• 20. Juli - Teil I

    July 20 in Norway ⋅ ☁️ 11 °C

    Sehr schön war sie wieder einmal, die helle Nacht. Und so schaffen die warmen Strahlen der Sonne es um halb neun, mich rauszulocken und jetzt ganz ohne quälendes Geflügel um mich herum zu frühstücken. So entspannt, dass es doch zwölf wird, bis ich aufbreche. Dabei wundere ich mich schon auch selbst, wie lange ich doch Zeit habe beziehungsweise mir nehme. Schließlich hab ich ja was vor und will im besten Falle heute noch das Nordkap erreichen. Schon nach wenigen Metern, als ich das schwere Rad noch von dem Hügel durch die Prärie in Richtung des Feldweges schiebe, sitzt dort ein polnisches Paar, das an ihrem Camper frühstückt und auch irgendwo draußen übernachtet hat. Wir unterhalten uns eine ganze Weile, sehr angenehme Leute. Jetzt heißt es aufbrechen zur möglicherweise letzten Etappe auf dem Kurs Nord, wer weiß, wie weit ich heute tatsächlich komme. Entlang der Straße an einer der nur noch spärlich verstreuten Siedlungen frage ich mich wieder mal, wie das Leben hier wohl sein wird. So kurz vor dem offenen Meer mit diesem Wetter und all seinen Herausforderungen. Schließlich stehen hier immer mal wieder Schilder, insbesondere an den Pässen oder höher gelegenen Straßen, die im Winter das Fahren nur zu bestimmten Zeiten in der Kolonne zulassen. Und nachdem ich die eine oder andere Steigung erklommen habe, kann ich in der Entfernung schon übers Meer die Insel Magerøya sehen. Ein Feldweg, der von der Straße abseits weit raus bis ans Meer führt, wird dann auch erst mal meiner, da mich der Blick rüber auf die Insel doch schon reizt. Also Spoilern, wie man früher gesagt hat. Die Landschaft hier ist doch viel schöner, als ich es selbst immer gedacht habe, insbesondere als ich letztes Jahr in Kautokeino meinen Wanderweg beendet habe. Die Hügel und auch Berge sind nicht sehr schroff, sondern ziemlich rundgeformt, sie sind grün bewachsen, sehr idyllisch und es gibt hier, was mir auch gestern schon aufgefallen ist, sehr viele gar nicht so große Bergseen. Ich denke, einer davon wird heute auch noch meiner werden. Aber ich bin umso mehr froh darum, diese Landschaft genau jetzt in diesem prallen Grün und bei dieser natürlichen Beleuchtung zu erleben statt in dem Einheitsgrau zu Beginn der Winterzeit. Da sind also alle Gönner schon wieder auf meiner Seite. Dann geht es abwärts an den Kåfjord, ich bin wieder einmal bei diesem Prachtwetter so unendlich begeistert und kann mich nicht sattsehen an dem Grün und Blau an Land, Meer und Himmel. Da sehe ich auch schon den ersten Wanderer, schließlich kommt neben dem EV1 hier auch der E1 an, also der Wanderweg, dem ich letztes Jahr hauptsächlich gefolgt bin. Denn alle, die zum Kap wollen, müssen jetzt durch das Nadelöhr schlechthin, den Nordkapp-Tunnel. Von vielen Wanderern als auch Radlern verschrien wie ein Tor zur Hölle, schließlich man hat hier über fast 7 km den Bogen anders rum gespannt als meistens sonst. Nicht über das Meer, sondern unten durch und zwar auf einer Tiefe von 212 muh. Schilder vor der Einfahrt warnen vor Nebel im Tunnel und natürlich auch vor bis zu 9 % Gefälle und ab der Hälfte dann natürlich als Steigung. Es gibt Tore an den beiden Eingängen, die im Winter automatisch schließen, um innen Vereisung zu verhindern, im Sommer dagegen die Ren-ovierung. Kleiner Ulk auf Kosten der eh schon gehörnten, die hier nach Abkühlung suchen. Warum es gerade vor diesem Tunnel keine der großen Überfahrgitter gegen die Tiere gibt, verstehe ich nicht. Und so halte ich noch eine kurze Pause mit ein paar Snacks, um gut gerüstet gleich um halb drei in dieses