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  • Day 6

    Veränderungen im System

    April 3, 2021 in Germany ⋅ ❄️ 0 °C

    Der heutige Tag beginnt mit einer unglaublichen Fülle. Wir sitzen vor der Villa und der Himmel über uns gleicht einer leuchtenden, hellblauen Leinwand aus Krepppapier. Es ist einer jener Tage im Frühling oder Herbst, die ich über alles liebe. Ein leichter frischer Wind streicht über meine Haut während mich die Sonnen warm hält. Ein Tag an dem ich weder schwitze noch friere, sondern sich die Temperatur genau so einpendelt hat, dass ich versucht bin stundenlang faul draussen herumzuliegen und Sonnenlicht aufzutanken. Vor uns steht ein massives Stück eines wunderbar verzweigten Baumstumpfs auf dessen Flächen sich all die leckeren Speisen unseres Osterbrunchs präsentieren. Es gibt selbstgemachten Schokoladen- und Linsenaufstrich, frischer Apfelkuchen, aufgebackene Brötchen, Gemüseeintopf, gebratene Bananen und bunten Ostereiern. Das meiste davon wurde aus Containern gerettet. Die Stimmung gleicht dem Wetter und ist leicht und fröhlich. Gleichsam ist eine Achtsamkeit, Demut und Dankbarkeit für all die tollen Speisen und diesen einmaligen Ort zu verspüren.

    Karim sitzt neben mir. Er hat Politik-
    wissenschaften und Psychologie studiert und beschäftig sich oft und gerne mit Systemen und deren Veränderungsprozessen.
    Er beschreibt ein Modell über zwei Systeme, welche die Welt definieren, durch die wir uns bewegen.

    Zum einen das kulturelle System, das unsere direkte Umgebung widerspiegelt. Der Ort, die Menschen um uns, unsere Erziehung, unsere Erfahrungen, unser Umgang miteinander und mit uns selbst. Hier finden sich auch Glaubenssätze und Erwartungen wieder wie wir zu leben haben. Hier definiert sich, was sich geziemt und was nicht. Die "Spiele" die wir miteinander spielen, die Rollen und Masken, die wir tragen. Unser Verhalten und das unserer Verhalten der Umwelt auf uns. Es sind jene Dinge, zu welchen wir durch Achtsamkeit Zugriff erhalten und die wir direkt verändern können. Oder zumindest unsere Reaktion auf die äusseren Reize.
    Wir können sie durch eigene Entscheide massgeblich verändern.

    Daneben existiert das strukturelle System. Es liegt eine Ebene höher und umfasst den gesellschaftlichen und politischen Überwurf. Also z.B. den Zugang zu Ressourcen wie Bildung oder Privilegien wie Wahlrecht oder Privatbesitz. Es definiert die "Spielregeln" und auch wer bevorteilt oder benachteiligt wird. Missstände die darin auftauchen sind zumeist schwieriger zu erkennen, da dieses System eher träge ist und sich nur langsam wandelt. Vieles ist gewohnt und wird deshalb seltener hinterfragt.
    Das strukturelle System umfasst in gewisser Weide auch unser Denken und unsere Herangehensweise an Dinge und gibt vor wie Wirtschaft, Bildung, Gesundheitswesen, Politik, Religion und Arbeit aufgebaut und zu verstehen sind.
    Dieses System kann von einer Einzelperson zwar in Frage gestellt aber zumeist nicht umgestossen werden. Es sind de Machtträgerinnen und die Gesellschaft als ganzes, die sie definieren.

    Im kulturellen System rückt die Perspektiven jedes einzelnen Individiums stark ins Zentrum, während sich das strukturelle System sich auf historische Werte, Gesetze und Glaubenskonzepte stützt, die in der Mehrheit der Gesellschaft tief verankert sind. Es ist eine Art oberflächliches Puzzle, das sich aus den Einzelperspektiven bestehender und vergangener Generationen zusammensetzt.

    Viele Organisationen, die sich dem Systemwandel verschreiben, beziehen sich zumeist auf eine dieser Ebenen um ihre Ziele zu erreichen. So ist der Klimastreik primär an einer Änderung des strukturelle Systems interessiert. Also der Veränderung des Spielfeldes auf dem wir uns bewegen dürfen. Dies umfasst vorwiegend die politischen Ebene (Steuern, Gesetze usw.) während andere Organisationen wie z. B. Extinktion Rebellion ihren Fokus auf kulturelle Systeme legt, in dem wir unseren Umgang miteinander und mit unserer Umwelt verändern wollen.

    Entsprechend haben solcherlei Organisationen zwar dasselbe übergeordnete Ziel unterscheiden sich aber erheblich im Weg zur Lösung und der Art wie sie ein Problem angehen und an welcher Stelle sie das derzeitige Scheitern überhaupt erkennen.
    Es stellt sich nun die Frage welcher dieser Wege fruchtbarer ist. Verlangsamt sich der Prozess nicht ungemein wenn wir Veränderung vorwiegend in unser direkten Umgebung vorantreiben bevor wir die wirklich grossen Hebel der Politik in Bewegung setzten? Dauert eine Kuluränderung letztenendes nicht zu lange bei derart dringlichen Problemen?

