Lateinamerika

October 2022 - January 2023
A 71-day adventure by Anna Maria & Joe Read more
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  • Day 1

    Los geht's

    October 24, 2022 in Germany ⋅ ☁️ 17 °C

    Wir starten unsere Reise in Frankfurt. Von hier geht es nach Madrid und von da aus direkt nach Mexiko-Stadt. Joe hat noch genau 14 Flugstunden und 45 Minuten Zeit, um fließend Spanisch zu lernen, wie er es seit Januar verkündet. Ich schätze, er wird kurz vor der Landung mal eben im Wörterbuch blättern, das er aus meinem Regal gezogen hat. Bisher hat er seinen Wortschatz von "Tengo un coche blanco" auf "Dónde?" und "Viva la México" erweitert. Ich lasse mich angesichts dieser Sprachgewandtheit weiter überraschen und erwarte Großes.Read more

  • Day 3

    Teotihuacán

    October 26, 2022 in Mexico ⋅ ⛅ 23 °C

    Am ersten Tag in Mexiko-Stadt hatten wir trotz ausreichend Schlaf während des Fluges beide mit Jetlag zu kämpfen. Ab drei Uhr nachmittags konnten wir unseren Gehirnen trotz strahlendem Sonnenschein erzählen was wir wollten - sie haben fleißig Melatonin ausgeschüttet und uns in einen Zustand versetzt wie man ihn sonst nur nach diversen alkoholischen Getränken um vier Uhr morgens kennt. Um acht Uhr abends sind wir in einen totenähnlichen Tiefschlaf versunken und um sieben Uhr am nächsten Morgen saßen wir wieder quietschfidel am Frühstückstisch zwischen lauter frühstückenden Hotelmitarbeitern, die so früh nicht mit Gästen gerechnet hatten.

    Eine Stunde später standen wir für unseren ersten großen Ausflug gewappnet am vereinbarten Abholpunkt - heute ging es nach Teotihuacán, wo eine Sonnenpyramide, eine Mondpyramide und die Pyramide einer Gottheit, deren Namen wir weder schreiben noch aussprechen können, auf uns warteten. Zwanzig Minuten vor dem vereinbarten Abholzeitpunkt erhielt Joe dann die Nachricht, dass der Wagen soeben ohne uns abgefahren wäre. Wie das denn sein könne, erwiderte er, wo wir doch beide zwanzig Minuten zu früh am vereinbarten Treffpunkt stünden. Ja, sie hätten uns heute Nacht geschrieben, dass sie die Uhrzeit geändert hätten. Okay, danke.

    Per Uber haben wir den letzten Abholpunkt angefahren und sind prompt in die mexikanische Rush-Hour geraten. Im Schneckentempo ging es so langsam voran, dass ich dem Fahrer irgendwann gefragt habe, ob er uns eben am Straßenrand raus lassen kann, damit wir den Bus noch zu Fuß erwischen. Der Plan ist aufgegangen und wir konnten uns zurücklehnen und erstmal entspannen.

    Der erste Stopp war ein archäologischer Park, wo verschiedene Grundmauern bewundert werden konnten. Über allem thronte eine katholische Kirche, in der ein Mönch in einem gläsernen Sarg lag.
    "Oh bitte, sag mir, dass der nicht echt ist!", fuhr es mir beim Anblick über die Lippen.
    Joe ist dann kurz gucken gegangen und konnte seinen Qualitätscheck mit "Nee, ist 'ne Statue", abschließen.

    Bevor wir zu unserem eigentlichen Ziel, Teotihuacán, kamen, gab es noch eine kurze Shopping-Tour in einem Laden, wo uns Kunstwerke aus Obsidian vorgestellt wurden. Obsidian ist eigentlich schwarz, aber je nachdem aus welcher Tiefe man es holt kann es bei Nässe rot, silbern, golden oder sogar in Regenbogenfarben schimmern. Besonders interessant fanden wir, dass man mit geschliffenen Obsidian Steinen in die Sonne gucken und Sonnenfinsternisse beobachten kann. Es gab auch reichlich Tequila zu trinken und wir haben viele neue Trinksprüche gelernt, aber niemand war aufdringlich, dass wir etwas zu kaufen hätten. Tatsächlich hätte ich gerne etwas goldenen Obsidian mitgenommen, aber es gab keine einzelnen Steine zu kaufen und die Vorstellung, eine mittelgroße Figur noch acht Wochen mit mir herum tragen zu müssen, hat mich etwas abgeschreckt.

    Dann endlich ging es nach Teotihuacán. Diese Stätte wurde ca. 100 vor Christus gegründet und knappe 700 Jahre später wieder verlassen. Heute kann man noch die Ruinen bewundern, wozu besonders die drei Pyramiden zählen. Davon ist die Sonnenpyramide wohl am beeindruckendsten. Wir hätten nie gedacht, dass sie so hoch ist. Inmitten all der verfallenen Grundrisse wirkt sie total surreal. Leider kann man die Sonnen- und die Mond-Pyramide nicht mehr besteigen. Offiziell ist "Corona" der Grund, aber inoffiziell hat die Regierung einfach Angst, dass die Leute sich auf den schmalen Stufen das Genick brechen, vertraute unser Guide Antonio uns an. Und das können wir durchaus nachvollziehen: die Stufen sind schmal und uneben und die Sonne brennt in der Mittagszeit so unbarmherzig vom Himmel, dass einem schnell mal schwindelig werden kann.

    In unserer Reisegruppe hatten wir drei Experten, die es völlig in Ordnung fanden, zu jedem verabredeten Treffpunkt zu spät zu erscheinen. Das müssen diese berühmten Kinder sein, deren Mütter ihnen früher die Klodeckel warmgeföhnt haben, ehe sie sich zum Geschäft hingesetzt haben. Scheinbar denken sie heute, dass die Welt ihnen gehört und alles und jeder Rücksicht auf sie nimmt. Wegen der vielen Zeitverzögerungen haben wir erst mit reichlich Verspätung am dritten Punkt, der Basilika Guadalupe, an. Mittlerweile machte sich auch der Jetlag, bei mir zumindest, wieder bemerkbar. Kaum dass wir ankamen, wurde auch schon eine der Hauptattraktionen, der Park mit den Springbrunnen, geschlossen. Also saßen wir nach einem kurzen Rundgang Dreiviertelstunde herum und warteten darauf, dass die Tour zu Ende ging.

    Abends kamen wir dann in den Feierabendverkehr, sodass wir erst gegen Acht wieder zuhause waren. Es ging kurz ins Hotel zum Händewaschen und dann direkt in einen der vielen Tacoläden. Beim Essen hat ein Sänger über die Gäste des Ladens gerappt. Wir haben leider nicht viel verstanden und freundlich gelächelt, als es um uns ging, während wir vermutlich beleidigt wurden. Direkt danach sind wir beide wieder ins Bett gefallen.

