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  • Dag 156

    Die vielen Gesichter Kolumbiens

    5. januar 2022, Colombia ⋅ ☀️ 26 °C

    Als ich mit Rish Bogota erreiche, habe ich natürlich grob Kenntnis von den Problemen Kolumbiens, Pablo Escobar, den Drogenkartellen, den Guerillas, der Korruption, usw. Aber was bedeutet all dies für ein Land, in denen große Teile des Volkes immer noch unter den Bedingungen der dritten Welt leben? Kolumbien wird mir in den nächsten Tagen auf eindrücklichste Weise die Schicksale der Menschen hier näherbringen, gepaart mit den lebendigsten Geschichtsstunden meines Lebens. Bei einem werden sich alle Kolumbianer, die ich treffe, einig sein: Die Drogen ertränken ihr geliebtes Kolumbien in Blut.

    Bogota ist eine Stadt, die viele dieser Probleme gleichermaßen offenbart wie versteckt. Ich lerne diese Megacity, die so gigantisch ist, dass man nur kleine Teile besuchen kann (ca. 8- angeblich 10 Mio Einwohner), bei Spaziergängen und einer Fahrradtour kennen, darunter den kulturellen Mittelpunkt, den das Viertel „La Candelaria“ bildet, wo sich auch unser Hostel befindet. Wir schlendern durch viele der Gassen und bestaunen die kolonialen Häuser, kunstvollen Wandgemälde und Skulpturen.

    Mit Rish, seinen Mädels aus Bacalar und den beiden Kolumbianern Gustavo und Nico erkunden wir den Norden der Stadt, der gut mit einem europäischen Szeneviertel hätte verwechselt werden können. Die beiden sind fantastische Gastgeber und versuchen allen Wünschen gerecht zu werden. Letztlich lädt uns Nico, der uns alle 5 in seinen Kleinwagen presst und kaum den Berg hochkommt, in seine Wohnung ein, wo wir Salsa tanzen und mit allem bewirtet werden, was er aufzubieten hat.

    Mit Rish fahre ich mit dem Teleferico zu dem 3152 m hohen Berg Cerro de Monserrate hoch, einem beliebten Pilgerort mit einem spektakulärem Blick über Bogota. Wir besichtigen das "El Dorado Bogotas", das Goldmuseum, das den Reichtum Kolumbiens erahnen lässt. Außerdem mache ich eine Fahrrad-Stadtführung mit und Maria, unser Guide, zeigt uns ihre Stadt – die Altstadt mit seinen Regierungsgebäuden und dem Haus der Unabhängigkeit, Los Martires, San Victorino, Santa Fe und dem Parque National. „Was? Santa Fe und den Parque National?“, werde ich später gefragt. Warum? Santa Fe ist ein Slum, seit vier Jahren geht es hier durch die vielen venezolanischen Flüchtlinge und durch die Pandemie immer weiter bergab. Es ist das gefährlichste Viertel Bogotas! Maria mahnt uns, alles Wertvolle wegzupacken, zusammenzubleiben, nicht stehenzubleiben. Wir radeln also durch Santa Fe, dem Viertel der Prostitution, des Drogenkonsums, der schreienden Armut. Hier liegen abgemagerte Männer auf Kartons und Müllsäcken auf der Straße, die Hütten eingefallen, Mädchen, kaum älter als Sofia, tanzen halbbekleidet barfuß im Dreck, überall liegt Müll, die Wände sind fast schwarz vor lauter Schmutz, einige Personen konsumieren Crack auf offener Straße. An den Hauseingängen stehen die Zuhälter, die Damen am Straßenrand, nur wenig bekleidet, die Augen halboffen, ein Bild des absoluten Elends. Dazwischen Hunde, klapprige Essenswägen, ein gammeliger Geruch in der Luft. Die Deutsche Kathleen und ich sind uns einig: Das ist das Schlimmste, das wir in unserem Leben je gesehen haben.

    Danach folgt ein Viertel mit englischen Häusern, geklinkert, getüncht, mit Vorgarten und Zaun, Blumen und hippen Läden. Wir machen Halt bei einer Kaffeerösterei. Frappierend der Fakt, dass man hier in Kolumbien oftmals den schlechtesten Kaffee erhält. Der Gute nämlich, wird fast vollständig exportiert. Dann umkreisen wir den Parque National, in dem ca. 3000 Menschen unter billigen Planen und improvisierten Zelten hausen. Keine Venezolaner, sondern Einheimische, die von der Regierung wegen eines Bauprojekts zwangsenteignet wurden, ohne neue Zuweisung von Land oder Eigentum, ohne Entschädigung. Sie haben sich hier zusammengeschlossen und wollen sichtbar sein, nicht vergessen werden und leben hier in bitterster Armut inmitten des Stadtparks. Weiter geht es vorbei an einer deutschen Bierfabrik – dem Deutschen Unternehmer gelang es damals wegen des geringen Absatzes an Bier das traditionelle Getränk „Chicha“ zu verbieten und fast vollständig zu verdrängen. Erst in jüngster Zeit wurde dies wieder entstigmatisiert und legalisiert.

    Wir kommen langsam zurück in das Zentrum, das voller Graffiti und Wandmalereien ist. Hier wurde einst Diego Becerra, ein Szenesprayer Bogotas, beim illegalen Besprühen der Wände, von der Polizei erschossen. Die Sprayer wurden jahrelang brutal gejagt – bis Justin Bieber nach Bogota kommt und durch sein Handeln Proteste sondergleichen auslöst. Was passierte? Nach einem Konzert 2013 lässt er sich von der Polizei zu einer Wand eskortieren und will sich hier verewigen – ein Marihuana Blatt sprayend. Der Blonde eskortiert, der Kolumbianer liquidiert – die Menschen in Bogota begehren auf, bis Graffitikunst legal wird. Nun gesteht der Polizeichef ein: „Jemand, der Graffiti erstellt, will uns etwas sagen und wir müssen zuhören.“

    Zu guter Letzt treffe ich Maria Paula wieder, die mir in Cusco/Peru begegnet war und mich sofort einlud. Sie nimmt mich und alle neuen Hostelbekanntschaften mit durch Bogota und berichtet lange über ihr Projekt mit Guerilla-Kämpfern. Als wir uns verabschieden, wissen wir, dass wir uns irgendwo auf der Welt wiedersehen werden. Vielleicht ja auch an einem Ort, der weniger schreiende Gesichter hat als Bogota, der Stadt, die Kolumbiens zerrissene Seele offenbart.
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