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  • Day 49

    Bunt, bunter, Indien

    November 18, 2023 in India ⋅ ☀️ 29 °C

    Anderthalb Monate sind wir schon unterwegs! Zeit für ein paar Reflektionen über das bisher Gesehene. Das bietet sich auch deshalb an, weil wir für mindestens eine Woche nach Goa ans Meer gefahren sind und nun Zeit und Muße haben, die vielen Eindrücke zu verarbeiten. Also macht Euch auf einen - sehr - viel längeren und weniger touristischen Footprint gefasst - einer für unsere Zeit in Goa kommt dann in ein paar Tagen.

    Ihr wisst ja, dass wir die gesamte Zeit im indischen Norden verbracht haben. Natürlich ist das ungefähr so, als würde man sagen, die ganze Zeit im nördlichen Europa gewesen zu sein: London und Norwegen und München und Finnland und Amsterdam und Irland sind ja auch nur schwer unter einen Hut zu bringen.

    Ein paar Gemeinsamkeiten gibt es aber dann doch. Als erstes die Menschen: Ganz egal, ob in Ladakh oder Kashmir oder Amritsar oder Varanasi, die Inder sind durchgehend enorm freundlich und höflich und lieb zu uns. Und neugierig! Wir werden ständig auf der Straße angesprochen, und das Gespräch läuft fast immer nach genau demselben Schema ab, oft wörtlich identisch:

    "Hello, how are you?"
    "Fine, thank you!"
    "Where are you from?"
    "From Germany."
    Optional: "Guten Tag!", aber immer auch: "What's your name?"
    "I'm Annie!"
    "Anja?"
    "Good enough..." - "...and I'm Rolf!"
    "Ölf?"
    "Yeah, sort of..."
    Optional: "Can I/we take a picture?"
    "Sure, go ahead."
    "Thank you! Bye bye!"
    "Goodbye!"

    Wir kommen uns ein bisschen vor wie in einem Computerspiel, in dem alle NPCs dieselbe geskriptete Standardinteraktion haben. Und an Hot Spots wie in großen Städten oder vor berühmten Tempeln müssen wir irgendwann freundlich, aber bestimmt "No, thank you" sagen, sonst stehen wir den ganzen Tag als Fotomodell bereit. Oder jedenfalls stünde Annie als Fotomodell bereit: In 100% der Fälle wird sie gefragt, ob man sie fotografieren darf, nicht ich. Oh well...

    Angesprochen werden wir auch von fast jedem Tuk Tuk-Fahrer, Verkäufer, und natürlich Bettler. Aus Sicht dieser Gruppen sind wir so eine Art wandelnde Geldbörse. Irgendwie verständlich, und ein höfliches, aber bestimmtes "No, thank you" hilft fast immer sofort, außer bei den Bettlern an den Hot Spots. Da können wir uns darauf einstellen, dass besonders die Kinder oft eine Minute neben uns herlaufen und (allerdings sehr sanft) an unseren Armen oder T-Shirts ziehen. Wir sind irgendwann dazu übergegangen, dass Annie immer ein paar 10-Rupien-Scheine (ca. 1 Rupie = 1 Cent) lose in der Hosentasche hat, um sie dann zu verteilen. Das hilft dann meistens, außer wir sind an Stellen mit Dutzenden von Bettlern auf einmal.

    Es ist übrigens gar nicht so einfach, an 10-Rupien-Scheine heranzukommen. Die meisten Tuk Tuk-Fahrer und Restaurants haben kein Wechselgeld. Wir können dann entweder darauf warten (es wird immer versucht, irgendwo in der Umgebung zu wechseln) oder mindestens einen Teil des Rückgelds als Trinkgeld verbuchen. Dann wird es aber natürlich schwierig mit den Bettlern. Glücklicherweise haben wir irgendwann gemerkt, dass "Supermärkte" (sprich: winzigste Tante-Emma-Läden) oft Wechselgeld haben und sorgen inzwischen auf diese Art vor.