    Heute lassen wir den Tag ruhig in einem Buchladen mit Dachterrassen-Café angehen. Später schauen wir uns Mexiko-Stadt an und sind gespannt, was uns erwartet.
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  • Day 5

    Mexiko-Stadt

    October 28, 2022 in Mexico ⋅ ⛅ 23 °C

    "Guck mal", sagt Joe beim Frühstück, "Jetzt weiß ich schon, dass Spiegeleier 'Huevos Fritos' sind. Jetzt kann ich überall problemlos frühstücken."
    Wir sitzen in einer kleinen Bar auf wackeligen Stühlen und beobachten den Markt, der sich auf der anderen Straßenseite aufbaut. Es gibt Schmuck, Haarbänder und jede Menge Streetfood. Bereits am frühen Morgen riecht es nach gebratenem Fleisch, Zwiebeln und Hühnchen.

    Das ist etwas, das ich an Joe wirklich bewundere: er schlägt sich überall durch und bleibt dabei stets optimistisch. Während ich Spanisch-Auffrischungskurse besucht und Vokabeln gelernt habe, ist er gestern in einen mexikanischen Handyladen spaziert und hat sich mit den Worten "Necesito Sim-Carta!" eine lokale Sim-Karte besorgt.

    Mexiko-Stadt bereitet sich langsam auf den Tag der Toten vor. Überall findet man die leuchtend orangen Dahlien, die den Toten traditionell den Weg ins Haus ihrer Familie weisen sollen. In fast jedem Restaurant und Hotel sind bunte Altäre mit Bildern verstorbener Persönlichkeiten aufgestellt. Unser Reiseführer Antonio erzählte auf dem Weg nach Teotihuacán, dass er auf dem Altar Schokolade für seinen verstorbenen Vater auslegt und sich um Mitternacht mit den Worten "Bis nächstes Jahr" von ihm verabschiedet und das Fenster öffnet. Das Fest scheint manch einem makabrer zu erscheinen, denn es ist befremdlich, sich mit seiner eigenen Vergänglichkeit auseinander zu setzen. Hier aber scheinen viele zu glauben, dass ein Großteil des Daseins aus dem Verstorben-Sein besteht. Und wir finden die Vorstellung, dass einmal im Jahr alle Verstorbenen zurückkommen, noch tröstlicher als die Idee, sich (wenn überhaupt) erst am Ende des Lebens wiederzusehen. In Deutschland wird die eigene Vergänglichkeit geleugnet, Verstorbene werden meist totgeschwiegen aus Angst, alte Wunden aufzureißen. Hier kehren sie einmal im Jahr ins Leben zurück und sind Teil von uns.

    Unser Zimmer ist klein aber fein und modern eingerichtet. Nach nur drei Tagen vermisse ich eine eigene Decke, insbesondere wenn nachts wieder mit einem Ruck mein schön eingerichtetes Kuschelnest zerstört wird. Einziger Nachteil des Hotels ist, das fast alle Zimmer zum Treppenhaus ausgerichtet sind und es deswegen sehr hellhörig ist (insbesondere, weil von morgens um 7 bis abends um 10 Musik läuft). Ich behaupte deswegen, das Hotel sei ein ehemaliger Knast, dessen Zellen nun aufpoliert wurden. Joe sagt, selbst ein mexikanischer Knast hätte Fenster.

    Die meisten Leute hier sprechen so gut Englisch wie wir Spanisch und es ist immer erfolgversprechender es auf Spanisch zu versuchen, auch wenn man manchmal was anderes bekommt, als man ursprünglich wollte. Heikel ist es bisher nur einmal kurz am Zoll geworden, als ich dem Zollbeamten erzählt habe, Joe hätte zwei Laptops dabei, ich aber in Wahrheit uns beide meinte. Da hätte ich ihn um ein Haar mal aus Versehen verhaften lassen. Grammatik, so wichtig.

    Egal wen man hier trifft, alle verabschieden sich mit "Hasta luego", also "Bis später". Das hat uns am Anfang ein bisschen irritiert, weil wir uns gefragt haben, wann im Leben wir der Cabin Crew von Aeromexiko beispielsweise nochmal begegnen sollen.

    Viele Menschen haben Hunde, die sie morgens an der Leine spazieren führen. Genauso viele frei streunende Hunde treffen sich abends in Rudeln, beschnuppern einander und ziehen durch die Straßen und wir vermuten, dass sie über die angeleinten Hunde in ihren Halloween-Pullöverchen lachen.

    Wann immer man Hunger hat, kann man sich an einem der vielen Streetfood-Stände für ein paar Pesos einen Taco-Snack holen. Der wird dann in einer Plastikschale serviert, wo eine Serviette die notwendigen Hygienebedingungen wieder herstellt. Ist man fertig, gibt man die Plastikschale einfach zurück, wo sie einmal kurz ausgewischt und an den nächsten Hungrigen weitergereicht wird.
    Heute ist Joe allein los spaziert, um sich bei Jenni um die Ecke einen Taco zu holen. Zusätzlich zum Taco hat sie ihn aufgefordert, in ihr gerade frisch zubereitetes Brötchen zu beißen.
    „Du hast bei einer Fremden vom Brötchen abgebissen?“, hab’ ich ungläubig gefragt, als er mir davon erzählt hat.
    „Ja, die wollte das so!“, war seine Antwort, „Die fand das selber so lecker, dass ich probieren sollte. Dann hat sie gelacht und mir ‘ne Serviette gegeben.“

    Taco-Stände sind nicht nur lecker, man kommt auch immer wieder mit Leuten ins Gespräch. Gestern haben wir Miguel kennengelernt, der uns unbedingt das Goethe-Institut zeigen wollte. Wir sollen vorsichtig sein in Mexiko-City, ermahnte er uns immer wieder, und auf gar keinen Fall mit Fremden mitgehen, während wir ihm durch die dämmrige Stadt folgten.
    Im Goethe-Institut selber fand eine Party statt, bei der es aber eher darum ging, uns auf die Umweltverschmutzung aufmerksam zu machen, anstatt das tatsächlich gefeiert wurde. Dazu sollten wir Plastikmüll wie bei einer Losbude in Netze werfen. So ganz verstanden haben wir den Sinn der Aktion nicht, was aber sicherlich auch an der Sprachbarriere gelegen haben kann.

    Es gibt hier keine Straßenlinien und nur wenige Fußgängerampeln. Anfangs sind wir immer dann gegangen, wenn der Rest los geht. Mittlerweile haben wir verstanden, dass man immer parallel zum Verkehr laufen muss, der trotz der wenigen Regeln nicht weniger schlecht funktioniert als in Deutschland. Aufpassen muss man lediglich, dass man nicht versehentlich in ein lose herunter baumelndes Stromkabel läuft, wie es Joe vorgestern in der Dämmerung beinahe passiert wäre.