kalte Loch zu entschwinden. Gut, dass ich mir die papierdünne Windjacke noch drübergetan habe, denn es geht auf einer von der Decke her nassgetropften Straße über 3 km für mich mit konstant 52 KMH abwärts. Das ganze bei exakt 10°. Macht schon auch etwas Gänsehaut. Die Sohle zieht sich über einen guten Kilometer gerade unten durch und dann beginnt der Aufstieg, den ich anfangs noch bei 7-8, aber später dann mit exakt 6 KMH im kleinsten Gang durchleiere. Und nach einer guten halben Stunde erblicke ich heute zum zweiten Mal das Licht der Welt. Außerhalb ist ein größerer Parkplatz, auf dem ich erst mal bis um fünf ein ausgedehntes Päuschen und ein Fresschen halte. Nun bin ich also auf der Insel. Auch hier gibt es Rentiere, die Berge sind teils doch steiler und schroffer, aber teilweise auch wunderschön grün bewachsen. In dieser so rauhen Natur, die sich mir aber seit Wochen völlig sanft und sonnig präsentiert, als hätte es außer Idylle nie etwas anderes gegeben. Die malerischen, fast kitschig schön anmutenden Orte, Wiesen und Landschaften durchfahre ich genüsslich, der nächste gut viereinhalb Kilometer lange Honningsvåg-Tunnel ist sehr einfach zu durchfliegen. Und so erreiche ich gegen sechs den gleichnamigen und auf dem Eiland größten Ort, der auf der anderen Seite der Storbukta in den schillerndsten Farben mit Häusern und Booten glänzt. Gegen halb sieben bin ich am Supermarkt, der auch am Sonntag geöffnet ist. Natürlich ist es ein Spot, an dem sich alles trifft: Radler Motorradfahrer, Wanderer. Richtung Kap wird es nichts mehr geben und so versorgt sich jeder mit dem, was er für die nächsten ein,zwei oder drei Tage braucht. Entsprechend ist es ein Kommen und Gehen und ich treffe unter anderem Jelle, einen jungen Holländer, der sein Rad schon mit Packtaschen zum Bersten gefüllt, aber zusätzlich noch einen Trailer angehängt hat, auf dem er sein MiniPiano und eine Reihe von Ersatzteilen transportiert. Er kann zwar kaum spielen, erzählt er mir, aber abends sitzt er gerne da und klimpert was vor sich hin, um Mitternacht hat er sogar im Nordkaptunnel tief unter dem Meer in einer der Notfallbuchten gesessen und gespielt. So hat halt jeder seine Macke. Auch ich habe in einigen Tunnels zuletzt lauthals gesungen, es schallt aber auch wie in der Elbphilharmonie zurück. Oder die zwei Flensburger Jungs, die auf Simsons samt Anhänger daher kommen, eine etwas andere Art des Reisens, wenn der Motor immer nur auf einem Topp läuft. Ob ich heute noch zum Kap will, diese Frage bekomme auch ich immer wieder gerade von anderen Radfahrern gestellt, kann sie aber nicht so klar beantworten. Natürlich will ich dahin, aber ob ich das heute noch schaffe, steht in den Sternen, die ich schon seit wirklich langer Zeit nicht mehr gesehen habe. Die meisten wollen auf irgendeinem der jetzt noch kommenden Campingplätze übernachten, weil sie doch schon zu sehr durch den Wind sind. Ich mache mich gegen sieben auf den Weg, habe heute erst gute 40 km gemacht und bis zur stählernen Kugel sind es nur noch 32 km von hier. Natürlich wieder einmal ohne Ahnung davon, wie der Weg genau aussieht, aber das sollte machbar sein. Schließlich ist mir die Ankunftszeit ausdrücklich egal. Gerade, wenn es spät oder Mitternacht ist, glaube ich, habe ich nicht gar so viele Klicki- und Tatschi-Touris um mich rum, was mir durchaus zusagen würde. Aus den Erzählungen habe ich mitbekommen, dass es wohl noch zwei relevante Anstiege auf dem Weg gibt und ja, die werden es tatsächlich. Wieder vorbei an einsamen einzelnen Häusern auf kleinen Inseln oder auch größeren zusammenhängenden Gehöften beginnt der