• Meine erste Platte

    October 22, 2024 in Tanzania ⋅ ⛅ 24 °C

    Die erste Unterschenkelfraktur, die mir anvertraut wird | Krankentransport mal anders | Bestellung beim örtlichen Schneider

    Triggerwarnung: Ich beschreibe die erste OP, bei der ich selbstständig einen Unterschenkelbruch versorge.

    Dienstag. Heute bin ich eine Woche in Tansania. Mein Wortschatz ist allerdings noch sehr dürftig. Ich versuche, mir Kiswahili selbst beizubringen. Dazu benutze ich ein Buch, das Robin mir geliehen hat. Sie hat vor ihrem Einsatz hier in Dar einen zweiwöchigen Sprachkurs gemacht. Ich hoffe, dass ich bis zum Ende der nächsten Woche zumindest einfache Konversationen führen kann. Bis dahin heißt es fleißig Vokabeln lernen, so wie in jungen Jahren.

    Nach dem gemeinsamen Frühstück ziehe ich meinen Kasack an und gehe mit den Mädels zum Krankenhaus. Auf dem kurzen Weg sprechen wir über unseren Tag und was uns heute erwartet. Ich bin wieder im OP eingeplant. Heute wird es voll, und es stehen etliche Operationen auf dem Programm. Die meisten davon sind gebrochene Unterschenkel. Auch wenn bei den meisten Patienten Tibia (Schienbeinknochen) und Fibula (Wadenbeinknochen) gebrochen sind, wird nur die Fibula versorgt. Die Fibula hat keine lebenswichtige Funktion und muss konservativ heilen.

    Nach den ersten beiden OPs, bei denen ich Dr. Peter (Assistenzarzt) und Dr. Freddy (Chefarzt) über die Schulter schaue und mich im Nähen beweise, ist der nächste Patient für mich dran: eine Tibiafraktur, die mit einer Platte und sechs Schrauben versorgt und reponiert werden soll. Dr. Peter wird mir assistieren und notfalls übernehmen. Dr. Freddy verschwindet im Nebenraum und operiert einen kleinen Jungen mit einem Leistenbruch.

    Ich bin sichtlich nervös. Ich habe vorher noch nie gebohrt und noch nie eine Platte eingesetzt. In Deutschland wäre das undenkbar. Aber Dr. Peter beruhigt mich und schaut aufmerksam zu. Wir gehen in den Nebenraum und waschen uns ein. Viel Seife und viel Wasser. Dann warten wir, bis die Hände und Unterarme etwas trockener sind. Jetzt kommt Desinfektionsmittel. Viel Desinfektionsmittel. Wieder einreiben bis zu den Ellenbogen. Ich streife den sterilen Kittel über mich. Tarantu, die liebe OTA, bindet den Stoffkittel hinten zu. Die sterilen Handschuhe sind mit einem Pulver beschichtet. Da Dr. Peter mir sagt, ich solle zwei übereinander ziehen, entscheide ich mich, meine eigenen drüber zu ziehen. Die sind deutlich dicker und stabiler als die, die sie hier vor Ort haben. Aber solange ich noch welche im Vorrat habe, nutze ich sie. Dann landet dieser Posten beim Patienten nicht auf der Rechnung. Denn hier bezahlen die Patienten jedes Material nach Verbrauch. Sparsamkeit ist also keine schlechte Idee, denke ich.

