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  • Day 54

    Sarajevo - Stadt der Kontraste

    April 1, 2022 in Bosnia and Herzegovina ⋅ ☁️ 11 °C

    Die Stadt mit den vielen Gesichtern ist nun gesehen, sie ist erkundet und aufgesaugt. Aber zu erst musste die Wiedersehensfreude ausgeschöpft werden. Am Mittwoch kam Paul zur Mittagszeit in Sarajevo an und ich wartete am vereinbarten Treffpunkt mit meinem gut sichtbaren Mobil. Es war wirklich ein wunderbares Gefühl, sich in die Arme zu fallen. In diesem Schwebezustand sind wir zum Campingplatz, der gleichermaßen über der Stadt zu schweben schien. Was eine Aussicht! Es zog uns in die Stadt, um ein erstes Gefühl für sie zu bekommen und gönnten uns am ersten gemeinsamen Abend eine Pizza und Weinchen. Schon hier wurden uns die vielen Kontraste der Stadt bewusst: Kirchen neben Shoppingmalls, runter gekommene Häuser neben prächtigen Moscheen und alles irgendwie etwas grau. Der nächste Tag diente uns jedoch nicht dazu, näher in die Kultur einzutauchen, da das Mobil mal wieder Pflege brauchte und ich dabei helfende Hände dringend nötig hatte. Wir krochen also im Bad rum und versuchten die 2 undichten Stellen zu beheben. Wieder einmal half eine freundliche Begegnung dabei, die nötigen Utensilien beizusteuern. Der Campingbesitzer konnte mit wichtigen Schrauben aushelfen und so waren die Lecks am Abend verschlossen. Um den Blick auf die Stadt noch etwas weiter auszukosten gingen wir in den Sonnenuntergang spazieren und stellten schnell fest, dass der Wald mehr als Müllhalde dient und weniger als Naherholungsgebiet. Immer wieder ganz schön heftig, das so zusehen. Mir ist bewusst, dass wir als Industrienation mit keinem Finger auf irgendjemandem zeigen sollten, verschiffen wir unseren Müll einfach nach Indien oder Indonesien und Zack ist das Problem weg. Zumindest geht jedoch unsere Schulbildung so weit, dass wir es als falsch empfinden Fernseher, Kühlschränke oder Elektroartikel einfach im Wald abzukippen (so meine Hoffnung).

