• Medellin - Phönix aus der Asche

    9 stycznia 2022, Kolumbia ⋅ ⛅ 24 °C

    Was ist das Besondere an Kolumbien, fragt jemand Dio, unseren Guide in Medellin, der Stadt des ewigen Frühlings. „Chile hat die Gletscher und Berge, Argentinien den Fußball, Peru die Kultur. Wir in Kolumbien haben alles zusammen. Was ganz besonders an unserem Land ist, ist unsere Biodiversität, all die Flora und Fauna, die Berge, das Meer, aber auch die Lebensfreude der Menschen. Man sagt mir oft, Dio, wie können die Menschen hier so glücklich sein, trotz allem? Es liegt daran: Die Menschen hier haben ein selektives Gedächtnis entwickelt, wir erinnern uns nicht an alles, wir können nicht. Wir befinden uns – vergleichen wir Kolumbien mit einer Serie von vier Episoden (I. Ursprung – II. Aufstieg – III. Tragödie ) in der IV., der (Wieder-) Auferstehung oder der Transformation. Wir glauben, dass die Zukunft nicht wie die Vergangenheit sein muss. Vor 25 Jahren beispielsweise wäre niemand von euch hierher gekommen, um unser Land zu besuchen. Aber nun könnt ihr weitererzählen, wie es heute hier ist, dass wir viel verändert haben!“

    Nachdem ich einige Tage flach lag (laut meines Schnelltests immerhin kein Covid, aber wer weiß das schon...), reise ich nach Medellin nach. Medellin (gesprochen Medeschin) – einst die gefährlichste Stadt der Welt, Stadt Pablo Escobars. Vieles ist Netflix-Mythos, vieles harte und blutige Geschichte. Gemeinsam mit Jessi, Kailin und Giti nehme ich an einer Free Walking Tour teil. Dio hat sich nicht nur all unsere 20 Namen in der Gruppe gemerkt, sondern erklärt uns anschaulich und eindrücklich die Geschichte der Stadt, die Geschichte seiner Eltern, seine Geschichte. Er nennt den berüchtigten Drogenboss niemals beim Namen, betitelt ihn schließlich als „Valdemord“: Es gäbe immer noch Leute, die keine klar definierte Meinung zu ihm hätten. Er hätte zwar viele Auftragsmorde erteilt, aber auch die arme Bevölkerung mit Geld unterstützt. Er war also auch gut, sagen sie. Dio stellt dies aus seiner Sicht unmissverständlich klar: „Wie viel Geld muss ich spenden, um einen Mord ungeschehen zu machen? Wie viel, um mich aus Tausenden herauszukaufen? Wie kann es sein, dass Touristen hierher kommen, um auf dem Grab dieses Mannes Kokain zu konsumieren, ihm zu ehren? Meine frühesten Kindheitserinnerungen sind die folgenden: Mit 7 Jahren verstecke ich mich immer wieder zitternd unterm Bett, weil scharf geschossen wird, Männer dringen in unsere Wohnung ein. Ich habe Todesangst. Einmal wird direkt neben mir ein Mann erschossen, ich sehe, wie quasi sein halbes Gesicht explodiert, überall war Blut. Man konnte für wenig Geld Morde in Auftrag geben. Täglich gab es weitere Tote. Als ich noch klein war, wurde mein Vater erschossen, meine Mutter musste uns alleine großziehen, wie viele andere Frauen.“ Ich habe Tränen in den Augen, als er seinen Bericht zu Kapitel III. Tragödie beendet hat. Es herrscht absolute Stille.

    Aufarbeitung? Kaum. Schüler hier haben keinen Geschichtsunterricht, nur eine Art Sozialkunde. Fragen zu der frühren Zeit werden oftmals nicht beantwortet, weswegen sich die Kids im Internet schlau machen und dort auf ein mythenumranktes Leben eines reichen Mannes stoßen, der Frauen in Hülle und Fülle hatte und die besten Parties schmiss.

    Die Plätze in der Innenstadt erscheinen recht schmutzig und ohne wirkliches Konzept, auch fehlt hier oftmals das wunderbare Grün, das sich sonst in dieser Stadt findet. Aber was besticht sind die Orte der „Wiederauferstehung“: Auf dem zentralen Platz der Innenstadt wurde aus einem Markt, der Umschlagplatz für alles (und ich meine alles) war, ein Mondkalender mit Stelen und Bambus, in dem die Leute hier flanieren. Funfakt: Es wurden so viele Änderungen an dem Projekt vorgenommen, dass es heute kein Monskalender mehr ist, aber ein netter Fotopunkt... Aus einem eingefallenem Gebäude daneben, in dem Drogensüchtige und Prostituierte hausten, hat man als Zeichen für eine bessere Zukunft das Ministerium für Bildung angesiedelt. Eine weitere Errungenschaft steht den Medellinern für die Zukunft und ist völlig unberührt von Schmierereien und Dreck: Die Metro, gleichermaßen die Seilbahn.

    Auf dem Plaza Botero sieht man die unproportionalen Statuen des berühmtesten kolumbianischen Künstlers (Botero) – mit Verlaub, einem Stil, mit dem ich so gar nichts anfangen kann. Die Passanten berühren die Geschlechtsteile der Figuren, weil der Glauben vorherrscht, man hätte dann besseren Sex oder würde gar die Liebe seines Lebens treffen, wenn man den Penis des „Römers“ berührt. Ein weiteres Highlight zum Schmunzeln: Der vom Belgier Augustin Goovaerts entworfene Kulturpalast im Zentrum sollte in seinem Aussehen einer neogotischen Kathdrale ähneln und gilt als Meisterwerk der Architektur. Nachdem sich aber die Kolumbianer massiv über Kosten und Aussehen beschwert haben und unzählige Male Änderungen einfordern, reiste Goovaerts schließlich ab: Sie sollten es doch selbst fertigstellen, wenn sie es besser wüssten. Kein Problem, dachten die Kolumbianer, das können wir genauso gut! Ergebnis: Eine wunderbare, glatte Wand, ohne jegliche Ähnlichkeit zum Bauprojekt, dient als Abschluss des Gebäudes.

    Das Ende der Führung findet an einem weitem Platz mit zwei weiteren Figuren Boteros statt. Eine zerstört – durch ein Bombenattentat vor einigen Jahren. Nachdem die Behörden die Skuptur entfernen wollten, ruft Botero erbost beim Bürgermeister an: Die Figur hat als Mahnmal zu bleiben, damit die Kolumbianer diesmal nicht vergessen, was hier passiert ist. Daneben findet sich heute eine neue, unversehrte Plastik. Zwei Vögel als Symbol für die tragische Vergangenheit und für eine bessere Zukunft, einem Zeichen für eine Nation, die sich wie Phönix aus der Asche erhebt, und bereit ist zu fliegen.

    Und hier ein Nachtrag: Wir kommen nach diesem Erlebnis zurück ins Hostel und ein paar Mitbewohner packen ihr Tütchen aus und ziehen sich zur Feier des Abends erst einmal eine Line Koks...
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