• Steinerne Wucht und stille Wächter

    July 13 in France ⋅ ⛅ 27 °C

    Wir bogen um eine Ecke – und blieben stehen.

    Der Justizpalast von Rouen.
    Ein Gebäude, das nicht einfach nur da steht – es tritt auf.
    Steinerne Macht, ein Schachzug aus Gotik und Renaissance, breit gebaut und doch voller filigraner Spitzen, Friese und Statuen. Ein Palast der Gerechtigkeit, wie man ihn kaum irgendwo sonst in Frankreich findet. Und wahrscheinlich auch nirgendwo sonst so schön.

    Unsere Stimmen versiegten. Selbst Margriet, die immer etwas zu sagen wusste, sah nur stumm nach oben.
    Die Fassaden waren übersät mit Ornamenten, Wappen, grotesken Fratzen und Tierwesen. Golems nannte ich sie – und ich glaube, das meinte ich nicht ganz falsch ;0), auch wenn es technisch gesehen eher Gargoyles oder Chimären waren, steinerne Wächter, die sich zwischen Fabel und Realität verfangen haben.

    Hinter einem schmiedeeisernen Zaun entdeckten wir eine riesige Plexiglasscheibe, fast wie ein Schild – durchsichtig, aber präsent. Davor: vier Informationstafeln, die das Gebäude erklärten, seinen Ursprung, seine Wunden, seine Wandlung.

    Der Justizpalast, so erfuhren wir, wurde im 15. Jahrhundert als Sitz des Parlaments der Normandie erbaut – damals eine mächtige Regionalinstanz unter der Krone Frankreichs.
    Im Zweiten Weltkrieg wurde das Gebäude schwer beschädigt. Ein Bombenangriff der Alliierten 1944 ließ Teile des Dachs einstürzen und ganze Flügel zerstören. Der Wiederaufbau dauerte Jahrzehnte.
    Und doch – oder vielleicht gerade deshalb – steht der Palast heute wie ein Monument aus Mut und Geduld.
    Das Abendlicht glitt langsam über die Steinflächen. Es entlockte dem Gebäude Geheimnisse, die bei Tag verborgen bleiben: kleine Drachen, die sich aus Fenstersimsen winden, Gesichter in Kapitellen, florale Muster zwischen den Bögen.

    Ich trat näher an das Gitter, legte die Hände auf das warme Eisen.
    „Wenn Gerechtigkeit ein Gesicht hätte“, sagte ich leise, „dann vielleicht so eines.“

    Margriet nickte.
    „Und was für eins.“

    Wir standen noch eine Weile da. Beobachteten, staunten, schwiegen.

    Und dann gingen wir weiter. Rouen hatte noch mehr zu erzählen.
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