• Zucker, Zeit & Kuriositäten

    July 15 in France ⋅ ☁️ 18 °C

    Wir umrundeten die Kathedrale und entdeckten, kaum zu glauben, ein altes Fachwerkhaus, das sich fast schützend an die massiven Mauern schmiegt. Ein Spiel von Zeitaltern: filigranes Holz schmiegt sich an ehrwürdigen Stein – Rouen in materieller Metapher.

    Anschließend bogen wir in die Rue Saint-Romain, eine schmale, charmante Gasse direkt an der Kathedrale entlang.

    Geschichtsträchtig sind ihre Fassaden, oft in alten Pinseln von Pissarro, Boudin oder Dibdin festgehalten, heute stehen sie da und erzählen von Weberwerkstätten, Glasmalern – von Leben und Wandel im Altstadtherzen 

    Ein schrill quietschender Türgriff wies uns den Weg in ein schnuckeliges Dame-Café-Pâtisserie, klein, liebevoll, mit Pastelltönen gestrichen. Ich zog Margriet hinein. Flirrender Teigduft, gleißendes Glasgebäck – ich bestellte uns jeweils je eine Madeleine auf die Hand.

    Wir traten hinaus mit goldenen Muschelkuchen in der Hand. Ihre Wölbung, die feine Riffelstruktur – fast wie eine Miniatur an die Pilgermuscheln, die Richtung Santiago führen. 

    Margriet nahm eine Madeleine, schloss die Augen:
    „Weißt du, das ist so zart...“
    Ich nickte, und sie erzählte die Geschichte:

    Legendär wurde die Madeleine durch Madeleine Paulmier aus Commercy im 18. Jahrhundert. Sie bewährte ihr Familienrezept bei einem Bankett des Herzogs Stanislas von Lothringen – der Küchenchef war weggelaufen, also sprang Madeleine ein. Der Herzog war begeistert, benannte die kleinen Muschelkuchen nach ihr. Bald erreichten sie Versailles, dank König Louis XV. 

    Bald wurden sie überall verkauft: in Commercy als Massenspezialität – und bis heute ist ihr Name Synonym für Kindheitserinnerung:
    Bon Appétit.

    Margriet biss, lächelte:
    „Das ist wie ein Stück - Bon Appétit.“

    Wir gingen weiter – und da stand er: jener Kuriositätenladen, den wir bereits am Sonntagabend aus der Ferne gesehen hatten. Nun war er offen. Hinter uralten Fensterglas kommen ironische Antiquitäten, Tierdarstellungen aus Glas, viktorianische Masken, Trommeln aus Holz, geheimnisvolle kleine Figuren zum Vorschein – ein skurriler Fundus, so eigen wie Louvrens Nachbarschaftsläden. Rouener Locals beschreiben ihn als Ort zwischen Trödel und Wunderkabinett, den man nicht missen möchte.

    Zuerst zögerlich, dann neugierig, betraten wir den Laden. Jeder Winkel ein Scherenschnitt aus Phantasie. Wir kicherten bei einem Schild: „Objets trouvés – ou perdus“, die Preise waren leider utopisch wie für eine kleine kupferne Reliquiendose, die wie ein Kästchen für winzige Geheimnisse wirkte.

    Draußen atmete die Altstadt ihre ganze Melancholie: 227 denkmalgeschützte Gebäude erzählen vom mittelalterlichen Rouen, von Tuchhandel und industriellem Aufstieg – und von der Zerstörung im Kriegsjahr 1940, als fast ein Viertel in Rauch aufging.

    Doch viele Häuser wurden rekonstruiert – mit Fachwerk, Stein oder Backstein – heute wirken sie wie in einem Roman, der von Victor Hugo gefeiert wurde.

    Wir liefen weiter durch die Gassen, vorbei an überhängenden Balkonen, nassen Dachziegeln, winzigen Innenhöfen. Ich dachte an die Menschen, die hier lebten: Weberfamilien, Pilger, Gasthausbesitzer – Generationen, die das Leben in diesen Mauern fühlten. Die Altstadt war kein Museum – sie war noch lebendig.

    Margriet stoppt bei einem türlosen Hauseingang, schaut auf eine glatte Steinmauer.
    „Stell dir vor, hier wohnte einst ein Glasmaler…“
    „Und dort ein Tuchhändler.“
    Sie lachte:
    „Tücher und Glas – das prägt die Stadt.“

    Mit Madeleinekrümel in der Hand – unser ganz eigener Altstadtrundgang.
    Read more