• Sowjetistan

    September 7 in Switzerland ⋅ ☀️ 27 °C

    Zur Einstimmung auf unsere Reise haben wir "Sowjetistan" von Erika Fatland gelesen. Erhältlich u.a. hier: https://www.orellfuessli.ch/shop/home/artikelde…

    Ihre Reflektion über die Reise durch die fünf Länder Zentralasiens und deren zukünftige Entwicklung wird uns die nächsten knapp vier Wochen begleiten:

    "Die postsowjetischen Staaten in Zentralasien stehen mit anderen Worten vor gewaltigen Problemen. Ausser den mangelhaft entwickelten Demokratien geht es vielen Ländern wirtschaftlich schlecht. Die sowjetischen Machthaber haben sich nie die Mühe gemacht, die Industrie in dieser Region auszubauen, sondern nutzten die Länder als Lieferanten von Rohwaren. Den heutigen korrupten Regimen ist es mit wenigen Ausnahmen nicht gelungen, ihre Staaten aus der wirtschaftlichen Schieflage zu befreien; obwohl sie es durchaus versucht haben, sind viele noch immer vollkommen abhängig von Russland. Die Wirtschaft in Kirgisistan und Tadschikistan steht und fällt mit den Überweisungen der Arbeitsemigranten, die in russischen Städten arbeiten.
    Durch die Mitgliedschaft in der Eurasischen Wirtschaftsunion hat Kasachstan erst kürzlich noch engere Bande zu dem grossen Bruder im Norden geknüpft. Usbekistan hat lange eine isolationistische Position vertreten, aber es gehen Gerüchte, dass Russland hinter den Kulissen aktiv tätig ist, um sicherzustellen, dass der Kreml-freundliche Chef des Geheimdienstes SNB Inojatow nach dem alternden Karimow das Präsidentenamt übernimmt.
    Es ist insgesamt unmöglich, die fünf neuen Länder in Zentralasien zu verstehen, ohne zu berücksichtigen, wie ihre Zeit als Sowjetrepubliken sie geprägt haben. In den siebzig Jahren sowjetischer Herrschaft trat Zentralasien vom Mittelalter ins 20. Jahrhundert. Dieser zivilisatorische Sprung führte zu gewaltigen Umwälzungen in den Gesellschaften. Ein ganzes Binnenmeer verschwand, Nomaden wurden gezwungen, ihre Herden aufzugeben und in Kolchosen zu leben, über eine Million Menschen starben an Hunger. Hunderte Moscheen wurden geschlossen, Frauen wurden vom Schleier befreit, die Polygamie aufgehoben, zumindest in der Theorie. Arabische Buchstaben wurden gegen kyrillische ausgetauscht, aber dafür lernten alle lesen, auch die Mädchen. Strassen, Bibliotheken, Opernhäuser, Universitäten, Krankenhäuser und Sanatorien wurden gebaut. Landesgrenzen wurden festgelegt und Aussengrenzen mit Stacheldrahtzäunen versiegelt. Fünf Nationen erblickten das Licht der Welt.
    Inmitten all dieser Veränderungen hat Zentralasien dennoch einen Teil seiner Besonderheit erhalten. Die alte Klan-Kultur überlebte Kollektivierung und Zentralkomitees. Auch die Autokratie verschwand nie, es gab sie lediglich in einer anderen Form. Gastfreundlichkeit, die Faszination für Teppiche, die alte Marktkultur, die Liebe zu Pferden und Kamelen: All dies hat bis in unsere Tage überlebt und lässt eine Reise in diese Region unvergesslich werden.
    Heute stehen die Stans an einem Kreuzweg. Sollen sie sich Russland oder China annähern oder doch gen Westen schauen? Welchen Interpretationen der eigenen Geschichte können sie vertrauen? Nach fünfundzwanzig Jahren Selbstständigkeit bemühen sich diese fünf Nationen noch immer, ihre eigene Identität zu finden, im Spannungsfeld zwischen Ost und West, zwischen Alt und Neu, mitten in Asien, umgeben von Grossmächten wie Russland und China und zerstrittenen oder unruhigen Nachbarn wie Iran und Afghanistan. Neunzig Prozent der Russen, die in Tadschikistan lebten, zwei Drittel von denen, die in Turkmenistan lebten und die Hälfte derer, die in Usbekistan lebten, haben die Länder verlassen. Zentralasien ist damit in den letzten fünfundzwanzig Jahren mehr "es selbst" geworden, zumindest ethnisch betrachtet. Aber das Erbe der Sowjetunion hängt noch immer schwer an den Stans, sowohl wirtschaftlich wie politisch. Solange die meisten Politiker aus der Sowjetzeit noch immer an der Macht sind, gibt es wenig Hoffnung auf Veränderungen."
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