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  • Day 280

    Zu den Haudegen nach Swanetien

    May 18, 2019 in Georgia ⋅ ⛅ 15 °C

    Gamarjoba ;-)

    Auf nach Swanetien. Es ist 7:45 Uhr. Wir stehen in Kutaisi auf der Straße vor dem Hostal und warten auf den Bus Nummer 1 zum Busbahnhof. Ein junger Mann gesellt sich zu uns und wir kommen ins Gespräch. Er ist Iraker und studiert hier. Im Bus erzählt er ein wenig von seinem Land – und lädt uns prompt zu sich nach Haus in den Irak ein. Beim Aussteigen erklärt er, dass er unsere Bustickets bezahlen will, da wir seine Gäste sein sollen und es sich so gehört. Wow – wir haben auf unserer Reise schon oft von Reisenden über den Iran und den Irak gehört und werden immer neugieriger auf die Länder, auf die Menschen dort, die Kultur und deren Sitten. Vielleicht irgendwann...

    Am Busbahnhof angekommen, erleben wir mal wieder wie Mashrutkafahrer mit Touristen ihren Profit steigern wollen – statt 25 Lari möchte der Fahrer 30 Lari pro Person für die direkte Fahrt nach 'Mestia', der Hauptstadt Swanetiens haben. Wir können den regulären Preis durchsetzen, wundern uns dann aber, dass wir in 'Zugdidi' umsteigen müssen... doch wieder irgendwie getrickst...

    Es wird eine witzige Fahrt – unser Ford Transit ist schon ein wenig in die Jahre gekommen – der Fahrer kann manchmal nur im 2. Gang fahren, wenn er überhaupt einen Gang rein kriegt. So ächzt der kleine Transit die Berge nach 'Mestia' hinauf... bis er nicht mehr weiter fährt, er braucht bei geöffneter Haube eine kleine Pause und etwas zu trinken, wonach er gestärkt den Weg bis nach 'Mestia' durchhält... Marco und ich hätten alle Wetten verloren: wir haben uns schon am Wegrand sitzen sehen.

    Auf dem Weg sehen wir sehr viele Kühe auf der Straße – viel mehr als in Nepal. Unsere Schlussfolgerung: hier müssen die Kühe nicht nur heilig, sondern noch viel heiliger sein! Doch auf Speisekarten sehen wir, dass dies nicht der Fall ist. Apropos heilig – man sieht hier Klöster noch und nöcher. Hier sind es also eher die Menschen, die heilig sind.

    'Mestia' liegt in Swanetien und Swanetien ist berühmt-berüchtigt! Hier wurden richtige „Haudegen“ geboren, die nicht lange fackelten! Das ging bis vor 20 Jahren noch so. Heute sieht man es noch an deren Baustil: in ganz Swanetien haben die Familien in fensterlosen Trutzburgen gelebt, die mit dem eigenen Wehrturm verbunden waren. Es gab ein ausgeklügeltes Geheimgangsystem, das die Wehrtürme miteinander verband, das allerdings auch nur die Männer des Hauses kannten, da die Frauen ja nach der Heirat in eine andere Trutzburg zogen und das Geheimnis dann mitgenommen hätten. Alles war ganz aus Stein gebaut, damit man sie nicht in Brand setzen konnte. In diesen Wehrtürmen konnten sich die Familien wenn es nötig war, mehrere Monate verschanzen und es war wohl immer wieder nötig: unten im Turm die Kühe und Hühner, dann ein Stockwerk für die Lebensmittel, dann die Männer, dann eines für die Frauen und Kinder. Selbst die Mongolen konnten dieses Völkchen nicht bezwingen. Bis die Russen kamen...

    Wenn es aber keinen Feind zum Verhauen gab, haben sich die Swanen wohl selbst die Köpfe eingeschlagen und die Blutrache wurde noch bis in die 90er Jahre praktiziert. Die Blutrache mit der Nachbarsippe konnte mehr Opfer fordern als ein Krieg mit Fremden. Schon Nachbars Hund einen Tritt zu versetzen, konnte der Grund für eine Kugel sein, genauso wie beleidigende Worte (deshalb sind Swanen sehr höflich, Dummkopf ist das schlimmste swanische Schimpfwort). Und dann ging’s los: Nach solch einer Beleidigung musste die Ehre durch den Tod des Übeltäters wiederhergestellt werden. Der wiederum natürlich auch gerächt werden musste, und so weiter. Die Blutrache war dabei keine persönliche Angelegenheit: Solange sie nicht ausgeführt war, spotteten die Jungen, zürnten die Alten, und die Ehefrauen verweigerten sich. Doch man konnte sich durch die Zahlung des „Zor“ von seiner Schuld freikaufen. Der Zor bestand aus Land, Tieren oder Waffen und wurde von einem Gericht festgelegt, das aus zwölf Verwandten des Totschlägers und 13 Angehörigen des Getöteten bestand. Dabei soll es nicht selten bei Gericht zu weiteren Toten gekommen sein.