    Alles in allem haben wir uns gut eingelebt und fühlen uns pudelwohl. Es erscheint beinahe unwirklich, dass wir diese neue Realität morgen schon wieder verlassen und uns auf den Weg nach Oaxaca machen. Vorher aber schauen wir uns den Lucha Libre, das mexikanische Wrestling, an. Hierzu morgen mehr.
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  • Day 5

    Lucha Libre

    October 28, 2022 in Mexico ⋅ ⛅ 23 °C

    Am Abend finden wir uns in der Arena des Lucha Libre wieder. Lucha Libre ist mexikanisches Wrestling und eine der beliebtesten Sportarten hier. Deshalb wollten wir uns das Spektakel auf keinen Fall entgehen lassen. Die Luchadores, also die Wrestler, tragen allesamt Masken, die ihre Gesichter verdecken. Es gilt als große Schande, wenn ein Luchador während des Kampfes seine Maske verliert und in der Arena sein Gesicht offenbart. Manche Luchadores werden sogar mit ihren Masken bestattet, damit ihre wahre Identität auch nach ihrem Tod ein Geheimnis bleibt.

    Wir sind pünktlich vor Ort und die einzigen in unserem Block. Mit einem großen Bier in der Hand schauen wir dabei zu, wie die Arena sich nach und nach füllt. Vor uns nimmt eine Familie mit einem Neugeborenen Platz. Die andere Tochter trägt eine Maske und einen goldenen Umhang. Damit ist sie nicht die Einzige: auch viele Zuschauer verbergen ihre Gesichter hinter Masken.

    Der erste Kampf findet zwischen Frauen statt und wirkt auf uns sehr gestellt und einstudiert. Langsam füllt sich die Arena. Die meisten Besucher trinken Bier, dessen Becher ein roter, klebriger Rand ziert. Dabei handelt es sich um eine scharfe Chili Paste. Das irritiert uns nicht nur, weil es gegen das deutsche Reinheitsgebot verstößt, es sieht auch einfach richtig eklig aus.

    Auf die Frauen folgt eine Männergruppe. Heute tritt Titelverteidiger „El Místico“ mit seinen Freunden gegen seinen Herausforderer „El Último Guerrero“ mit dessen zwielichtiger Gang an. Wir verstehen anhand des emotional aufgeladenen Gebrülls um uns herum schnell, dass es ganz klar einen Guten und einen Bösen gibt.
    „HUUUUURENSOOOOHN!“, brüllt die Mutter mit dem Neugeborenen im Arm Último Guerrero entgegen und alle, Kinder wie Erwachsene, lachen und stimmen zu.

    Die Kämpfe der Männer sehen etwas weniger gestellt aus und wir sind beeindruckt von den vielen Stunts, aber nach etwa zwei Stunden haben wir genug gesehen und suchen, zum Unverständnis unser Chili-Bier trinkenden Nachbarn, das Weite.

    Unsere Gastfamilie in Oaxaca (hierzu später mehr), sagt, dass El Místico einer der bekanntesten Luchadores ist. Joe möchte das Spektakel nicht missen, findet aber, dass einmal reicht. Und ich würde gerne mal einen richtigen Boxkampf besuchen, bei dem das Ende nicht feststeht. Denn auch wenn der „Hurensohn“ Guerrero den Titel am Ende geholt hat ist doch klar, wie das Spektakel bei der Revanche kommende Woche ausgehen wird.
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  • Day 6

    Ankunft in Oaxaca - Mi casa es tu casa

    October 29, 2022 in Mexico ⋅ ⛅ 24 °C

    In Oaxaca probieren wir unseren ersten Homestay aus und schlafen bei Tino und Aneira, die zusammen mit ihrer Tochter etwas außerhalb des Zentrums leben. Nur Tino spricht ein bisschen Englisch, ist aber bei unserer Ankunft am Bus Terminal nicht da, weshalb seine Tochter Silwana uns abholt. Wir werden sowohl von ihr als auch von Aneira herzlich begrüßt. Aneira lädt uns sofort ein, mit ihnen in die Stadt zu fahren, wo ein Konzert stattfindet. Wir nehmen die Einladung gerne an. Bei der Abfahrt stellen wir allerdings fest, dass Aneira und Silwana sich sehr schick gemacht haben. Joe trägt wie immer Jeans und Shirt, ich in Ermangelung frischer Wäsche seine Jeans und ein weißes T-Shirt. Aneira sagt aber, das sei kein Problem und geht voran durch die sandsteinfarbenen Straßen, die im Dämmerlicht warm leuchten. Am Seiteneingang eines Gebäudes steht eine Gruppe von Musikern in altertümlichen Kostümen. Aneira spricht einen von ihnen an, der uns durch die schmalen Tür winkt. Einer der Sicherheitsmänner spricht sie an. Wir verstehen nicht viel außer der Frage, ob wir Tickets hätten, woraufhin Aneira abwinkt, und das wir bezahlen müssen, wenn wir ins das Konzert wollen.
    „Ja, aber die sind doch Familie!“, sagt der fremde Musiker und schleust uns ohne weiteres ein.
    „Und ihr seid, seid ihr auch Familie?!“, fragt der Sicherheitsmann Joe und mich.
    „Ja, natürlich!“, ruft Aneira von den Treppen über uns und wir hasten ihr eilig hinterher.
    Wir finden uns im Backstage Bereich wieder, wo es vor Musikern in bunten Kostümen nur so wimmelt. Aneira führt uns zielsicher an der Technik vorbei hinter die Bühne. Spätestens jetzt ist uns klar, dass wir uns gerade illegal in ein Konzert schleichen.
    „Das ist hier keine normale Vorgehensweise“, raunt Silwana mir zu.
    Aneira späht währenddessen in den voll besetzen Zuschauerraum. Ein Mitarbeiter nimmt sich unserer an und führt uns in die erste Etage, öffnet einzelne Türen zu edlen Logen, wo jedoch alle Plätze besetzt sind. In der zweiten Etage werden wir schließlich fündig und nehmen in einem alten Opernsaal Platz, den man sonst nur durch Führungen kennt. Die Decke ist handbemalt, die Balustrade viel zu niedrig für heutige Sicherheitsstandards. Die Möbel sind ein bisschen abgewetzt, aber gemütlich. Auf der Bühne steht eine der Musiker-Gruppen und spielt auf Gitarren. Dazu werden Fahnen geschwungen und getanzt. Es ist ein Wettbewerb zwischen verschiedenen Musikergruppen, bei denen auch Tino auftritt. Es ist kein Konzert, das wir uns in Deutschland angucken würden, aber hier macht es Spaß, in die fremde Kultur einzutauchen und die Musik einfach auf sich wirken zu lassen.

