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  • Day 5

    Zwischen Gedanken und Gefühlen

    April 2, 2021 in Germany ⋅ ⛅ 11 °C

    Heute ist mein letzter voller Tag im Quarantäne.
    Und auch wenn ich mehr und mehr auf die Vorstellung freue, mich ab morgen wieder völlig frei bewegen zu können, ist es mir bisweilen noch nicht langweilig geworden.

    Vor gut zwei Tagen, habe ich mit Damiano Nöthen vom Gestaltforum Freiburg telefoniert. Seit vielen Jahren bildet und befähigt er Menschen im Bereich der Gestalt-Therapie/Arbeit. Und wenn alles klappt, werde auch ich ab April in seiner Lerngruppe sein.

    Damiano hat mich ein bisschen über meine Geschichte und Hintergründe ausfragt, weshalb ich diese Ausbildung machen möchte. Ziemlich schnell wir sind zu einem Thema vorgestossen, dass mich nach wie vor sehr beschäftigt und wohl auch mein Denken massgeblich verändert hat. Als ich dann gestern in meiner Quarantäne Lektüre weitergelesen habe, fand ich eine sehr ähnlich Aussage im Lehrbuch von Frederick S. Pearls, der als Begründer der Gestalttherapie gilt. Es ist der vorherrschende Glaubenssatz, dass wir Emotionen (subjektive Wahrnehmung) und die tatsächlich Realität (objektive Betrachtung) strikte trennen sollten. Das die Vermischung der beiden zu einer verzerrten Realität führt.
    Als Chemiker und Chemielaborant, ist mir dieses Paradigma in Fleisch und Blut übergegangen. Mit der Folge, dass über die Jahre ein grossen Teil meiner Ausdrucksfähigkeit verloren und zu einer wohlstrukturierten aber weitgehend toten und trockenen Sprache übergegangen bin.

    Zweifellos bringt diese Ausdrucksweise auch gewisse Vorzüge mit sich. Sie ist so einheitlich, dass weniger Interpretation stattfinden kann. Wie ein Kochbuch kann es von Dir und mir gelesen werden und das Resultat unserer Bemühungen wird, sofern wir genügen mit Sprache vertraut sind und ein gewisses Geschick aufweisen, fast identisch sein.

    Die objektive Sprache bringt aus meiner Sicht aber grosse Gefahren mit sich. Sie kann dazu führen, dass Empathie unterbunden wird und wir mit kühlem Blick nur auf die Oberfläche der Dinge zu schauen Vermögen. Es ist wie schwimmen in einem See ohne abzutauchen.
    So wird uns z. B. im Militärdienst ein stereotyopisches und objektives Feindbild indoktriert. Und bei Schiessübungen wird auf Siluetten geschossen, die einem menschlichen Oberkörper gleichen. Mit nur einem Zweck: Der Objektifizierung vom Subjekten. Sollte tatsächlich einmal der Kriegsfall eintreffen wäre es höchst hinderlich, wenn Soldat*innen ihr gegenüber als emotionalen und sozialen Wesen mit Eltern, Kindern, Freunden, Partner*in, die ihn/sie lieben, wahrnehmen würde. Als jemand, der Dir und mir selber sehr ähnlich ist. Jemand der gerade auch Angst empfindet und eigentlich gar nicht kämpfen möchte. Könntest Du in in diesem Gefühl wirklich noch abdrücken? Über 80% können es ohne "Training" nicht.
    Wir haben in unserem inneren einen tiefen Wiederstand ein fühlendes und damit uns ähnliches Mitwesen zu töten. Vorallem denn, wenn Du ihm dabei noch in die Augen schauen müssen. Deshalb "externalisieren" wir solcherlei immer häufiger durch Maschinen (Drohnen, Bomben) oder Menschen, die eine bestimmte Tätigkeit professionell lernen und ausführen. Schlachter*innen sind ein glänzendes Beispiel für die professionelle Umwandlung von Subjekten (nichtmenschliche Tiere) zu Objekten (Wurst, Steak etc.). Eine "Dienstleistung", welche die meisten von uns nicht ausführen wollen und könnten oder dennoch häufig nutzen.