    Unsere Wirtin erzählte aus der Zeit vor Saakashwillis Eingreifen. Sie arbeitete für das Rote Kreuz. Wurde in einem Dorf Hilfe angefordert, so musste das Rote Kreuz immer zuerst das Oberhaupt des Dorfes fragen, ob sie überhaupt helfen dürfen! Es war wohl eine richtige Mafia, mit Drogen, eigenen Gesetzen und kriminellste Methoden die eigene Überzeugung durchzusetzen – mit Gewalt und Waffen. Die Polizei hatte hier überhaupt keine Macht!

    Und in dieser beschaulichen Gegend der Gesetzlosigkeit hatte Saakaschwili (damaliger Präsident) die Idee, eine Touristenregion daraus zu machen – hat ein bisschen gedauert, hat aber geklappt: Swanetien ist die heute häufigst besuchte Region ganz Georgiens!

    Ein swanisches Sprichwort sagt: „Schlecht ist ein Weg, wenn der Wanderer abstürzt und seine Leiche wird nicht gefunden. Gut ist ein Weg, wenn der Wanderer abstürzt, aber seine Leiche gefunden wird und beerdigt werden kann. Ausgezeichnet ist ein Weg, von dem der Wanderer nicht abstürzt“. Demzufolge war der Pfad nach 'Ushguli' früher schlecht. Mittlerweile ist er mehr als ausgezeichnet ;-)

    Leider sind wir zu früh im Jahr angekommen. Unsere Idee, eine Mehrtageswanderung in den Ort 'Ushguli' zu machen, müssen wir auf den nächsten Georgienurlaub verschieben, da momentan noch zu viel Schnee liegt. Es gibt jedoch einige schöne Tageswanderungen. So wandern wir am ersten Tag zum Gipfelkreuz des 'Tskhakzasari' und weiter durch tiefen Schnee zu den verschneiten Koruldi-Seen und am zweiten Tag zum Chalaati-Gletscher. Der Ausblick auf die Berge des großen Kaukasus ist wunderschön!

    Am zweiten Tag lernen wir Eugen kennen: einen Hühnen aus der Ukraine, der jetzt in Georgien lebt, vor Kurzem geheiratet hat und alles mögliche arbeitet: im Hostal, als Tätowierer, in einer Bar, als Übersetzer oder als Tourguide. Es ist sehr interessant mit ihm zu sprechen. Wir treffen ihn beim Wandern und gegen zusammen zurück nach 'Mestia' und gemeinsam in ein kleines Restaurant, wo er uns die georgische Küche, die er auch toll findet, zeigt: Khinkalis, Auberginenröllchen mit Nusspesto, Käsetaschen, Kebab, Lobiani – hmmm wirklich lecker!!! Und alles auf seine Kosten. Nach mehreren Bieren wird er kurz melancholisch. Er erzählt ein wenig von seiner Zeit nach dem Krieg auf der Krim: er saß nur in einer Ecke. Bei jedem Geräusch hielt er panisch seine Hände so, als hielte er noch seine Waffe in den Händen. So was wie eine psychologische Betreuung gibt es da nicht. Heute ist er so froh, dass er wieder anders leben kann. Er wiederholt häufig Floskeln wie: „der Tag ist schön, ich hatte eine schöne Wanderung, gutes Essen und tolles Wetter“ oder „step by step“. In der Zeit, in der er in Batumi ein Hostal geführt hat, traf er häufig auf trinkfreudige Russen, die ihm erzählten, dass das mit der Krim ja alles toll lief und dass dort ja gar kein Krieg gewesen sei . Ufff! Alles toll? Zum Glück ist Eugen nicht auf den Mund gefallen und kontert in deutlichen Worten – er war selbst als Soldat dort im Krieg und sah Freunde sterben. Für uns ist das unbegreiflich: die russische Propaganda scheint super zu funktionieren! Hinzu kommt eine gute Portion Ignoranz und eine noch größere Portion Selbstverliebtheit und Egoismus. Das Verhältnis zwischen Georgiern und Russen ist ein sehr schwieriges und wir erleben häufig, wie unzufrieden die Georgier mit der Situation sind – verschieben die russischen Soldaten in Südossetien doch die Grenze täglich und setzen das ganze Land unter Druck. Die Georgier, die offen zu uns darüber gesprochen haben, haben Angst vor diesem übermächtigen Nachbarn und wollen auf gar keinen Fall ihre Eigenständigkeit wieder verlieren.

    Nichts desto trotz ist 'Mestia' ein toller Ort, mit einer mittelalterlichen Skyline von Sage und schreibe 42 Wehrtürmen, vor einer atemberaubenden Kulisse der höchsten Berge Georgiens.