    Die Inder selbst zahlen oft kleinste Centbeträge per Smartphone (das ausnahmslos jeder hat). Leider ist es uns ohne indische Kreditkarte unmöglich, uns bei den entsprechenden Apps zu registrieren. Und indische Kreditkarten kriegen wir natürlich nur mit einem Konto bei einer indischen Bank, und dafür wiederum brauchen wir eine indische Adresse und ein anderes Visum. Dasselbe Problem haben wir bei vielen indischen Bus-, Zug-, Taxi- usw. Apps. Accounts erstellen geht immer, aber im letzten Schritt, dem Bezahlen, scheitern wir oft selbst nach Eingabe aller vier verschiedenen Karten. Nicht einmal Paypal (wird nie angeboten) oder Amazon Pay oder Google Pay funktionieren, obwohl die in Europa mit meinen Karten gut klarkommen.

    "Dann also Bargeld", denkt man. Hah, weit gefehlt! Auch an Bargeld muss man zunächst kommen. Es gibt zwar Bankautomaten wie Sand am Meer, aber erstens sind sie immer auf 10.000 Rupien (~100 Euro) beschränkt, und zweitens funktionieren bei den allermeisten unsere Karten nicht. Nur gut, dass wir vier verschiedene haben: Annies ING-Karte funktioniert mit Abstand am häufigsten.

    Wir vermuten, das sind alles Ergebnisse der überbordenden indischen Bürokratie. Nach allem, was wir lesen und hören, ist sie insgesamt in den letzten zehn Jahren deutlich besser geworden - nur Geldbewegungen werden von der Regierung immer schärfer überwacht. Wir haben den Eindruck, die Regierung wüsste am liebsten über jeden einzelnen Kauf Bescheid.

    Und über jede unserer Bewegungen! An jeder Unterkunft, ausnahmslos, müssen wir ca. 20 Fragen beantworten zu Woher, Wohin, Wer, Warum, Wann, Visum- und Passnummer, -Ausstellungs- und -Gültigkeitsdatum etc etc. Wir haben nicht den Eindruck, diese Datensammelwut erfülle irgendeinen Zweck; es ist wahrscheinlich ein bisschen wie bei der Stasi, wo erst einmal alles gesammelt wird und 99,9% davon dann in irgendwelchen Datenbanken verstaubt.

    Trotz Bürokratie fühlt sich das ganze Land enorm dynamisch an - vielleicht ist an besagtem Bürokratieabbau ja doch etwas dran, und wir kriegen nur die Reste (oder die "Antiterror"-maßnahmen) mit. Indien ist - immer noch - sehr arm, aber die Wertschöpfung pro Kopf hat sich in den letzten 20 Jahren verfünffacht (!!! - und in den 20 davor verdoppelt, und davor verdreifacht). Alles natürlich von einer ganz ungeheuer niedrigen Basis aus, aber das bedeutet trotzdem, dass die Masse der Bevölkerung den Sprung von "lebensbedrohlich unterernährt" zu "(nur noch) sehr arm" geschafft hat.

    Und das sieht man! Selbst im Vergleich zu meinem (kurzen) Besuch vor fünf Jahren sind die Straßen viel besser, es gibt viel weniger Menschen ohne Kleidung, bisher hat sich noch niemand direkt auf der Straße entleert, und viel mehr Menschen haben Roller und Hemd statt bloßem Oberkörper und Fahrrad. Das mobile Internet ist im ganzen Land, nicht nur in den Städten, deutlich besser als in Deutschland. Und es liegt ein ganz anderer Optimismus in der Luft. Bisher haben ausnahmslos alle Inder, mit denen wir darüber gesprochen haben, eindeutig gesagt, dass es die letzten 10 Jahre rapide aufwärts ging. Nicht einmal hören wir das ewige "früher war alles besser/alles geht den Bach runter" wie in Deutschland.

