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  • Day 10

    Oaxaca - Día de Muertos

    November 2, 2022 in Mexico ⋅ ☀️ 25 °C

    Der Día de Muertos wird traditionell im südlichen Mexiko gefeiert und geht auf alte indigene Traditionen zurück. Während sich der Norden Mexikos eher am schaurigen Halloween orientiert, ist der Día de Muertos ein fröhlicher Tag, an dem die Toten zurück unter die Lebenden kehren und gemeinsamen mit ihnen tanzen, Musik hören und essen.

    Schon an unserem ersten Abend in Oaxaca geraten wir vor einer Kirche in eine bunte Party voller verkleideter Menschen, die zur Musik einer traditionellen Blaskapelle tanzen. Die meisten Frauen und Männer sind als Catrinas und Catrins verkleidet, also verstorbene, fein gekleidete Menschen. Wir sehen auch kleine Mädchen in langen Rüschenkleidern und Kronen auf den Häuptern, die ebenfalls bunte Augenhöhlen in Anlehnung an Totenköpfe tragen. Das Ganze sieht bizarr und gleichzeitig sehr schön aus. Es gibt aber nicht nur Catrinas und Catrins: auch zwei Dinosaurier tanzen im Rhythmus der Blasmusik und ein als Papst verkleideter Geselle hält den Teufel im Arm und ein Bier in der Hand.

    Oaxaca ist bunt und geschmückt und vibriert geradezu vor Freude über den Tag der Toten. Die Straßen sind voll mit Girlanden, deren bunte Blätter im heißen Sommerwind flattern. Jede Eingangstür ist über und über mit Cempasúchil geschmückt, jenen leuchtend orangenen Blüten, die den Verstorbenen den Weg in die Häuser ihrer Nachfahren weisen sollen. Nicht selten findet man daneben Skelett-Figuren aus Pappmaché, die die Vorbeiziehenden mit winkenden Gesten grüßen.

    Auf den Hauptstraßen bieten die Händlerinnen und Händler neben ihrer alltäglichen Ware auch Catrina-Make-up an. Auch Joe und ich lassen uns schminken, ehe wir in die Nacht eintauchen. Es herrscht eine Stimmung ähnlich wie bei uns am Kölner Karneval, denn heute um Mitternacht kehren die Verstorbenen zurück und je dunkler es wird und je mehr Catrins und Catrinas uns im Schatten der Häuserwände begegnen, umso mehr kann man meinen, dass sie gerade wirklich unter uns sind. An jeder Ecke spielt eine Blaskapelle und immer wieder bilden sich spontane Umzüge, bei denen man mitgehen kann.

    „Hey“, ruft uns ein Mann im Anzug mit einem riesigen Pappmaché Totenkopf entgegen, als wir über einen der Plätze spazieren, „Wollt ihr heiraten?“
    „Willst du nochmal?“, frage ich Joe und er zieht mich schweigend zum improvisierten Altar.
    Und so versprechen wir auf Spanisch im Beisein der Lebenden und der Toten, uns zu lieben und zu ehren, im diesen und im nachfolgenden Leben, jetzt und in alle Ewigkeit. Es gibt einen improvisierten Trauschein, der die Ehe besiegelt, und dann schießen wir mit unserem Standesbeamten aus dem Jenseits Fotos.

    Tino selber hat noch nie eine Art Präsenz verspürt, verrät er uns, als wir zu später Stunde an seinem Esstisch sitzen und gemeinsam Mezcal trinken. Er glaubt, die Rückkehr der Verstorbenen sei mehr in der eigenen Erinnerung verankert als in einer tatsächlichen spirituellen Begegnung. Doch auch in seinem Haus steht ein Altar mit Bildern seiner verstorbenen Familienmitglieder, zwischen dessen Blütenblättern Bierdosen und Obst als Gruß ins Jenseits ausgelegt sind. Und als seine Tochter Silwana und ihre Freundin gemeinsam mit Joe und mir Fotos schießen wollen, stellen wir uns auf Wunsch der beiden neben dem Altar auf. Schönes Fotomotiv hin oder her: hier werden die Großmütter und Großväter Teil unseres Abends und kehren in unsere Mitte zurück.