    Oder auch umgekehrt: Was bringt es die Oberfäche eines Systems zu verändern, wenn ihr Innenleben noch auf den alten Struktur und Denkmustern beruht? Wäre es nicht neuer Wein in alten Schläuchen? Ein neues Bühnenbild mit alten Requisiten? Wunden, die mit einer dünnen neuen Haut überzogen wurden und nach kurzer Zeit erneut wieder aufzuplatzen drohen?

    Vor vielen Jahren habe ich meinem Lehrmeister Peter eine sehr ähnliche Frage gestellt. Damals hatte ich festgestellt, dass Systeme immer an ähnlichen Mustern scheitern. Ich hatte ihn also gefragt, was sich eigentlich Verändern muss, wenn wir ein gerechtes System erschaffen wollen, das zugleich nicht wieder in alte Muster verfällt. Peter hatte damals eine klare Meinung dazu: Es sind die Menschen, die sich ändern müssen.

    Was aber wenn wir einen Schritt zurückgehen. Wenn unsere Frage nicht primär darauf zielt, wie ein neues System aussehen könnte, sondern eher die Gründe zuerforscht, weshalb solche Muster auftreten und was für Bedürfnisse sich hinter Ängsten, Projektionen und Misstrauen verstecken. Was sind denn die Gründe unter der Oberfläche, welche uns und unsere Umwelt unglücklich und krank machen und zu den gegebenen Ungleichheiten führen. Es sind also viel eher Fragen der emotionalen und sozialen Natur, als jener der Mechanik.

    Ein weiterer möglicher Weg führt darüber, sich vor den Gedanken lösen, dass eine Utopie eine feste Gestalt haben muss. Gedanken und Ziele, die vor wenigen Jahrzehnten noch Utopien waren, sind heute Realität. Eine Realität, die gerade kippt. Die ersehnte neue Welt hat uns nicht ins ersehnte Paradies sondern eine Reihe von neuen Herausforderungen mit sich gebracht. Es wäre also gesünder und realistischer Veränderungen als fortwährender Prozess zu verstehen, als Wegrichtung aber nicht als festen Zielpunkt.
    Als Leuchtsterne können uns dafür Werte und Lebensinn eine Orientierung bieten. Sie verhindern, dass wir uns in einer Trennung über das "wie" verirren und führen zu Integration statt zu Separation. Es macht es auch für andere Menschen erheblich einfacher ihre Verhalten zu verändern, wenn sie erkennen, dass ihre derzeitige Handlungsweise ihrer ehemaligen Intension nicht mehr dienlich ist. Wir können uns über diesen Weg auch mit Menschen verbinden, die uns auf den ersten Blick sehr entfernt erscheinen. Er ist konstruktiv und nicht destruktiv, wie viele derzeitige Strategien.

    Gerade beim Thema Corona ist diese Polarisierung des "wie handeln müssen" sehr stark zu spüren. Wir übersehen dabei, das beide Lager ein ähnliches Ziel und damit verbunden eine ähnlich Intension verfolgen. Mit einem Dialog der auf diesen Gemeinsamkeiten fusst, wäre eine Lösung, die alle tragen können, um einiges denkbarer als mit dem momentanen Kurs der Diffamierung, der polarisiert und separiert.

    Und genau in dieser Weise, sollten wir auch andere globale Krisen, wie z. B. den Klimawandel oder die Globalisierung angehen, die bisweilen nur klare Gewinner/innen und Verlierer/innen kennt. Ich bin zutiefst überzeugt, das jeder Mensch Werte und Überzeugen pflegt, die ich und wir allw unterstützen können. Es ist am Ende nur die Frage des "wie", die wir anders beantworten.
    Ist es nicht augenscheinlich, dass ein Mensch, der sein Leben damit verbracht hat zu etwas beizutragen, von dem er sich eine bessere Welt erhofft hat, mit starkem Wiederstand reagiert, wenn wir ihm vorwerfen er habe damit unsere Existenz bedroht?

    Wäre es auch vielleicht auch ein Ansatz mehr im Jetzt statt in der Zukunft zu leben? Dann würden ich nicht irgendwann in einem Alptraum aufzuwachen und festzustellen das meine langfristigen Mühen und Leiden ins Gegenteil geführt haben. Wir könnten einfacher alte nicht mehr zeitgemässe Muster aufgeben und sie in neue konstruktive Handlungen transformieren.
    Eine bessere Welt würde schon heute entstehen, wenn wir die Vorstellung aufgeben, dass morgen das Paradies da sein könnte.

    Dank Karim habe ich heute viele Einsichten gewonnen, die ich in meinem zukünftigen Wirken als Aktivist, in der Politik, vorallem aber in Umgang mit Menschen und mir selber weiterhelfen können. Und ich hoffe ganz stark, dass auch die nächsten Tage, Wochen und Jahre immer solcherlei Impulse für mich bereithalten mögen.
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