    Natürlich waren die letzten 10 Jahre die der Regierung Narendra Modi. Dessen Bild sehen wir zwar nicht ganz an jeder Straßenecke, aber vielleicht an jeder dritten. Man stelle sich das mit Olaf oder Angie vor - schrecklich! Es ist auch zweifellos wahr, dass Modi autoritäre Tendenzen zeigt (der Chef der Opposition, Rahul Gandhi, war vor wenigen Wochen für ein paar Tage im Gefängnis...) und die Medien berichten über die Regierung weniger in kritischem als eher in hagiographischem Ton. Trotzdem ist nach unserer inoffiziellen Umfrage klar, dass die Regierung auch eine völlig freie und faire Wahl hoch gewinnen würde (so wie die letzten auch, die allgemein als frei und fair gelten). Wir können nur hoffen, dass die Demokratie auch die nächste(n) Wahl(en) übersteht und Indien nicht auf den Weg Chinas abrutscht. Als wir in Ladakh waren, war jedenfalls gerade Wahl, und dort hat die Opposition hoch gewonnen (wohl weil die Regierung vor vier Jahren die lokale Autonomie beschränkt hatte und dafür jetzt die Quittung bekam).

    All das Wachstum hat natürlich auch Schattenseiten. Indien ist das mit weitem Abstand schmutzigste Land, das wir je gesehen haben. Das Land ist *dreckig*. Müll aller Art wird einfach auf die Straße geworfen, und dort bleibt er dann. Der Schmutz ist auf einem ganz anderen Level als in anderen, als verdreckt geltenden, Ländern. An manchen Stellen, z.B. Flughäfen, hängen große Plakate, "single use plastic free airport", aber das wirkt wie ein schlechter Witz. Auf den Straßen müssen wir ununterbrochen auf den Boden schauen - entweder Müll oder Kuhmist oder Hundekot oder andere undefinierbare Ausscheidungen liegen überall herum. Zusammen mit dem unglaublichen Gewusel - wir bekommen schnell ein Gefühl dafür, was "1,4 Milliarden Inder" eigentlich heisst: es ist, als wären wir ohne Pause auf dem Heidelberger Herbst - und dem Lärm und Gestank und der grellen Buntheit sind die Städte ein Dauerangriff auf alle Sinne. Besonders Annie hat damit zu kämpfen, aber nach ein paar Wochen geht es auch mir langsam auf den Geist.

    Was natürlich nicht heißt, dass das ganze Chaos nicht auch inspirierend und belebend wirken kann! Wie viele Farben uns auf einer durchschnittlichen indischen Straße (von den Basaren ganz zu schweigen) anblinken, ist phänomenal. Die Inder lieben es bunt, und wir freuen uns jeden Tag daran. Mit dunklen Herbstfarben, wie viele Menschen in Deutschland sie tragen, sehen wir hier nur sehr wenige Leute. Gleiches gilt für die Gerüche - ein Straßenstand reiht sich an den nächsten, und die meisten sehen verlockend aus und riechen auch so. Wir gehen schweren Herzens fast immer vorbei - die Erfahrung aus Amritsar hat uns vorsichtig werden lassen.

    Mitten im Chaos sind die Tiere: Hunde, Affen und natürlich die heiligen Kühe. Kühe stehen meist völlig unbeweglich auf irgendeiner Straße, gerne auch auf großen Hauptstraßen, herum, während links und rechts Tuc Tucs zentimeternah und laut hupend vorbeirasen. Oder man sieht sie auf einem Müllberg irgendwelches Plastik fressen. Wovon sie eigentlich leben und wieso man sie eher in Städten als auf dem Land sieht, ist völlig unklar. Vermutlich fallen bei all den Menschen in den Müllbergen dann doch genügend Essensreste an.

    À propos Verkehr: Der ist auch auf einem ganz anderen Level. Selbst hochgradig chaotische Regionen wie Sizilien oder Marokkko oder sogar Istanbul sind gegen indische Städte gesittet. Die einzige Regel scheint zu sein, niemanden anzufahren (was in fast allen Fällen auch klappt). Anders gesagt, wenn jemand überholt und Gegenverkehr kommt, wird so lange gehupt, bis der Gegenverkehr bremst oder ausweicht. Oder wenn jemand überholt und dann den überholten schneidet, muss letzterer bremsen, um nicht in den Überholer zu fahren. Gehupt wird dabei andauernd; bevor man die Kakophonie selbst erlebt hat, ist das Ausmaß schwer vorstellbar. Auf den meisten Fahrzeugen steht hinten "Horn please" oder "Blow Horn", damit der vordere Fahrer auf den unvermeidlichen Überholversuch des hinteren aufmerksam gemacht wird. Es ist ein reines Wunder, dass nicht innerhalb von fünf Minuten alle ineinanderkrachen. Wir lernen schnell, die haarsträubendsten Verkehrssituationen gelassen zu ertragen - es bleibt uns eh nichts anderes übrig, und im Unfallsfall werden wir ja wiedergeboren ;-)