    Eine objektive Sprache bringt auch einen Verlust an Kreativität mit sich. Die wissenschaftliche Sprache ist sehr begrenzt und engt uns ein. Sie wirkt wie Schauklappen und verhindert damit Innovation.
    Es findet eine Entwertung der Kunst und Posie statt. Sie finden sich in der Kategorie "Freizeit" wieder und werden dadurch oft viel weniger wertvoll und wichtig gewertet, als eine wissenschaftliche Abhandlung. War die Philosophie einst eine Königsdisziplin, hat sie heute in unserem Alltag stark an praktischer Bedeutung verloren, dabei wäre es ungemein wichtig sie wieder stärker in unseren Leben und die Politik zu integrieren. Schliesslich sind Sinn und Werte für ein grossteil der Menschen sehr zentrale Lebensaspekte.
    Eine derart eingeengt und verkümmert Sprache birgt letztlich sogar grosse Gefahren für unsere Freiheit und Demokratie. Georg Orwell bringt dies in seinem Buch "1964" als sogenannte "Neusprache" sehr deutlich und passend zum Ausdruck. In ihr wird sogar das Denken an Wiederstand und Veränderung unmöglich, weil uns schlicht der Wortschatz fehlt.

    Wir neigen heute dazu in der Politik und in den Nachrichten dazu fast nur noch über Fakten zu debattieren. Fakten sind wichtig, zweifellos. Sie geben uns eine Orientierung und Hintergrundwissen bei Themen, die sich unserer Intuition entziehen. Doch ist ihre Stimme ohne die mitschwingenden Emotionen fast tonlos. Wir wissen inzwischen alle bestens was uns global mit dem dem gegenwärtigen Kurs droht oder bereits Realität ist. Die drohende Klimakatastrohe, das rapides Artensterben, 70 Milliarden Nutztiere die jährlich ausgebeutet werden, Menschen die wir für unseren Wohlstand ausbeuten oder die wir direkt an unseren Grenzen ertrinken lassen, sind nur einige Beispiele.
    Die Fakten zu diesen Themen sind alle da. Sie sind glasklar. Wir können sie prüfen, umdrehen und wir verfügen über unzählige Quellen, die uns Belege liefern. Aber sie berühren uns irgendwie nicht. Sie haben kein Macht. Es sind kalte Zahlen und Prognosen und wir tuen uns schwer damit mit sie in unser Leben zu integrieren. Sie sind uns "artfremd und schwer zu greifen. Der Mensch funktioniert scheinbar anders. Fakten sind eine Sprache, die wir zu produzieren gelernt haben und auch kognitiv zu verstehen. Wir haben aber grosse Mühe mit ihnen konstruktiv umzugehen.

    Weshalb ist das so? Ich glaube es ist letztlich die Angst vor Schmerz. Es ist unsere Überforderung mit Gefühlen umzugehen. Wir lernen rechnen, schreiben, lesen und das Objekt von dem Subjekt zu trennen. Was wir wir nicht lernen ist der Umgang mit Angst, Wut, Trauer und Freude.
    Deshalb halten wir den gegenwärtigen Kurs.
    Wir wissen und können es schlicht nicht besser.

    Auch mir geht es oft so. Verdrängen ist nicht nur negativ, sondern bietet uns auch einen Selbstschutz. Wenn wir all das Leid, das existiert ungefiltert durchleben müssten, würden wir wohl innert weniger Augenblicke wahnsinnig werden. Sich aber nur noch zu verstecken und zu verdrängen bringt uns an den globalen Abgrund. Zu fühlen birgt ein unglaubliches Potential und ist letztlich der Schlüssel für Veränderung.

    Stell Dir vor: Was wäre wenn wir lernen würden all diese Dinge zu spüren, die derzeit schieflaufen? Und sei es nur ein Teil davon.
    Wir könnten nicht mehr so weitermachen wie bisher. Es wäre zu schmerzvoll und es wäre wahrscheinlich auch gegen Deine und meine innere Überzeugung. Die Welt würde tatsächlich ganz anders aussehen wenn wir unsere Freude, Wut, Angst und Trauer öfters zulassen und leben würden. Wenn wir den Schmerz von anderen als unseren eigenen Schmerz wahrnehmen könnten.

    Und wisst Ihr was das beste daran ist? Zu fühlen bedeutet auch mehr Lebendigkeit, ein tieferes und erfüllenderes Erleben unsere Umwelt und Begegnungen. Es ist für mich als würde ich mich von Schwarz-Weiss Bild in ein farbiges Gemälde bewegen oder entdecken das der See in dem ich schwimme auch eine Tiefenebene besitzt.
    Diese Erfahrungen habe ich in den letzten in der Gestaltzeit gemacht und ich bin sehr dankbar dafür.

    Gestalt-Therapie/arbeit kann genau diesen Zugang schaffen und vertiefen. Deshalb möchte ich in den nächste drei Jahren lernen wie ich selber besser mit meinen eigenen Gefühlen umzugehen und auch wie andere Menschen dabei begleiten kann, an diesen Ort zu gelangen.
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