    Später gehen wir alle zusammen essen im Lieblingsrestaurant unserer Gastfamilie. Das ist ein Innenhof, von dem aus man verschiedene Bücher- und Kleidungsgeschäfte betreten kann. Dieses Konzept gibt es sehr häufig in Oaxaca. Mit einer Mischung aus Deutsch, Englisch und Spanisch verbringen wir einen schönen Abend.
    Ob wir denn noch einen Mezcal trinken wollen, fragt Aneira beim Hinausgehen und zaubert mit einem verschmitzten Lächeln eine Schnapsflasche aus ihrer Handtasche. Wir wollen nur ein kleines Glas dieses selbstgebrauten Meisterwerks. Mexikaner interpretieren kleine Schnapsgläser gefühlt als halbe Kaffeetassen. Wir essen Orangen, trinken Mezcal in kleinen Schlücken und unterhalten uns über den Tag der Toten, Silwanas Quinceniera und Aneiras Sprachkenntnisse in einer der altertümlichen Sprachen, die so fremd für uns klingt, dass wir sie nicht buchstabieren können.

    Wir freuen uns, dass wir die kommenden, besonderen Tage mit ihnen verbringen dürfen. Sie freuen sich auch, dass wir uns für sie entschieden haben und nicht in ein Hostel gegangen sind. Dabei hatten wir Angst, ihnen während der Feiertage mit unserer Anwesenheit auf die Füße zu treten. Aber das Gegenteil ist der Fall. „Mi casa es tu casa“, sagt Tino und wir erkennen, wie ernst ihm das ist. Wir sind gespannt, was uns noch erwartet.
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  • Day 8

    Oaxaca - una fiesta grande

    October 31, 2022 in Mexico ⋅ ☀️ 25 °C

    „Ich habe heute ein paar Freunde zu Besuch", sagt Tino, als er uns morgens netterweise mit seinem Auto in die Altstadt von Oaxaca mitnimmt, "Wir sitzen im Hof und machen ein bisschen Musik. Wir hören aber spätestens um Mitternacht auf."
    "Klingt nach einer spaßigen Veranstaltung", sagen wir.
    "Wenn ihr wollt, dann kommt doch später auch vorbei. Die meisten unserer Gäste wollen bloß gern ihre Privatsphäre haben."
    Privatsphäre, haben wir schon gelernt, gibt es in einem Homestay nicht. Jedenfalls fänden wir es schwierig, darauf zu bestehen, allein unter uns bleiben zu wollen. Und das ist auch gar nicht unsere Intention. Tino, Aneira und Silwana sind so herzlich, dass wir uns nach nur zwei Tagen wie ein Teil der Familie fühlen.

    Die Sonne brennt heute in Oaxaca vom Himmel. Mittags lässt es sich in der Altstadt selbst im Schatten kaum noch aushalten. Und so entscheiden wir uns, eine Siesta einzulegen, Tinos Musikerfreunde zu begrüßen und am Abend in die Stadt zurückzukehren.

    Wir dachten, Tino trifft nur ein paar Freunde und sie sitzen zusammen im Hof und spielen Gitarre. Tatsächlich sind Tische und Stühle für zwanzig Menschen aufgebaut. Während ich dusche holt Joe in der Nachbarstraße unsere Wäsche ab und schaut nochmal schnell beim Kiosk vorbei. Mit zwei Sixpacks Cerveza entern wir Tinos Party. Tino stellt uns als seine deutschen Freunde vor und alle fordern uns auf, Platz zu nehmen. Wir sitzen noch nicht, da haben wir schon zwei Plastikbecher mit reichlich Mezcal vor uns stehen. Die Frauen möchten, dass ich unbedingt herüber komme und bei ihnen sitze. Eine von ihnen hat einen Sohn, der in Frankfurt lebt und mit einer Koreanerin verheiratet ist.
    „Stimmt es, dass man bei euch mit einem Bier in der Hand über die Straße geht?“, fragt sie.
    „Si, claro“, sage ich, „Das heißt ‚Wegbier‘ bei uns.“
    „Seht ihr?“, ruft sie ihren Freundinnen zu, „Ich hab’s euch doch gesagt, dass die Deutschen mit einem Bier in der Hand durch die Straßen ziehen!“
    Ich muss diese Geschichte noch ein paar Mal bestätigen, ehe sie mir geglaubt wird.

    Ich kriege Fotos von Kindern und Enkelkindern gezeigt und spinkse immer wieder zu Joe hinüber, der bei den Herren der Schöpfung sitzt und mit einer Mischung aus Händen, Füßen und Google Translate unterhält.

    „Wie heißt eine Frau, die in Colonia, also Köln, wohnt?“, fragen meine neuen Freundinnen, „Coloniana?“
    „Nee, eine Frau aus Köln ist ein ‚Kölsches Mädche‘“, sage ich, „Und ein Mann aus Köln ist ein ‚Kölsche Boor‘.“
    Sie wiederholen die Namen und lachen sich kaputt.

    „Anna Maria kann Gitarre spielen - und singen!“, höre ich da plötzlich Joe auf Spanisch sagen und noch während ich ihn fragen will, wieso er das sagt, drückt mir jemand eine Gitarre in die Hand und fordert mich auf, zu spielen. Mit allen Blicken auf mich gerichtet kriege ich es aber beim besten Willen nicht hin, meine Finger zu koordinieren und gleichzeitig einen passenden Ton anzuschlagen. Also übergebe ich die Gitarre kurzerhand wieder an meinen Nebenmann, der sofort ein mexikanisches Lied anstimmt, bei dem alle mitsingen.

    Die meisten Lieder handeln von Liebe, schönen Frauen und Sehnsucht und alle können die Texte. Mir gegenüber sitzt eine spanische Frau aus Malaga, deren zu Ehren sie auch spanische Volkslieder singen und die dazu im Rhythmus klatscht. Es ist eine mitreißende Stimmung. Und nach einer halben Tasse Mezcal stehe ich plötzlich auf den Füßen und verkünde, dass wir jetzt alle gemeinsam ein kölsches Lied singen werden.
    „Joe und ich brauchen ein bisschen Hilfe“, sage ich, „Könnt ihr E-o-e singen?“
    Das ist wie erwartet kein Problem. Also stimmen wir ‚Alle Jläser huh‘ von Kasalla an, was zur Stimmung und zum Tag der Toten am besten passt und alle singen mit.

    Den ganzen Nachmittag wird gesungen und reichlich gegessen. Wir bekommen den Unterschied zwischen einer Tortilla, einem Taco und einer Quesadilla erklärt, indem einer von Tinos Freunden seine Tortilla samt Inhalt immer wieder umfaltet.

