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  • Day 288

    Stadt der schwebenden Metallsärge

    May 26, 2019 in Georgia ⋅ ⛅ 21 °C

    Gamarjoba,

    die alten Industrieanlagen und Gewerbebetriebe aus der Sowjetzeit haben in den vergangenen Wochen immer wieder unsere Neugierde geweckt. Wir wollen mehr über die Orte erfahren und so liegt es nahe, dass wir in das heute fast vergessene Bergarbeiterstädtchen 'Chiatura' fahren.

    Wir springen wieder in eine der 'Mashrutkas' und steigen 10 km vor Chiatura am wohl kleinsten Kloster Georgiens mit der sicherlich außergewöhnlichsten Lage aus. Im Örtchen Katskhi ragt eine markante Felsnadel 40 m in den Himmel, auf deren 10 x 15 m großen Plateau vor 900 Jahren ein Kloster errichtet wurde und dann mehrere Jahrhunderte verlassen war. Beeindruckend, doch das lustige ist, dass sich 1993 ein Bewohner aus Chiatura entschied, damals in seinen 40ern, sein lasterhaftes Leben zu beenden und auf der Felsnadel als Mönch zu leben. Zu dieser Zeit lag das alte Kloster noch in Ruinen – er soll in einem alten Kühlschrank geschlafen haben, um sich vor Wind und Wetter zu schützen, bis dann 2009 das Kloster restauriert wurde. Über einen Seilzug bekam der Einsiedlermönch Wasser und Essen von seinen Anhängern gebracht und zweimal pro Woche stieg er von der Steinsäule hinab um unten einen Gottesdienst zu halten! An unserem Tag wahr wohl Gottesdiensttag, denn unten ging ein älterer Männ mit endlosem Bart und Stock "bewaffnet" auf einer Mauerkrone hin und her! Verrückte Menschen gibt es hier :-)

    Wir machen uns für die restlichen 10 km nach Chiatura zu Fuß auf den Weg und wählen einen Umweg entlang eines schönen Flusstales. Schließlich müssen wir uns noch einen Zeltplatz für die Nacht suchen. Abseits des Weges und fern von Blicken anderer werden wir direkt am Fluss gelegen fündig. Nur müssen wir auf unser "mitgeschlepptes" Wasser zurückgreifen, denn das Flusswasser ist bedingt der naheliegenden Bergwerke tief grau und von Mangan getränkt. Nichts desto trotz ein toller Ort, an dem wir für 2 Nächte unser Lager aufschlagen, um den Großteil unseres Gepäcks deponieren zu können, während wir unsere Erkundungstour nach Chiatura starten.

    Als die „Stadt der schwebenden Metallsärge“ ist die Bergbaustadt bekannt und dank der außergewöhnlichen geografischen Lage wurde während der Stalin-Zeit ein einzigartiges öffentliches Verkehrsnetz ausgebaut: 26 Personenseilbahnen transportierten während der Boom-Zeiten die Arbeiter vom Tal zu den Mangan-Minen und die Einwohner der modernen Plattenbau-Bergsiedlungen in das Stadtzentrum.
    Insgesamt spannten sich die Metallkabel von über 70 Material- und Personenbahnen über den Himmel der Stadt. Heute ist es nur noch ein Stück Tristesse. Eine scheinbar vergessene Stadt. Über uns hängen noch Materialgondeln an Seilen und man muss nur warten, bis diese abstürzen. Wir gehen durch eine der ehemals Mangan verarbeitenden Industrieanlagen und irgendwie wirkt es surreal. Es sieht aus, als hätte man von einer Sekunde auf die andere alles stehen und liegen lassen. Einerseits holt sich das Grün der Natur die Anlagen langsam zurück, anderseits leuchtet hier und da noch eine Glühbirne, oder Kontrollleuchte in den verfallenen Gebäuden.

    Für Sanierungen der Plattenbausiedlungen fehlt das Geld und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion fehlen die Handelspartner. Georgien hat obendrauf auch das Problem, dass Investitionen wohl überlegt sein müssen, da man scheinbar nicht ausschließen kann, dass der große Nachbar aus dem Norden auf kurz, oder lang wieder in Georgien einfällt. So die Angst Vieler.

    Eine Fahrt mit einer der alten noch ursprünglichen Seilbahnen müssen wir natürlich unternehmen. Also gönnen wir uns je eine Fahrt mit der "Stalin" und der "Friedens"-Bahn. Im Giebel der Talstation thront zugleich noch immer das Bildnis Stalins! Hmm, ein gewöhnungsbedürftiger Umgang mit der Vergangenheit. Nun gut! Die Gondel hält und wir besteigen über einen Holzsteg den "Metallsarg". Eine Glocke schrillt und die, an ihrer Arbeitsweise gemessen, wohl kaum bezahlte Dame setzt per Knopfdruck das Gefährt in Gang...
    Zurückversetzt in die Zeit von vor 60 Jahren fahren wir beeindruckende 40° und ohne erkennbare Sicherungseinrichtungen gedankenverloren steil bergauf...

    Wir sind begeistert. Der ganze alte Kram funktioniert ohne groß' Instandhaltung noch immer, transportiert die Menschen seit Jahrzehnten pausenlos hinauf und hinab und ist kostenfrei :-)

    Der Wetterbericht sagt, es würde um 16:00 Uhr anfangen zu regnen. Also schnell noch was zum Kochen kaufen bevor wir die 4 km zu unserem Zelt zurück gehen. Verrückt! Es ist Punkt 16:00 Uhr und wie der Teufel will sind wir noch nicht am Ziel ;-) Wir laufen was das Zeug hält, geben aber schnell auf. Irgendwann ist es auch egal. Das Wasser durchnässt alles. Es ist nichts mehr trocken, nichts und wir fangen an es zu genießen, durch den strömenden Regen zu gehen...

    ...uns gefällt unser Zeltplatz mitten im Grün, die frische Luft, das Gezwitscher der Vögel und all das zu dem Kontrast der Bergarbeiterstadt. Doch um 11 Uhr geht unser Zug und so geht es etwas wehmütig für gerade einmal 1 Lari, umgerechnet 30 Cent, und ganze 2 Stunden Fahrt zurück nach Kutaisi...

    Viele Grüße aus Chiatura
    Ariane & Marco
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