    Zusammen mit Dr. Peter suchen wir die nötigen Materialien zusammen. Es gibt hier ein Schraubenset, in dem alle möglichen Größen und Längen drin sind. Wir suchen vor jeder OP die passenden Schrauben aus. Oft haben wir schlicht Glück, dass noch die passenden Schrauben dabei sind. Alle OP-Materialien sind aufbereitet. Kein Einwegmaterial, bis auf die Klinge vom Skalpell und die Nadeln für die Naht. Das letzte Mal, dass ich eine Klinge eingespannt habe, war im Präpkurs in der Uni. Da konnte ich nicht mehr viel falsch machen, denn die Körperspende würde ja nicht meckern. Jetzt stehe ich in Litembo, Tansania. Ein junger 27-jähriger Patient liegt vor mir. Sein Unterschenkel ist mehrfach gebrochen. Mein Job – einer mit Verantwortung. „Du packst das schon“, sage ich mir und setze an. Ich denke an den Präpkurs und schneide an der Vorderkante des Schienbeins entlang. Es fängt an zu bluten. Dr. Peter wischt immer wieder mit dem Tupfer. Ich nehme das OP-Besteck und arbeite mich stumpf zur Fraktur vor. Stumpf meint, dass jetzt nicht mehr geschnitten wird, sondern die Strukturen aufgerissen oder gedehnt werden. Die Knochenhaut schiebe ich zur Seite, und die Faszie der Extensorenloge wird präventiv gespalten. Würden wir dies nicht tun, bekäme der Patient ein Kompartmentsyndrom – eine Einklemmung der Muskulatur aufgrund von Schwellung und Blutung.

    Als alles offen liegt, reponieren wir gemeinsam die Knochenfragmente. Dr. Peter zieht beherzt am Fuß, und ich sehe zu, dass die Knochenenden richtig zueinander stehen. Erstmal provisorisch mit Knochenklemmen fixieren. Dann nimmt Dr. Peter den Bohrer. Er bohrt ein Loch und gibt mir dann den Bohrer. Es fühlt sich an, als würde ich einen Pax Schrank aufbauen. Die Löcher werden vorgebohrt. Zuerst geht es recht schwer, dann durchbricht der Bohrkopf das härtere äußere des Knochens. An der Stelle weiß ich, dass ich im Knochenmark bin. Also weiter bohren, damit das Loch weitergeht. Anschließend nehme ich den Schraubenzieher und die Schraube. Ganz schön anstrengend, denke ich. Nach sechs Schrauben merke ich am Unterarm, dass ich was getan habe. Aber ich bin froh, dass alle Schrauben halten, und Dr. Peter ist ebenfalls sehr zufrieden.

    Jetzt kommt der mühsame Teil. Erst subkutane Nähte durchs Fettgewebe und Teile der Faszien, dann noch eine saubere Hautnaht. Mehr gibt es hier nicht. Das muss irgendwie heilen. Zum Schluss jede Menge Iod drüber und ein paar Kompressen. Noch ein Verband, und der Patient wird auf die Station zum Ausruhen geschickt.

    Dr. Peter und Dr. Freddy sind fantastische Mentoren. Sie ermöglichen mir, eine Menge zu lernen. Und ich bin wieder froh, diesen Schritt nach Litembo gemacht zu haben!

    Nach dem Tag im OP verlasse ich die Klinik mit einem guten Gefühl. Ich konnte mal wieder helfen und nützlich sein. In Deutschland habe ich während der Praxisphasen oft das Gefühl, dass man als Student eher eine Last ist. Hier ist man froh, zwei weitere Hände zu haben. Auch wenn es zwei Linke sind.

    Als ich zur Tür herausgehe, scheint mir die pralle Mittagssonne auf den Kopf. Es ist heute wieder sehr warm. Gefällt mir aber gut, da mein Sommer eine schöne Verlängerung bekommt. Ich sehe einen der Patienten von heute Morgen mit seinem gegipsten Bein. Er sitzt samt Gehhilfen auf einem PikiPiki. So einen Krankentransport sieht man selten, denke ich noch. Ich schmunzle beim Vorbeigehen und hoffe, dass der Patient morgen nicht mit dem anderen Bein im OP landet.

    Timothy bittet mich am Abend, noch einmal mit meiner Drohne fliegen zu dürfen. Also hole ich sie nochmal raus. Und so vergeht der Abend wie im Flug.

    Am Abend haben wir noch Besuch von einem besonderen Gast. Juven, ein älterer Herr aus der Siedlung, ein wenig unterhalb des Krankenhauses, ist da. Er ist Schneider. Er nimmt bei uns Maß und schreibt seine Notizen akkurat auf. Wir haben uns entschieden, etwas hier schneidern zu lassen. Ich bin gespannt, wie es wird. In einigen Tagen wird das Ergebnis fertig sein. Ein erstes tolles Erinnerungsstück aus der Zeit hier in Litembo.

    Kwa Heri!
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