    Als ich mich mit einem Mezcal neben Joe niederlasse, trägt der ein neues Halstuch, das ihm einer von Tinos Freunden geschenkt und umgebunden hat. Es ist ein fröhlicher und ausgelassener Abend und wir haben kein Bedürfnis, zurück in die Stadt zu fahren.

    „Das ist doch schön, oder?“, fragt Joe.
    „Ja“, sage ich und halte ihm meinen Mezcal hin, „Alles, was wir brauchen, sind Musik, Licht und ein bisschen Alkohol.“

    Als alle aufbrechen, gibt es Umarmungen und Küsse, als würden wir uns alle seit Jahren kennen. Alle bedanken sich, dass wir hier waren und wir werden nicht müde, uns zu bedanken, dass wir Teil dieser Gemeinschaft sein und diesen Abend mit ihnen erleben durften. Obwohl wir erst seit zwei Tagen hier sind fühlen wir uns als Teil der Familie, der aus weiter Ferne angereist ist. Als wären wir genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort.
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  • Day 10

    Oaxaca - Día de Muertos

    November 2, 2022 in Mexico ⋅ ☀️ 25 °C

    Der Día de Muertos wird traditionell im südlichen Mexiko gefeiert und geht auf alte indigene Traditionen zurück. Während sich der Norden Mexikos eher am schaurigen Halloween orientiert, ist der Día de Muertos ein fröhlicher Tag, an dem die Toten zurück unter die Lebenden kehren und gemeinsamen mit ihnen tanzen, Musik hören und essen.

    Schon an unserem ersten Abend in Oaxaca geraten wir vor einer Kirche in eine bunte Party voller verkleideter Menschen, die zur Musik einer traditionellen Blaskapelle tanzen. Die meisten Frauen und Männer sind als Catrinas und Catrins verkleidet, also verstorbene, fein gekleidete Menschen. Wir sehen auch kleine Mädchen in langen Rüschenkleidern und Kronen auf den Häuptern, die ebenfalls bunte Augenhöhlen in Anlehnung an Totenköpfe tragen. Das Ganze sieht bizarr und gleichzeitig sehr schön aus. Es gibt aber nicht nur Catrinas und Catrins: auch zwei Dinosaurier tanzen im Rhythmus der Blasmusik und ein als Papst verkleideter Geselle hält den Teufel im Arm und ein Bier in der Hand.

    Oaxaca ist bunt und geschmückt und vibriert geradezu vor Freude über den Tag der Toten. Die Straßen sind voll mit Girlanden, deren bunte Blätter im heißen Sommerwind flattern. Jede Eingangstür ist über und über mit Cempasúchil geschmückt, jenen leuchtend orangenen Blüten, die den Verstorbenen den Weg in die Häuser ihrer Nachfahren weisen sollen. Nicht selten findet man daneben Skelett-Figuren aus Pappmaché, die die Vorbeiziehenden mit winkenden Gesten grüßen.

    Auf den Hauptstraßen bieten die Händlerinnen und Händler neben ihrer alltäglichen Ware auch Catrina-Make-up an. Auch Joe und ich lassen uns schminken, ehe wir in die Nacht eintauchen. Es herrscht eine Stimmung ähnlich wie bei uns am Kölner Karneval, denn heute um Mitternacht kehren die Verstorbenen zurück und je dunkler es wird und je mehr Catrins und Catrinas uns im Schatten der Häuserwände begegnen, umso mehr kann man meinen, dass sie gerade wirklich unter uns sind. An jeder Ecke spielt eine Blaskapelle und immer wieder bilden sich spontane Umzüge, bei denen man mitgehen kann.

    „Hey“, ruft uns ein Mann im Anzug mit einem riesigen Pappmaché Totenkopf entgegen, als wir über einen der Plätze spazieren, „Wollt ihr heiraten?“
    „Willst du nochmal?“, frage ich Joe und er zieht mich schweigend zum improvisierten Altar.
    Und so versprechen wir auf Spanisch im Beisein der Lebenden und der Toten, uns zu lieben und zu ehren, im diesen und im nachfolgenden Leben, jetzt und in alle Ewigkeit. Es gibt einen improvisierten Trauschein, der die Ehe besiegelt, und dann schießen wir mit unserem Standesbeamten aus dem Jenseits Fotos.

    Tino selber hat noch nie eine Art Präsenz verspürt, verrät er uns, als wir zu später Stunde an seinem Esstisch sitzen und gemeinsam Mezcal trinken. Er glaubt, die Rückkehr der Verstorbenen sei mehr in der eigenen Erinnerung verankert als in einer tatsächlichen spirituellen Begegnung. Doch auch in seinem Haus steht ein Altar mit Bildern seiner verstorbenen Familienmitglieder, zwischen dessen Blütenblättern Bierdosen und Obst als Gruß ins Jenseits ausgelegt sind. Und als seine Tochter Silwana und ihre Freundin gemeinsam mit Joe und mir Fotos schießen wollen, stellen wir uns auf Wunsch der beiden neben dem Altar auf. Schönes Fotomotiv hin oder her: hier werden die Großmütter und Großväter Teil unseres Abends und kehren in unsere Mitte zurück.

    Nach mexikanischem Glauben weilen die Verstorbenen ganze vierundzwanzig Stunden unter uns. Und so zischen die ganze Nacht hindurch Raketen in den Himmel und immer wieder zieht eine Blaskapelle durch die Straßen. Als sie auch am nächsten Vormittag nicht müde werden, die immer wieder gleichen Lieder zu spielen, gehen Joe und ich auf die Suche und finden zwei Straßen und einen Fluss weiter etwa fünfzehn Mexikaner beim Musikspiel vor. Ein paar Teenager zünden daneben Raketen an. Wir schauen uns das Schauspiel keine zwei Minuten an, da kommen zwei Herren auf uns zu. Ersterer drückt Joe ein Schnapsglas in die Hand, der zweite schenkt aus einer alten Plastik-Wasserflasche Mezcal ein. Das Glas wird an mich weitergereicht und während ich den Schnaps trinke werden wir beide zum verweilen eingeladen, was wir mit einer improvisierten Ausrede ausschlagen, da der Mezcal die Schärfe von Benzin hat.

