- Показать поездку
- Добавить в корзинуУдалить из корзины
- Поделиться
- День 161
- понедельник, 10 января 2022 г.
- ☀️ 27 °C
- Высота: 1 616 м
КолумбияEl Alcazar6°14’56” N 75°37’18” W
Das Wunder der Comuna 13

An diesem Tag sollte ich die berühmte und vor allem berüchtigte Comuna 13 besuchen, über Jahre hinweg als „Kriegsgebiet“ bezeichnet, heute turbolentenes, lebhaftes und buntes Viertel, in das alle Touristen strömen, so also auch ich. Die Comuna 13 wird mich vor allem durch die viele Kunst beeindrucken, durch ihre Lebendigkeit, ihre Liebe zur Musik, ihre unzähligen farbenfrohen Graffiti-Wände, die die Geschichte dieses Viertels erzählen. An nahezu jeder Ecke finden sich kleine oder größere Breakdance-Gruppen, Freestype-Rapper, kreative Streetfood-Stände, Kunstwerke zahlreicher Sprayer – allesamt unangetastet von Schmierereien und Tags!
Unser Guide ist Tänzer, Breakdancer, und tief mit dem Viertel verbunden, bringt uns (angeblich) zu den besten Tanzgruppen und herausragenden Rappern. Er erzählt uns von seinen Tanzkooperativen mit den Kindern, überhauptt scheinen hier trotz der Korruption im Land einige Gelder für Projekte anzukommen. Und alle scheinen mehr oder weniger mit Kunst zu tun zu haben. Hier lernen die Kids Erfolgserlebnisse zu haben, sich auszudrücken, über sich hinaus zu wachsen, Geld zu verdienen. Auch die Jüngsten auf der Straße sprechen uns an, wollen mit uns Kartentricks machen, ihre besten Dance-Moves zeigen. Betteln ist hier nicht! Hier setzt man auf Können. Ich bin sehr beeindruckt und fühle mich inspiriert, etwas von der Lebenszugewandtheit mitzunehmen. Kunst und Musik als Erfolgsrezept aus dem Teufelskreis von Armut, Gewalt und Kriminalität. So bestechend diese Formel auch scheint, ganz so einfach ergibt sich dies nicht von selbst und vor allem bekommt man ja sowieso nur einen oberflächlichen Blick auf die Situation vor Ort.
Früher jedoch sah es hier ganz anders aus, erzählt unser Guide Diego: In den 80er und 90er Jahren war die Comuna Schauplatz brutaler und meist tödlicher Auseinandersetzungen zwischen dem Medellin-Drogenkartell Pablo Escobars, anderen Kartellen, Sicherheitskräften, rechten Paramilitärs und der linken Farc-Guerilla. Damals eine absolute No-Go-Area, nicht nur für Touristen. Denn Medellín verzeichnete mit mehr als 380 Tötungsdelikten auf 100000 Einwohner die angeblich höchste Mordrate weltweit, zum Teil bedeutete dies 7000 Getötete im Jahr. Die Gruppierungen kontrollierten das Viertel und über das Land verteilte Aktionen, meist Drogengeschäfte: Sie übernahmen Richtspüche, erteilten Aufträge, entschieden, wer lebte oder sterben sollte, wer als Dieb galt und wer als Opfer. Von unserem Guide bekommen wir zudem erzählt, dass auch Kinder bewaffnet durch die Straßen liefen und teils Mordaufträge ausführten. Ich schlucke mehrmals, aber letztlich ist das ganze für mich nicht nur schrecklich, sondern vielmehr unvorstellbar. Wie behütet ich doch aufgewachsen bin!
Wie kam es aber zu dem „Wunder“ der Comuna 13?
Eine historisch korrekte und treffende Zusammenfassung wird mir kaum gelingen, dennoch versuche ich eine Annäherung. Zunächst erfolgte mehr Gewalt: Es fanden 10 Militäroperationen statt, mit dem Ziel die Guerilla von ihrer sozialen Basis abzuschneiden. Im Mai 2002 kam es zu der Operation Mariscal, in der 3 Minderjährige zu Tode kamen, insgesamt 9 Zivilisten. Die relativ kurze Dauer dieses Einsatzes ist dem Mut einer Mutter zu verdanken, deren Söhne beide verletzt wurden. Aus dem Fenster die weiße Flagge haltend schrie sie: „Lasst mich hinaus. Lasst mich hinaus, ich muss meine Kinder ins Krankenhaus bringen.“ Nur wenige Minuten später erhielt sie Unterstützung durch ihre Nachbarn, die es ihr gleich taten. Nach 30 Minuten fanden sich in der gesamten Nachbarschaft weiße Flaggen gehisst, was letztlich zum Ende des Einsatzes führte. Welch berührendes Beispiel für Solidarität und Mitgefühl! Dennoch ruhte die Gewalt nur kurz.
Die berühmteste Militäraktion ist die „Operation Orion“ (2002), die unter dem Befehl des damaligen Präsidenten Alvaro Uribe wenige Monate später durchgeführt wurde und in der Zivilbevölkerung (angeblich) Hunderte von Opfern forderte; die Berichte varrieren stark. Erst Jahre später sollte der Ort offenbart werden, an dem einige der Toten verscharrt wurden, ungeahnt von ihren Angehörigen.
Wenngleich die Macht der Guerillas gebrochen war, übernahm dann das Paramilitär die Leitung und führte zunächst auf ihre Weise ähnlich brutale Aktionen durch wie zuvor die Kartelle. Die Situation begann sich erst 2006 durch zahlreiche Projekte und Investitionen zu verbessern. Die Infrasturktur wurde verbessert und das Viertel durch überdachte Rolltreppen, einen Rundweg und die Seilbahn an andere Viertel angeschlossen, die Lebensqualität verbesserte sich dadurch erheblich. Bis heute erfolgten weitere Projekte und Initativen – bis die Touristen kamen und den Leuten vor Ort zu mehr Auskommen verhalfen.
Was man an allen Ecken und Enden dieses Viertels spürt: Den Stolz der Menschen, ein besseres Leben führen zu können, aus dieser Gewaltspirale ausgestiegen zu sein, sich aus dem Dreck gezogen zu haben, vom Leben und den Politikern „bedacht“ und „berücksichtigt“ worden zu sein, auch Dankbarkeit und ein Pflichtbewusstsein für ihre Comuna. Auch Diego zeigt sich stolz über das Dasein der riesigen Massen an Touristen und der enormen Transformation seines Viertels, denn es geschah kein Wunder – alles ist das Ergebnis der Anstrengungen Vieler.
Während wir durch schmale Gassen laufen, vorbei an Dutzenden Jungen, die hier abhängen, als wir mit den Tanzgruppen mitwippen und die Galerien besuchen, komme ich mir plötzlich ganz fehl am Platz vor, fotografierend mit meinem Sommerkleidchen. Das Gefühl, nur eine dünne Eisfläche betreten zu haben, lässt mich nicht los und die Frage, wo eigentlich die Mädchen in diesem Viertel sind und was sie machen, bleibt letztlich unbeantwortet im Raum stehen. Und so verlasse ich die Comuna 13 beeindruckt und inspiriert, aber auch beunruhigt durch die vielen Fragen, die sich in mir auftun. Nicht nur über die Comuna 13, sondern auch darüber, was unser aller Leben lebenswert macht und uns ausreichend Perspektive und Karft verschafft, auch bzw. vor allem in schlechten Zeiten - Zeiten einer Pandemie, in denen man ganz besonders von diesen Dingen profitieren würde: der Kunst und der Musik!Читать далее