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  • Day 98

    A Monday in SF - beautiful but blue

    November 8, 2021 in the United States ⋅ ☀️ 27 °C

    Es ist Montag und alle sind beschäftigt – ich genieße diese sonst unliebsamen Tage ganz besonders, vielleicht DER große Vorteil meines Sabbathjahres: Der stressige Alltag startet für den Großteil der Gesellschaft, ich aber kann tun und lassen, was ich will. Ich sitze nicht wie sonst, sonntags über Aufsätzen und Unterrichtsvorbereitungen, plane die restliche Woche und komme montags nach einem langen Tag gestresst und müde Heim. An diesen Montag schlafe ich, nachdem die Kids seit 5 Uhr den Rest des Hauses auf Trab gehalten haben, noch einmal ein und lange aus... Meine Nächte sind sowieso seit Wochen durchwachsen und meist wache ich mehrfach schweißgebadet auf, mit rasendem Herzen und bin völlig durch den Wind, weiß aber nicht mehr warum. Aber gut, es ist viel passiert, es gibt noch mehr zu verarbeiten und da ich keine Verpflichtungen habe, kann zumindest nichts Wesentliches schiefgehen (denke ich mir noch, bis ich mich dann ein paar Tage später auf dem falschen Flughafen wiederfinde und mir wünsche, Jen hätte alle schlechten Erinnerungen aus mir herausgeräuchert, Hexerei hin oder her).

    Der Tag vergeht irgendwie in Zeitlupe, erst mittags nehme ich den Caltrain nach San Francisco und treffe dort Rish – einen meiner liebgewonnenen Inder aus Hawaii - zum Mittagsessen downtown. Er winkt mir fröhlich aus einem Fastfoodladen entgegen. Wie toll, sich wiederzusehen, hier an einem völlig anderen Ort. Paresh, Inder Nr. 2, arbeitet leider noch und wir können ihn nur via Videochat dazuschalten, er wollte nachkommen. Beide stimmen aber aus Sicherheitsgründen gegen einen Party-Abend mit mir, denn es sei viel zu gefährlich mich im Dunkeln im Zug alleine zurückzuschicken, weder spät abends noch frühmorgends, stimmen sie überein: „too many wasted people, too many drug addicts, too much crime!“. Ich glaube, dies ist der erste Moment, wo ich gerne kurz alles in unser schönes Deutschland verlegen möchte, wo ich nachts noch nie Angst zu haben brauchte... Nun gut, es ist, wie es ist: Nächstes Mal müssen wir eine Übernachtung miteinplanen, nehmen wir uns vor.

    Wir schieben uns dann an Straßenkünstlern und ebenjenen Drogensüchtigen und Obdachlosen vorbei und spazieren durch Chinatown, das so viel ruhiger erscheint als jegliches Viertel, das ich in Peking besucht habe, und ganz gutbürgerlich-schwäbisch erscheint, verglichen mit dem Chaos-Chinatown in Lima. Ich bin erstaunt, denn Rish war im Gegensatz zu mir noch nie hier und auch nicht bei Fishermen's Wharf, das wir ansteuern, dabei wohnt er hier. Es ist eine Offenbarung, durch die Stadt zu flanieren, die Straßen sind derart pittoresk. Dennoch will der Tag nicht so richtig starten: Rish hatte ein Schweigeseminar der Uni hinter sich, einen speziellen Pflichtkurs seines Wirtschaftsstudiums, dessen Sinn und Zweck uns beiden verborgen blieb (kein Scherz! Eine Stunde online schweigen – und das an 12 Unitagen!). Ich selbst stand irgendwie auch den ganzen Tag etwas neben mir, fühlte mich ausgelaugt. Dazu war das Wetter ganz SF-like, bewölkt und, mit dem Shake, den wir uns geholt haben, super ungemütlich und kalt. Auch die Robben am Pier 69 lassen nicht so richtig Stimmung aufkommen. Dennoch schmieden wir Pläne, denn Rish hat bald frei und unsere ganze Truppe wollte ich so gerne irgendwo auf der Welt wiedersehen. Let's do it!

    Durch die Zeitumstellung und einsetzender Dunkelheit um etwa 17.30 Uhr, starte ich daher schon um 4 wieder Richtung Sunnyvale. Better safe than sorry, again. Im schönen, friedlichen Vorort führe ich mich dann noch zu einem herrlichen Ramen-and-Seafood-Dinner aus – von dem ich nur die Hälfte runterbekomme. Was ist nur los an diesem Tag? Es ist eben doch ein „Blue Monday“, nur am anderen Ende der Welt und auch sonst ganz anders. Trotzdem denke ich, das ist mehr als okay und lasse auch den Gedanken los, dass dieser Tag gelungen hätte sein müssen.

    Das Geschenk eines Jahres Zeit: Es sind nicht nur die Montage, die ich besonders genieße. Es ist auch die Gelassenheit, alles so nehmen, wie es kommt und weniger damit zu hadern oder unzufrieden zu sein. Vielleicht liegt es an den wenigen Verpflichtungen, vielleicht an dem Geschenk der Zeit und nahezu absoluten Freiheit, vielleicht an den wundervollen Erlebnissen, vielleicht an allem – aber hier gelingt mir so vieles so viel besser als Zuhause. Seit meinem Studium wollte ich ein Sabbathjahr zum Reisen nehmen, seit vier Jahren habe ich darauf hingearbeitet – aber welch unfassbar unbezahlbares Geschenk ich mir selbst damit gemacht habe, werde ich wohl nie ganz erfassen können: die Gelassenheit, auch einen überschatteten Tag so zu nehmen, wie er ist, und ihn ganz zu umarmen. So darf auch ein „Blue Monday“ alle Blau- und Grauschattierungen annehmen, die diese wundervolle Welt zu bieten hat.
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