    „Oh, macht euch keine Sorgen wegen dem ungewaschenen Schnapsglas!“, sagt Aneira, als wir ihr von unserer Begegnung berichten, „Mezcal heilt alles!“

    Später am Tag besuchen Joe und ich den Friedhof von Oaxaca. Die Gräber hier bestehen hauptsächlich aus kargen Steinplatten mit reich verzierten Kreuzen, auf denen ab und an Bilder der Verstorbenen angebracht sind. Fast jeder Quadratzentimeter des Friedhofs wird als Grabfläche genutzt. Die Gräber und Gruften liegen so eng beieinander, dass man abseits der wenigen Hauptwege nur schwer dazwischen hindurch kommt. Heute sind die eher einfarbigen Steinplatten mit leuchtenden orangen und lilafarbenen Blumen geschmückt. Das Blütenmeer stricht in all der Tristesse ins Auge. Und die Grabplatten selber dienen als Sitzfläche und Picknicktisch für die Familien, die es sich mit Musik, Essen und Getränken wie bei einem Grillabend gemütlich gemacht haben. Hier und da spielt gar jemand selbst Gitarre, ansonsten helfen mitgebrachte Musikboxen aus. Es ist schon verrückt, wie man im Tod dann neben jemand anderem liegt, zu dem man im Leben wahrscheinlich keinen Bezug hatte, und die Nachfahren an diesem Ort zusammen finden wie zufällig zusammen gewürfelte Nachbarn in einem Wohnhaus. So entstehen neue Verbindungen an einem Ort, der sonst nur der Erinnerung dient.

    In all dem fröhlichen Treiben sehen wir jedoch auch ein Pärchen mittleren Alters, das auf einer Bank vor einem Grab sitzt. Die Gitarre liegt auf dem Schoß des Mannes, aber anstatt zu spielen hält er die Frau im Arm und beide weinen sie stumme Tränen. Ein paar Meter abseits entdecken wir eine Gruft, die mit Motiven aus dem Kinderfilm „Coco“ verziert sind, in dem der Tag der Toten zentrales Thema ist. „Schau mal“, sage ich, „was für eine schöne…“ und im selben Moment wird mir klar, warum Kindermotive ausgewählt wurden und dass hier kein Erwachsener bestattet wurde.

    Der Tod kann uns alle zu jedem Zeitpunkt unseres Lebens treffen. Auch wenn wir diese Tatsache gerne verdrängen, weil Wahrscheinlichkeiten uns Sicherheit vorgaukeln, gibt es doch keine Garantie. Umso tröstlicher ist es, ihn als einen Übergang in eine andere Existenz zu betrachten, die einschneidend, aber nicht endgültig ist.

    In Oaxaca selbst kehrt an diesem Abend Ruhe ein. Nach Tagen der Vorfreude, bei denen zu jeder Tages- und Nachtzeit Raketen gezündet wurden, die mit ohrenbetäubenden Knallen explodiert sind und wir fast jeden Morgen noch vor Sonnenaufgang von einer umherziehenden Blaskapelle geweckt wurden, ist die Stille fast ungewohnt. Auch für uns schlägt das Ende unseres Homestays an. Nach nur fünf Tagen fühlen wir uns als fester Bestandteil der Familie. Wir haben nicht nur gemeinsam das Haus geteilt, wir haben auch gemeinsam gefeiert, gegessen und reichlich Mezcal getrunken.
    „Wir werden uns wiedersehen!“, prophezeit Aneira zum Abschied und schließt uns fest in ihre Arme.
    „Und wir haben noch ein Geschenk für euch“, sagt Tino, ehe er uns zum Busbahnhof fährt, und überreicht uns eine Flasche Mezcal. „Für Magenschmerzen. Denn ihr wisst ja…“
    „Mezcal heilt alles“, sagen wir, sichtlich ergriffen, und schließen uns in die Arme.
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  • Day 14

    Cancún

    November 6, 2022 in Mexico ⋅ ⛅ 28 °C

    Nach Wochen des Abenteuers und des Entdeckens genießen wir ein paar ruhige Tage in Cancún. Das Hotel ist wie eine Zeitreise in die 90er und riecht irgendwie nach Kindheit. Wir verbringen die Tage am Pool mit Nichtstun und frönen der Faulheit.Read more

  • Day 15

    Chichén Itzá

    November 7, 2022 in Mexico ⋅ ⛅ 29 °C

    Joe und ich sind schon in vielen Ländern Taxi gefahren, in denen ein fragwürdiger Fahrstil an der Tagesordnung stand. Überholen in Serpentinen, Vollgas über Rot und ein „Oh, don’t worry, Madam, you want water?“ als schlechte Entschuldigung sind uns nicht fremd. Die Fahrt nach Chichén Itzá hat uns an unsere emotionalen Grenzen gebracht, um nicht zu sagen: fast ins Grab. Aber fangen wir von vorne an:

    Der Morgen beginnt turbulent, da gefühlt das gesamte Hotel eine Tour mit Maya B Tours gebucht hat und weder Busse noch Passagiere pünktlich sind. Da Stressbewältigung am frühen Morgen nicht zu meinen Stärken gehört, wie ich ganz selbstreflektiert an dieser Stelle zugeben möchte, setze ich mich auf die nächstbesten Treppenstufen und stelle eine geheime Top Ten Liste der nervigsten Menschen in meinem Umfeld auf. Joe gehört nicht dazu, liefert aber fleißig Vorschläge, indem er mich auf Menschen hinweist, die ich nicht bemerkt haben könnte.

    Mit 30 Minuten Verspätung hält ein klappriger Kleinbus, dessen Bass auch den letzten Spätzündern unfehlbar verkündet, dass der Morgen angebrochen ist. Glücklicherweise stellt der Fahrer die Musik auf unser Bitten hin auf ein lautes, aber nicht mehr gesundheitsschädigendes Niveau ein. Wir quetschen uns in eine Sitzreihe und stellen fest, dass wir mit knapp 1,75m Körpergröße heute beide breitbeinig sitzen müssen, um irgendwie hineinzupassen. Ich händle die Situation auf die einzig ertragbare Weise, stopfe mir Ohropax in die Ohren, lehne die Stirn auf den Vordersitz und träume mich an eine Strandliege.

    Ein Pluspunkt ist, dass wir heute nur zu sechst sind (es gibt insgesamt etwa 15 Sitze), sodass wir uns zumindest über die Reihen hinweg ausbreiten können. Drei Stunden dauert die Fahrt nach Chichén Itzá. Bei einer kurzen Rast in einem Laden kommt sofort ein Verkäufer auf uns zu und ist ungewohnt aufdringlich, in dem er uns fragt, wo wir her kommen, ob er uns nicht noch dieses und jenes verkaufen könne. Ich bin heute so müde und gestresst, dass ich einfach davon laufe. Nicht sehr erwachsen, aber hilfreich.