erste Aufstieg gegen halb neun. Hossa, ordentlich steile Serpentinen, die sich an wunderschönen Seen hochziehen, die teilweise ausdrücklich als Trinkwasser-Reservoir ausgewiesen sind, also Bade Nixe. Wie ich gerade vielleicht die Hälfte dieses Anstiegs passiere, kracht es plötzlich völlig unerwartet über mir. Erst denke ich, ob ein Auto in irgendeiner Form was überfahren hat, tatsächlich ist es aber ein Gewitter. Der Himmel ist je nach Richtung, in die ich schaue, von blau bis etwas grau, direkt über mir sieht es aber schon nach Gewitter aus. Ich hab dieses Donnern noch ein paar wenige Male, mache mir aber keine ernsthaften Gedanken. Eine gute Stunde nach Antritt habe ich die Anhöhe erreicht. Während ich hier an vielen kleineren und größeren Seen entlang komme und in der Entfernung sogar den Felsen schon erahnen kann, der mein Ziel ist, sind insbesondere die Wolkenformationen über mir absolut traumhaft. Immer mal wieder, wenn ich stoppe, komme ich mit Leuten ins Gespräch, seien es Wohnmobilisten oder Motorradfahrer, die ebenso wie ich stehen und staunen. Da ist aber auch alles dabei, was das Wetter herzugeben hat, von wolkenlos und blauer Himmel über Sonnenuntergangs-Stimmung bis hin zu grauen, in sich verschrobenen Formationen, die ziemlich unheilvoll aussehen. Regenschlieren in gar nicht so großer Entfernung, die aber an mir immer wieder vorbeiziehen. Um kurz vor zehn habe ich linkerhand den lang gezogenen Tufjorden, er ist der letzte für mich vor dem Ziel. Es ist wie eine große Inszenierung, ein Lichtspiel, das kaum schöner sein kann. Die Sonne scheint durch die Wolken hindurch und macht ein bemerkenswertes Licht. 20 Minuten später habe ich dann die letzte Steigung erreicht, die sich wirklich sehr lange und kräftezehrend hinzieht. Vielleicht empfinde ich das aber auch, weil der Tag ja inzwischen fast wieder zu Ende ist. Die Ausfahrt aus dem Nordkaptunnel fühlte sich gegenüber dieser Auffahrt vergleichsweise einfach an. Und ganz nebenbei überholt mich gefühlt ein Reisebus nach dem anderen, scheinbar wird das wohl mit der großen Ruhe nichts werden. Wieder eine gute Stunde später ist sie aber bezwungen und es geht mit diversen, aber nicht so großen Höhenunterschieden auf und ab, die letzten Kilometer vor Augen, gleichzeitig aber auch das Wetter und die Wolken im Blick. Da ist die Straße auf einmal klatschnass, es muss hier soeben recht stark geregnet haben. Um halb elf ist es dann soweit, ich habe das Nordkapp erreicht. Den Punkt auf der Landkarte, wo die Welt am großen Wasser endet und der ursprünglich auch mal das Ende meiner Reise sein sollte. Mehr und mehr aber für mich nur noch zu einem Orientierungspunkt für die geographische Richtung geworden ist, denn die Reise wird wohl nie wirklich zu Ende sein. Wie ich mich noch auf dem Parkplatz orientiere, gibt es für vielleicht 5 Minuten einen kurzen Schauer, das Überziehen der Jacke hat sich also kaum gelohnt. Dann war das wohl eher der Segen nach den langen Wegen. Um den Gebäudekomplex herum finde ich den Weg bis vor zur Kugel, nicht ohne nebenbei an der einen oder anderen Stelle schon steil an den Klippen hinab sehen zu können. Etwas mehr als dreihundert Meter über dem Meer kann ich durch eine dichte Wolkendecke an einer Stelle gerade noch das Wasser erkennen. Und nun stehe ich hier an der Eisenkugel, die mir selbst in diesem Moment genau genommen nicht viel gibt. Und der Moment selbst ist auch nicht so außergewöhnlich, wie es wohl für manch anderen an dieser Stelle ist. Was mich wohl aber schon seit mehreren Stunden immer mehr gefesselt hat, sind die besonderen, für mich noch nie da gewesenen