    Nach mexikanischem Glauben weilen die Verstorbenen ganze vierundzwanzig Stunden unter uns. Und so zischen die ganze Nacht hindurch Raketen in den Himmel und immer wieder zieht eine Blaskapelle durch die Straßen. Als sie auch am nächsten Vormittag nicht müde werden, die immer wieder gleichen Lieder zu spielen, gehen Joe und ich auf die Suche und finden zwei Straßen und einen Fluss weiter etwa fünfzehn Mexikaner beim Musikspiel vor. Ein paar Teenager zünden daneben Raketen an. Wir schauen uns das Schauspiel keine zwei Minuten an, da kommen zwei Herren auf uns zu. Ersterer drückt Joe ein Schnapsglas in die Hand, der zweite schenkt aus einer alten Plastik-Wasserflasche Mezcal ein. Das Glas wird an mich weitergereicht und während ich den Schnaps trinke werden wir beide zum verweilen eingeladen, was wir mit einer improvisierten Ausrede ausschlagen, da der Mezcal die Schärfe von Benzin hat.

    „Oh, macht euch keine Sorgen wegen dem ungewaschenen Schnapsglas!“, sagt Aneira, als wir ihr von unserer Begegnung berichten, „Mezcal heilt alles!“

    Später am Tag besuchen Joe und ich den Friedhof von Oaxaca. Die Gräber hier bestehen hauptsächlich aus kargen Steinplatten mit reich verzierten Kreuzen, auf denen ab und an Bilder der Verstorbenen angebracht sind. Fast jeder Quadratzentimeter des Friedhofs wird als Grabfläche genutzt. Die Gräber und Gruften liegen so eng beieinander, dass man abseits der wenigen Hauptwege nur schwer dazwischen hindurch kommt. Heute sind die eher einfarbigen Steinplatten mit leuchtenden orangen und lilafarbenen Blumen geschmückt. Das Blütenmeer stricht in all der Tristesse ins Auge. Und die Grabplatten selber dienen als Sitzfläche und Picknicktisch für die Familien, die es sich mit Musik, Essen und Getränken wie bei einem Grillabend gemütlich gemacht haben. Hier und da spielt gar jemand selbst Gitarre, ansonsten helfen mitgebrachte Musikboxen aus. Es ist schon verrückt, wie man im Tod dann neben jemand anderem liegt, zu dem man im Leben wahrscheinlich keinen Bezug hatte, und die Nachfahren an diesem Ort zusammen finden wie zufällig zusammen gewürfelte Nachbarn in einem Wohnhaus. So entstehen neue Verbindungen an einem Ort, der sonst nur der Erinnerung dient.

    In all dem fröhlichen Treiben sehen wir jedoch auch ein Pärchen mittleren Alters, das auf einer Bank vor einem Grab sitzt. Die Gitarre liegt auf dem Schoß des Mannes, aber anstatt zu spielen hält er die Frau im Arm und beide weinen sie stumme Tränen. Ein paar Meter abseits entdecken wir eine Gruft, die mit Motiven aus dem Kinderfilm „Coco“ verziert sind, in dem der Tag der Toten zentrales Thema ist. „Schau mal“, sage ich, „was für eine schöne…“ und im selben Moment wird mir klar, warum Kindermotive ausgewählt wurden und dass hier kein Erwachsener bestattet wurde.

    Der Tod kann uns alle zu jedem Zeitpunkt unseres Lebens treffen. Auch wenn wir diese Tatsache gerne verdrängen, weil Wahrscheinlichkeiten uns Sicherheit vorgaukeln, gibt es doch keine Garantie. Umso tröstlicher ist es, ihn als einen Übergang in eine andere Existenz zu betrachten, die einschneidend, aber nicht endgültig ist.

    In Oaxaca selbst kehrt an diesem Abend Ruhe ein. Nach Tagen der Vorfreude, bei denen zu jeder Tages- und Nachtzeit Raketen gezündet wurden, die mit ohrenbetäubenden Knallen explodiert sind und wir fast jeden Morgen noch vor Sonnenaufgang von einer umherziehenden Blaskapelle geweckt wurden, ist die Stille fast ungewohnt. Auch für uns schlägt das Ende unseres Homestays an. Nach nur fünf Tagen fühlen wir uns als fester Bestandteil der Familie. Wir haben nicht nur gemeinsam das Haus geteilt, wir haben auch gemeinsam gefeiert, gegessen und reichlich Mezcal getrunken.
    „Wir werden uns wiedersehen!“, prophezeit Aneira zum Abschied und schließt uns fest in ihre Arme.
    „Und wir haben noch ein Geschenk für euch“, sagt Tino, ehe er uns zum Busbahnhof fährt, und überreicht uns eine Flasche Mezcal. „Für Magenschmerzen. Denn ihr wisst ja…“
    „Mezcal heilt alles“, sagen wir, sichtlich ergriffen, und schließen uns in die Arme.
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