    In Chichén Itzá angekommen empfängt uns unser englischer Guide. Und als wir endlich einen Blick auf die große Pyramide werfen, merken wir, dass die Fahrt sich gelohnt hat. Sie ist nicht so groß wie die Sonnenpyramide in Teotihuacán, aber unser Guide erklärt uns, dass sie gebaut wurde, um den vogelähnlichen Gott Quetzalcóatl zu verehren und zeigt uns, warum, in dem er etwa dreißig Meter von der Pyramide entfernt in beide Hände klatscht. Von oben aus der Pyramide schallt im selben Moment der Ruf eines Vogels zurück. Die Maya wussten, wie sie ein Echo erzeugen können, dass original wie der Quetzalcóatl klingt. Und wieder stehen Joe und ich da und fragen uns, was uns alles mit Hernán Cortez und seinen Nachfolgern an Wissen und kulturellem Reichtum verloren gegangen ist. Wir empfinden so viel Ehrfurcht vor dieser Kultur, die genauso weit entwickelt, wenn nicht sogar weiter, war als wir in Europa und einfach das Pech hatte, durch innere Konflikte und fehlende Waffen unterlegen zu sein.

    Joe hat übrigens noch nicht, wie er es sonst gerne macht, behauptet, in seiner Urahnenliste einen Maya-Krieger zu führen. Bisher sind nur Römer, Germanen, Wikinger, Gladiatoren und - ganz wichtig - eine Menge bayerischer Landsleute vertreten. Ich vermute, er ist von den Vorliebe der Mayas für Menschenopfer etwas abgeschreckt. So wurden nicht nur die Köpfe Gefangener als Gruß an die Feinde aufgespießt, es wurden auch regelmäßig Mitglieder der eigenen Gemeinschaft jedweden Alters hochdekoriert in Cenoten ertränkt. Genauso fanden zur Unterhaltung der Allgemeinheit Sportspiele statt, bei denen der ruhmreiche Gewinner am Ende enthauptet wurde. Das soll übrigens auch der Grund sein, weshalb Mexiko noch nie die Weltmeisterschaft gewonnen hat.

    Nach der Tour gehen Joe und ich auf die Suche nach einem Kühlschrank-Magneten. Joe möchte gerne eine Pyramide haben, hat aber ganz genaue Vorstellungen: sie muss auf jeden Fall aus Chichén Itzá stammen, die genaue Anzahl der Pyramiden-Stufen haben und darf nicht zu groß sein. Es dauert erstmal, bis wir kleine Magneten finden, denn die ersten Händler versichern uns, dass es aufgrund des Materials nahezu unmöglich sei, kleinere Magneten herzustellen als die, die sie vertreiben. Zwei Stände weiter werden wir doch fündig. Während Joe die Stufen der Pyramide zählt merke ich, dass ich mittlerweile ziemlich sicher auf Spanisch verhandeln kann. Sogar Zahlen kann ich jetzt, was bisher immer ein rotes Tuch war. Und auch Joe schnappt immer mehr Wörter und Sätze auf, die er dann auf einmal einfach so raus haut.

    Zurück im Bus beginnt eine Fahrt, die wir im Nachhinein nur als Höllenritt bezeichnen können. Unser Fahrer überholt sowohl rechts als auch links, sodass die Autos und Busse auf unserer wie auf der gegenüberliegenden Seite ausweichen und abbremsen müssen. Auf unsere Bitten, langsamer zu fahren, reagiert er mit Taubheit. 
    „Schnall’ dich an, Amyli!“, sagt Joe und drückt mir den Gurt in die Hand.
    An dieser Stelle sei gesagt, dass Joe eigentlich immer der Tiefenentspannte ist, der noch lacht, wenn ich schon Todesängste ausstehe. Wir alle sind froh, als der Feierabendverkehr unseren Fahrer ausbremst.
    „CUIDADO, POR FAVOR!“, brülle ich mit einer mir fremden Stimme aus dem tiefsten evolutionären Überlebenssektor meines Körpers, als wir um ein Haar unserem Vordermann auffahren.
    „Was hast du dem gesagt?“, fragt Joe.
    „Dass der blöde Hurensohn uns am Leben lassen soll!“, erwidere ich, „Ich kotz’ dem gleich in die Karre!“
    Aber ehe ich meinen Plan in die Tat umsetzen kann, fährt unser Fahrer mit einer scharfen Linksdrehung über die Bordsteinkante in den Gegenverkehr der Autobahn. In zweieinhalb Wochen Mexiko haben wir trotz einiger großzügig ausgelegter Straßenverkehrsregeln noch nie Busse so laut Hupen hören.

    Ich denke, ich muss nicht erwähnen, dass das die erste Tour war, bei der wir dem Fahrer am Ende kein Trinkgeld gegeben haben. Auch wenn die Fahrt schrecklich war und wir uns geschworen haben, zukünftig hierauf noch mehr Acht zu geben, bleibt uns dennoch eine beeindruckende Pyramide in der Erinnerung, die auch heute noch etwas von dem verborgenen Wissen ausstrahlt, dass ihre Macher eins für sich entdeckt haben.
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  • Day 18

    Tulum

    November 10, 2022 in Mexico ⋅ ⛅ 29 °C

    Wir schlafen in einem kleinen Hostel, dessen Innenhof eher einem kleinen Wald mit Pool gleicht als einem tatsächlichen „Patio“, wie solche Höfe hier heißen. Überhaupt sind Bäume hier gold wert, jedenfalls werden auch Fußgänger- und Fahrradwege um die Bäume herum gebaut.

    Nachdem wir in Cancún meiner Sehnsucht nach Fast Food nachgekommen sind wird hier wieder mexikanisch gegessen. Unser liebstes Essen ist Schweinefleisch namens „Al Pastor“. Wir können euch den würzigen Geschmack schlecht beschreiben, außer, dass es lecker und das Fleisch knusprig ist. Joe isst es am liebsten in Tacos, ich bevorzuge die Torta. Das sind Sandwiches. Tino fand es übrigens sehr unterhaltsam, dass Tortas in anderen Teilen der Welt Torten sind.

    Den Abend verbringen wir in einer Cocktailbar mit Live Musik und lernen ein niederländisches Pärchen kennen. Die beiden kennen sich bestens aus in der Tulumer Partyszene und so finden wir uns nach einem feuchtfröhlichen Abend auf den Dachpartys der Stadt wieder, wo wir unter bunten Lichterketten im Mondlicht feiern und tanzen.

