wirklich nur der Typ, der sanfte Melodien am Klavier säuselt und dabei Gäste anlächelt. Und das genau drei Stunden am Tag und nicht exakt so lange, bis der letzte keine Lust mehr hat, an der Piano Bar zu sitzen.

    Ehrlicherweise fällt mir kein einziges Crewmitglied auf dem gesamten Kahn ein, das weniger arbeitet als ich. Das darf ich gar nicht laut sagen.

    Trotzdem werd ich - wenn der Wind mich nicht vorher über Bord weht - morgen Abend für dieses Mal meinen letzten Ton spielen und dann immerhin auch 109 Stunden lang am Klavier gesessen haben.

    Meinem Repertoire haben die Wochen auf jeden Fall gut getan - 500 Stücke sind jetzt in meiner Liste, die ich ziemlich überzeugend abrufen kann, und bestimmt nochmal 100, die ich so lange lächelnd skizzieren kann, bis du an meinem Klavier vorbeigelaufen bist und denkst, dass ich sie ebenfalls voll drauf hab. ;-)

    Ich wurde oft angesprochen, wie ich das mache, alles auswendig zu spielen. Und warum überhaupt? Für mich ist das ehrlich gesagt vor allem eine ästhetische Sache, denn ich finde wenig abtörnender als wenn auf einem wunderschönen Instrument in gediegenem Ambiente ein iPad rumsteht.

    Und dann hopst das Pferd in mir mal wieder keinen Zentimeter höher, als es muss, denn ich bin in der glücklichen Lage, dass mir relativ leicht über die Finger geht, was ich kenne. So ist mein Repertoire im Grunde nichts weiter als ein großes Sammelsurium von Melodien, die mir eh im Kopf rumschwirren. Für irgendwas musste meine Bravo-Hits-CD-Sammlung in den 90ern ja gut sein. ;-)

    Hab ich's nicht im Ohr, kommt's nicht auf die Liste, ganz einfach.

    Das hat zu dem lustigen Umstand geführt, dass es ein paar Nummern gibt, dich ich zwar spielen kann, von denen ich aber absolut keine Ahnung hab, von wem sie sind oder wie sie heißen. Das ist blöd, wenn man sie in eine Liste eintragen will.

    Auch hab ich mittlerweile kapiert, dass mir der Anfang eines Liedes meistens während des Spielens einfällt, wenn ich erstmal mit dem Refrain beginne. Bei Songs, die ich früher wegen dieser recht offensichtlichen Erinnerungslücke gar nicht erst angefangen hätte zu spielen, segle ich mittlerweile erstmal auf Sicht durch die Chorus-Akkorde und starte dann so richtig, wenn der Groschen doch noch fallen sollte.

    Ebenfalls neu für mich entdeckt auf dieser Reise, allerdings ein bisschen fies, deswegen nur in Situationen höchster Unsympathie angewandt: Wahllos ein paar gefällige Akkorde aneinanderreihen und meinen "Na, haben Sie es schon erkannt?"-Blick aufsetzen.

    Ehe das jetzt hier zu sehr nach Eigenlob stinkt: Bei allem, was gut und entspannt läuft am Klavier, ist mir aber auch mal wieder sehr bewusst geworden, in welchen Fertigkeiten und Stilistiken noch Vulkankrater-große Löcher klaffen. Es gibt auf jeden Fall noch genug zu lernen, um dann vielleicht irgendwann mit 73 ein halbwegs kompletter Ozeanpianist zu sein.
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