Bedingungen rundherum. Ich versuche mich, soweit es geht, von der Kugel und den Massen fernzuhalten und zu verstehen, was hier für ein Schauspiel um mich herum passiert. Es ist wie Magie, alle Arten von Wetter auf einmal zu erleben auf einer Bühne aus zwei Wolkendecken. Einmal die unten über dem Meer aus dicker Watte und dann die oben schwebenden, die zusammen mit der Sonne so unglaublich viele Facetten von Licht in den merkwürdigsten Konstellationen ergeben. Und so sitze ich weiterhin schön abseits, esse ganz in Ruhe, beobachte die Massen, laufe immer wieder herum und versuche, die sich ständig neu formierenden Gebilde und Gestalten zu verstehen. Ganz nebenbei habe ich mir jetzt auch selbst das Zertifikat unterschrieben, das mir vollständige Genesung attestiert, sonst wäre ich sicher nicht so problemlos bis hierher gekommen. Mit der Zeit trifft auch noch der eine oder andere ein, den ich unterwegs schon mal gesprochen habe und ich komme auch mit ein paar Leuten ins Gespräch, die ich hier zum ersten Mal antreffe. Da werden noch gegenseitig etliche Fotos gemacht, Selfies sind hier kaum nötig. Die Zeit vergeht für mich völlig unmerklich, obwohl ich durchaus Grund hätte, müde zu sein. Um eins am Morgen schließt das Besucherzentrum und etwa auch um diese Zeit verlassen die Reisebusse im Tross den Ort, schaffen die Leute wieder zurück zu den Kreuzfahrtschiffen oder wer weiß, wohin. Nun kommt dieser Platz zumindest ein wenig mehr zur Ruhe. Der Nebel, der ziemlich genau bis hier hoch an die Kante der Steilküste steht, schwappt manchmal etwas über und hüllt für wenige Minuten alles ein, begleitet von einem merkwürdigen Geruch, der wahrscheinlich vom Meer beziehungsweise speziell der Küste mit hochsteigt. Diese ganze Szenerie, die sich wie ein Riesen-Menü darstellt, durch das ich mich genüsslich durchfresse, verändert sich ständig und ist im wahrsten Sinne des Wortes unbegreiflich. Es ist irgendwann am Morgen schon mindestens um drei, als verschiedene Motorradfahrer, die ich vor einigen Stunden hier schon mal gesehen habe, extra vom Campingplatz noch einmal zum Posieren hier hochgekommen sind, um ihre Bikes direkt bis an die Kugel zu fahren. Eigentlich nicht erlaubt, aber um diese Zeit ist eh niemand da, den es stört oder der es in irgendeiner Form ahnden würde. Und so sind nach ihrem Auftritt auf dem Riesenareal vielleicht noch 5-10 Leute auf den Beinen, die die Ruhe und mystische Stimmung genießen. Selbst die Wellen kann ich jetzt manchmal hören, wenn sie in die Felsen schlagen. Eine der wachen ist Henrike, eine Studentin aus Frankfurt, die mit dem Camper ihrer Eltern alleine unterwegs ist und mit der ich ins Gespräch komme. Gerade weil es jetzt so schön ruhig ist, macht sie noch ein paar Fotos von mir mit dem Fahrrad und wir laufen zusammen noch ein paar Stunden lang bis in den frühen Morgen umher, beobachten zuckende Blitze in den Wolken und unterhalten uns, als würden wir uns doch schon länger kennen. So ist es sage und schreibe sechs Uhr, die Sonne scheint schon wieder mit größerer Kraft durch die oberen Wolken auf die weiße unten liegende Schicht, als wir dann doch beide der Müdigkeit nachgeben. Ich platziere mich gute hundert Meter von diesem speziellen Ort entfernt in der recht kleinteiligen Steinwüste und lege mich einfach mit der Isomatte ins flache Land, damit nachher möglichst niemand auf mich drauftritt, wenn es hier wieder heißt Klicki und Tatschi. Verstanden habe ich von all dem Spektakulum hier kaum was. Es war wohl auch nichts zum Verstehen da, nur zum Dasein, Genießen und Geschehenlassen. Jeder Tag ist ein neues Leben.Read more