    Am nächsten Tag schien das Wetter ein wenig besser, denn leider regnete es unentwegt. Paul machte über „Free walking Tours“ Neno ausfindig, der uns 3h durch die Stadt führte, uns seine Geschichte und die der Stadt erzählte, die besten Köstlichkeiten präsentierte und sich viel Zeit für unsere Fragen nahm. Auf einmal wirkte die Stadt viel größer und zugänglicher, man bekam einen tiefen Einblick und die grauen Straßen erhielten durch Nenos Erzählungen leben. Er erzählt, dass in der Stadt über 80% Muslime leben aber es nicht mal unbedingt zeigen. Das heißt, dass nicht jede Frau ein Kopftuch trägt oder ein Gläubiger 5 mal am Tag betet. Neno selbst Muslim, bezeichnete sich auch als Agnostiker. Viele Menschen gehen weg aus der Stadt bzw. aus dem Land, es gibt zu wenig Perspektive und Förderung seitens des Staates. Drei Präsidenten müssen ja irgendwie finanziert werden und da bleibt wenig Geld für die Bevölkerung übrig. In Sarajevo sind 65% der jungen Menschen arbeitslos. Uns wird berichtet, dass Ausreiseland Nummer eins Deutschland ist, denn zB. wird ein medizinischer Abschluss bei uns anerkannt. Wirklich bitter für das Land: verlieren gut ausgebildete, motivierte junge Menschen. Aber in einem korrupten System ist es eine gute Ausbildung egal, jeder kann irgendwie aus der Nebentür heraus einen Verband anlegen und dafür das verlangen, was man für angemessen hält. Neno sagt, er bleibt, will lieber den Menschen die Stadt nah bringen und führt uns über die bekannte Altstadt, die auch gern von Einheimischen besucht wird. Allerdings heißt dieser Ort Baščaršija was eher dem Wort Markt nahe kommt. Dieser war zur Entstehung von Sarajevo, vor ca. 500 Jahren 4 mal so groß, sehr lebhaft und es wurde viel mit teurer Seide gehandelt. Jetzt wirkt er auch sehr einladend und bunt, es gibt hübsche Teppiche, Kaffeeservice und was es noch so an kleinen Nettigkeiten gibt. Wir bekommen durch seine Erzählungen ein Gefühl für die Gedankenwelt der Bosnier. So wie ich es schon mehrmals erlebt habe, ist die Gastfreundschaft ein wichtiger Bestandteil der Kultur. Deshalb werden bei Besuchen auch 3 Kaffee serviert: einer der dich willkommen heißt, einer der die Diskussionsrunde eröffnet und ein letzter der dich höflich bittet zu gehen. Die Freundlichkeit ist wohl auch eine Umgangsart, nach dem Krieg mit dem Schmerz, der Zerstörung und Teilung der Stadt umzugehen. Neno lässt uns an seinen Kindheitserlebnissen teilhaben, die er als 8 bis 12 Jähriger im Keller in Erinnerung hat. Dort gab es dann Schulunterricht und ständige Erschütterungen, sodass Silvester für ihn jedes Jahr schwierig ist. Aber er sagt auch, man muss weiter machen, auch im Krieg. Seine Mutter ist damals in Highheels zur Arbeit gelaufen, da sie der Meinung war, der Krieg könnte ihr das nicht nehmen. Auch hier wird uns berichtet, dass die Menschen Angst vor den Folgen aus der Ukraine haben und packen vorsichtshalber einen Notkoffer. Wenn man genau hinsieht, fallen einem rote Flecken hier und da in den Straßen auf. Die Sarajevo Roses sind ein Symbol für die schrecklichen Taten des Krieges und sollen die Verstorbenen an dieser Stelle nicht in Vergessenheit geraten lassen. Damals haben die Armee der bosnischen Serben (VRS), Einheiten der verbliebenen jugoslawischen Bundesarmee, die Stadt belagert und von oben beschossen und so zahlreichen ZivilistInnen ihr Leben genommen. Die von mir angenommenen Einschusslöcher in den Hauswänden resultieren demnach nicht aus Kugeln, sondern aus den Detonationen und dem darauf herumfliegenden Schutt.
    Eine wichtige Person für Sarajevo ist Gazi Husrev Beg. Der im 15. Jhr. bekannte Heeresführer prägte und schätze die Stadt ungemein, er erneuerte Moscheen, baute Markthallen und unterhielt eine der besten Universitäten für die damalige Zeit. Gefühlt ist in Sarajevo alles nach ihm benannt und die Gebäude werden mit seinem Namen verziert. Die erhaltenen Steinbauten wurden allerdings damals von den Meistern aus Dubrovnik mit lokalem Stein erbaut, da die sich mit diesem Handwerk bestens auskannten.
    Neno vergleicht die Stadt mit einer guten türkischen Suppe, viele Zutaten und Gewürze und immer am Brodeln. Wir sind ganz sehr dankbar für seine Zeit und müssen das gesagte erstmal sacken lassen. Mir fällt es schwer eine Beschreibung für Sarajevo zu finden. Ich hatte mal gehört, dass sie wunderschön sei aber diese Beschreibung würde ich nicht als passend empfinden. Sie ist spannend, multikulti, recht unaufgeregt, geprägt und scheint zu resignieren, da sich die Menschen in 30 Jahren nach dem Krieg mehr erhofft haben aber eine Veränderung leider nie eingetreten ist. Die Muezzingesänge sind absolut beeindruckend und ergreifen mich mit ihrer Schönheit jedes Mal. Der bosnische Kaffee, serviert in einem kleinen Kupfer Kännchen schmeckt mir sehr gut, die ortstypischen Sač (gefüllte Teigrollen) sind sehr lecker und ich mag die Kultur der vielen kleinen Zutaten auf einem Teller. Vor allem aber bin ich von den Menschen beeindruckt. Von dieser Herzlichkeit, Gastfreundlichkeit und Bescheidenheit möchte ich mir ganz viel mitnehmen.
    Nach diesem ohnehin wunderbaren Tag, stolperten wir auch noch in ein Straßenfest aus vielen Ballons. Uns wurde gesagt, dass das Ramadanfest eingeläutet wird und nun an jedem Tag ein Feuerwerk erklingt. Die Kinder erhielten nochmal eine Zuckertüte und ließen ihre Luftballons gen Himmel steigen, eine wirklich schöne Stimmung, die wir gern mit in die naheliegende Bar nahmen.
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