    Nach 3 Tagen in einer komfortablen Unterkunft gelüstelt es uns wieder nach unserem Zelt. In unserem Reiseführer haben wir von 'Racha-Lechkhumi', einem Tal gleich südlich von Swanetien gelesen – es soll „die georgische Schweiz“ sein und noch nicht so „touristisch erschlossen“. Klingt doch super! Und beides stimmt. Letzteres hat aber auch zur Folge, dass wir a) keine Mashrutka finden, also laufen wir und wir b) eine spärlich eingerichtete Touristeninformation in einem dermaßen heruntergekommenen Haus im 1. Stock nicht ohne Hilfe Einheimischer finden, in der 3 nur Georgisch und Russisch sprechende Frauen miteinander klönen, essen und keine Ahnung von Tourismus haben – Wanderkarten gibt es nicht... und in unserer "online-Karte" ist auch nur die Straße als Verbindung zwischen den Ortschaften eingezeichnet. Na dann... noch schnell jeder ein Khatshapuri in die Hand und ab geht’s – bis kurz hinterm Ortsausgang... ab da können wir mit drei jungen georgischen Männern mitfahren :-) super!!!!

    An unserem Ziel „Utsera“ nach kurzer Fahrt angekommen, halten wir an einer Sulfurquelle und die drei Georgier zapfen sich etwas davon in ihre mitgebrachten Flaschen ab. Uns geben sie einen Schluck zum Probieren – dem Geschmack nach muss es wirklich super gesund sein... mir kommt es fast hoch!

    Utsera ist bekannt ist für die Mineralquellen. Eine französische Firma hatte Pläne, das Heilwasser nach Europa zu exportieren, scheiterte jedoch am Widerstand der Bevölkerung: die Einheimischen wollten natürlich weiter umsonst ihr Wasser trinken.

    Wir verabschieden uns von den drei Georgiern und suchen uns einen Zeltplatz außerhalb des Ortes – direkt am Fluss...wunderschön!

    Nach einem Rundgang durch den Ort wissen wir, was unser Reiseführer meinte:

    „Mach langsam – du bist in Racha! Das ist die Botschaft der 'Rachavelis' an ihre Besucher, und genau so genießt man diese abseits gelegene Bergregion am besten. Denn die Gemütlichkeit
    und Entspanntheit der Einheimischen ist legendär. Außer den rauschenden Bergflüssen hat es hier niemand eilig. In dieser Gegend ticken die Uhren anders.“

    Tristesse, Ruhe, nur Vögel zwitschern, nach Alkohol riechende ältere Männer auf der Straße, die wir nicht verstehen, keine jungen Menschen, dafür Hunde, Hühner und Schweine, viele leerstehende Häuser, alle Häuser mit großen Gärten zur Selbstversorgung, viele Bäume, enges und dunkles Tal, Sackgasse – das ist 'Utsera'. Uiuiui! Wir sind uns einig – hier könnten auch wir nicht dauerhaft leben!

    Früher kurierten sich Sowjetbürger in den 28 Quellen von ihren Magenproblemen, die klare und reine Bergluft tat Asthmatikern gut. Doch das Sanatorium ist seit Langem geschlossen – eine weitere Bauruine. Früher konnte man auch über die Ossetische Heerstraße über den Mamisoni-Pass nach Südossetien fahren – heute ist die Straße aufgrund des Konflikts mit Südossetien, oder eher gesagt den russischen Besatzern, seit Langem gesperrt – Sackgasse.

    Am nächsten Tag machen wir uns auf den Weg weiter das Tal hinauf, wo man die Berge des hohen Kaukasus sehen kann. Auch heute haben wir Glück: wir werden wieder mitgenommen – sogar bis nach 'Ghebi', am Ende des Tales! Hier hat sich das Tal geweitet – es gibt Platz für Felder und der Ort wirkt insgesamt jünger und geschäftiger. Am Ende unseres Rundganges dürfen wir noch die örtliche Schule besuchen und werden ins Lehrerzimmer gebracht. Hier beschreibt uns eine ältere Lehrerin mit einigen deutschen Worten den Ort und die Schule. An der Wand hängt eine aktuelle Landkarte Georgiens – Südossetien und Abschasien gehören darauf weiterhin zu Georgien. Die Realität sieht anders aus!

    Wir haben uns schon vorher gefragt, wie die Menschen in Abchasien oder Südossetien leben. Eugen, der Ukrainer, den wir in Mestia getroffen hatten, erzählte uns, dass seine Freundin Filme produziert und zu einer Dokumentation nach Südossetien einreiste (über Russland sei dies möglich). Hier filmte sie heimlich. Er beschrieb, dass sehr viele Menschen dort drogen- und alkoholabhängig seien und perspektivlos in den Tag hinein lebten. Am Ende der heimlichen Filmreise habe seine Freundin jedoch das Filmmaterial geklaut bekommen. Uns interessiert es sehr, wie die Menschen dort leben, weil wir es uns nicht vorstellen können – vielleicht finden wir ja eine Dokumentation? Mal suchen...

    Von 'Oni' aus fahren wir mit einer Mashrutka durch das wundervolle Rioni-Tal wieder zurück nach 'Kutaisi'. Hier wird erst mal Wäsche gewaschen, bevor es weiter geht!

    Viele Grüße
    Marco & Ariane
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