    Der ganze Verkehr und die hauptsächlich auf Kohle basierende Energieerzeugung und die offenbar ohne Filter arbeitende Industrie sorgen dann für eine alles andere als gesunde Luft. Die Feinstaubbelastung ist hoch genug, dass man nicht sehr weit sehen kann - und sie betrifft fast das ganze Land (hier in Goa ist es besser, aber auch weit jenseits aller europäischen Grenzwerte. Und im Himalaya war die Luft klar). Ein Stück weit ist es so, dass die Inder vor der Wahl "Hunger und Armut" und "Müll und schlechte Luft" standen und sich ganz eindeutig für die zweite Variante entschieden haben.

    Man kann nur hoffen, dass es mit weiter steigendem Reichtum irgendwann besser wird. In manchen Städten sind schon die Hälfte aller Tuk Tuks elektrisch (!), und fast alle unserer Unterkünfe haben Solarkollektoren auf dem Dach. Für diese Theorie spricht, dass es in Goa, dem reichsten indischen Bundesstaat, sehr viel sauberer und gesitteter zugeht als im gesamten Norden - und insbesondere als im ärmsten Bundesstaat, Bihar, aus dem wir hergeflogen sind. Der Kontrast ist heftig - so stark, dass Goa sich fast nicht mehr wie Indien anfühlt. "Reich" und "arm" sind aber auch extrem: Wenn die Menschen in Meck-Pomm 10.000€ im Jahr verdienten und die in Bayern 100.000€, wäre das Verhältnis ähnlich - die echten indischen Werte sind 600€ (im Jahr, im Durchschnitt, d.h. die meisten haben deutlich weniger!) in Bihar, 6.000€ in Goa. Kein Wunder, dass Goa sich eine Müllsammlung leistet und Bihar anscheinend nicht.

    Nach all der Ökonomie ein paar Worte zur Religion und Kultur: Die meisten Inder sind natürlich Hindus. Aber die vier Regionen/Städte im dritten Absatz (ja, ja. Vor drei Lesestunden ;-) ) sind nacheinander mehrheitlich buddhistisch, muslimisch, sikhisch und hinduistisch geprägt (und Goa ist katholisch "dank" der Portugiesen!). Für so ein buntes Gemisch geht es erstaunlich friedfertig zu. Der Grundsatz scheint, ähnlich wie im Verkehr und im persönlichen Umgang, Gewaltfreiheit zu sein. Das funktioniert lange nicht immer: Im Zuge der Teilung Britisch-Indiens in indien und Pakistan gab es viele Tote, Kaschmir ist ein Brennpunkt, in Amritsar hat die Armee in den 80ern den Goldenen Tempel gestürmt, und die aktuelle Regierung ist ganz klar hindu-nationalistisch. Aber für so viel Mischmasch läuft es eigentlich ganz gut.

    In den Städten stehen jedenfalls die Hindutempel nebst Moscheen und die Gurudwars der Sikhs nebst buddhistischen Gompas. Das ist schon beeindruckend. Gleiches gilt für die religiösen Symbole: Selbst die Swastika (das Hakenkreuz: hier ist es ein jahrtausendealtes Glückssymbol, und die Inder denken gar nicht daran, sich das von den Nazis vermiesen zu lassen) fällt uns irgendwann kaum noch auf.

    Indien schafft uns! Und bringt uns an unsere Grenzen. Aber gleichzeitig ist es auch unheimlich vielfältig und spannend und schön. Und die Inder muss man einfach lieben. Wir erholen uns jetzt erst einmal für ein paar Tage am Strand (mit der nächsten Durchfallerkrankung meinerseits) - und wo es danach hingeht, sehen wir dann!
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