    Tulum ist berühmt für seine Cenoten. Wir besuchen Casa Tortuga, eine Anlage, die ganze vier Cenoten beherbergt. Um dorthin zu kommen, müssen wir mit dem Collectivo fahren, eine Art öffentlicher Sammelbus. Taxi fahren ist in Tulum nämlich abartig teuer.
    „Das klingt schwieriger als es ist“, sagt unser Rezeptionist, „Ihr stellt euch einfach an den Straßenrand, dann wird ein Collectivo halten und ihr sagt ihm, wo ihr hin wollt.“
    Und so stehen wir am besagten Straßenrand und warten. Es dauert keine zwei Minuten, da hält ein weißer Kleinbus und der Fahrer wirft die Tür für uns auf.
    „Casa Tortuga“, sagen wir und er winkt uns ungeduldig rein.
    Mit hundertzwanzig Sachen und ohne funktionierenden Anschnallgurt geht es über die Autobahn. Nach zehn Minuten fährt er den Kleinbus rechts ran und sagt „Casa Tortuga.“. Wir zahlen den Fahrtpreis, steigen aus und finden uns am Seitenstreifen der Autobahn wieder. Auf der gegenüberliegenden Seite liegt Casa Tortuga.
    „Hier geh’ ich nicht über die Straße! Das ist eine fucking Autobahn!“, sage ich und zeige vorwurfsvoll auf die vorbei rauschenden Autos.
    „Ich seh’, dass das eine Autobahn ist!“, erwidert Joe, „Aber am Seitenrand stehen bleiben ist gerade auch nicht viel sicherer!“
    Also halten wir Ausschau nach einer Lücke, die uns genug Zeit lässt, die Fahrbahn lebend zu überqueren und hoffen auf Autofahrer, die notfalls eben aus der Entfernung schon abbremsen. Das Glück ist uns hold und kurz darauf können wir unsere Besichtigung starten.

    Es gibt insgesamt vier Cenoten. Die erste schon ist eine unterirdische Höhle, durch die wir schwimmen. Man kann den Ausgang sehen, sodass es nicht völlig dunkel ist, aber es hat schon etwas mystisches, sich in der Dunkelheit voran zu tasten, wo das Wasser viel lauter gluckert und alle Stimmen von den niedrigen Deckenwänden widerhallen. Wir sind froh um unsere Wasserschuhe, denn der Boden ist uneben und von großen Steinen übersäht.
    Die zweite Cenote ist noch niedriger. Hier hat mal teilweise nicht mehr als eine Ellbogenlänge zwischen Wasser und Decke. Und es hängen eine Menge Stalagmiten (?) von der Decke, sodass man sich in der Dunkelheit gut voran tasten muss. Ohne unseren Guide würden wir den Ausgang nicht mehr finden, so unübersichtlich ist es hier unten.
    Die dritte Cenote ist wie ein kleiner See. Von hier springt Joe aus drei Meter Höhe ins türkisblaue Wasser.
    Die vierte Cenote ist ähnlich wie die erste, mit dem Unterschied, dass das Wasser hier durch versteckt eindringendes Tageslicht überirdisch türkis in der Dunkelheit leuchtet.

    Am nächsten Tag haben wir ein Unterwasser-Date mit Schildkröten. Um zum Strand zu fahren, leihen wir uns beim besten (!) Fahrradhändler der Stadt zwei Räder aus. Kurz scheint es, als könne unser Plan nicht in die Tat umgesetzt werden, denn er schließt um 5 und unsere Tour geht bis 4. Rechnet man die typisch mexikanische Verspätung mit ein, wird das ziemlich knapp.
    „Okay, dann machen wir’s so“, sagt er, „Ich geb’ euch meine Handynummer und zwanzig Minuten vorher schickt ihr mir ’ne Nachricht, dann mach’ ich für euch nochmal auf.“
    Das ist etwas, was uns sehr an Mexiko gefällt: hier ist alles ein bisschen chaotischer und ungenauer, dafür aber auch manchmal wunderbar einfach und flexibel.
    Auf zwei Rädern mit windschiefen Sätteln und eiernden Reifen radeln wir runter zum Strand. Und als wir das erste Mal am Meer stehen, das türkis und einladend in der heißen Sonne schimmert, erkennen wir die ganze Schönheit von Tulum. Kaum haben wir unsere Handtücher im pludrigen Sand abgelegt, rennt Joe voraus ins Wasser. Als er wieder kommt, schieße ich los und tauche ab in die nassen Fluten. So wechseln wir uns eine Stunde lang ab. Dann machen wir uns auf die Suche nach unserem Boot.
    Wir steuern als erstes ein Riff an, in dem es viele große, bunte und unterschiedliche Fische gibt. Die meisten von ihnen sind schlau und verstecken sich unter den Korallen, sobald etwas über sie hinweg schwimmt. Öfter aber schwimmen ganze leuchtend blaue Fischschwärme unter uns, um sich dann mit einem Schlag alle auf ein winziges Stück Koralle zu stürzen. Einmal schwimmt auch ein riesiger grauer, schlangenartiger Fisch an mir vorbei und betrachtet mich genauso neugierig wie ich ihn.
    „Das war ein Hai“, behauptet die kanadischer Familie, als wir zurück aufs Boot kehren.
    Ich halte das für ein reichlich übertriebenes Gerücht.
    Im nächsten Riff sollen die Schildkröten auf uns warten. Ich wollte immer schon mal eine Wasserschildkröte in freier Natur sehen, aber bisher habe ich weder in Ägypten noch in Samoa Glück gehabt. Wenn wir Glück haben, schwimmt also heute eine in einiger Entfernung an uns vorbei. Als wir abtauchen, wartet sie schon auf uns. Man muss dazu sagen, dass unser Guide Alfredo sie mit Fisch anfüttert. Sie schwimmt ihm geradezu in die Arme. Und auch uns kommt sie nahe, taucht nur mit dreißig Zentimeter Abstand unter mir hindurch und versucht dabei immer wieder, ein Stück Fisch, das sie im Mund hält, mit ihrer Flosse in zwei Stücke zu zerteilen, damit sie es besser essen kann. Ab und an taucht sie auch zwischen uns auf und steckt ihren Kopf aus dem Wasser. Für ihren behäbigen Panzer bewegt sie sich erstaunlich schwerelos durchs Wasser.

    Am Abend schauen wir noch in der Apotheke vorbei, denn Joe möchte vor Guatemala ein neues Mückenspray kaufen. Wir holen uns eine kurze Beratung von der Apothekerin rein. Es stellt sich heraus, dass die Preise, die auf den Sprays stehen, nicht ganz stimmen.
    „Ups, das kostet doch hundertfünfzig Pesos mehr“, kichert die Apothekerin, nachdem sie es gescannt hat und reißt einfach das Preisschild ab.
    „Ja, okay, bringt ja nichts“, sagen wir.
    „Wollt ihr vielleicht sonst noch was kaufen? Schmerzmittel, Sonnenspray, Anabolika?“, fragt sie und zwinkert Joe zu.
    „Danke, das Mückenspray reicht uns erstmal“, sage ich, „Morgen vielleicht.“
    Das Mückenspray riecht übrigens übel nach Chemie. Damit ist man nicht nur vor Mücken, sondern höchstwahrscheinlich gegen nahezu alle Lebewesen geschützt. Wir sind gespannt, ob sich die Mücken von Guatemala davon ebenso beeindrucken lassen wie die in Tulum. Vorher starten wir aber einen letzten Testdurchlauf in Holbox.
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