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- Day 18
- Thursday, October 31, 2024 at 8:20 PM
- ⛅ 21 °C
- Altitude: 1,615 m
TanzaniaLitembo10°58’30” S 34°49’31” E
An all die Sternenkinder…
October 31, 2024 in Tanzania ⋅ ⛅ 21 °C
Der wohl schwerste Tag meiner Reise
Wie jeden Morgen gibt es das gemeinsame Frühstück, und ich freue mich sehr, die letzten beiden Tage in der Geburtshilfe zu verbringen. Zumal ich zum Ende der Woche mehr und mehr aktiv anpacken darf und soll. Noch ahne ich nicht, dass dieser Tag auch für mich mit sehr vielen Tränen enden wird.
Als ich Dr. Bosco treffe, scheint dieser gut gelaunt zu sein. Die Maternity (Geburtshilfe) ist an diesem Morgen nicht gut belegt. Lediglich eine Frau liegt im Kreissaal und soll entbinden. Der diensthabende Arzt der Nacht hat eine medikamentöse Einleitung der Geburt begonnen. In der Nacht ist die Fruchtblase geplatzt, das Kind ist aber unter der 35. Schwangerschaftswoche. Ohne Fruchtblase muss es aber bald zur Welt kommen – innerhalb von 24 Stunden. Dr. Bosco übernimmt vom Nachtdienst und nimmt mich mit. Normalerweise holen sie die Kinder erst ab der 37. Schwangerschaftswoche, da sie sonst nicht genug atmen können, weil ihnen ein Enzym in der Lunge fehlt. Die Lunge ist also noch unreif. Als vorbildlicher Student weiß ich sofort, was das bedeutet: Wenn das Kind so früh zur Welt kommt, dass kein Surfactant (Oberflächenaktive Substanz) die Lunge ausreift, kann dieses Kind in dieser Klinik nicht überleben. Es gibt weder langfristigen Sauerstoff noch den Surfactant, der gespritzt werden könnte. Eine angespannte Situation, denke ich. Mir läuft es eiskalt den Rücken runter. Was passiert also, wenn das Baby gleich geboren wird? Die Ärzte und auch ich hoffen, dass die Bildung des Surfactants schon eingesetzt hat und das Baby überlebt.
Nach einigen Stunden gibt Dr. Bosco die nächste Dosis des Medikaments, das die Wehen einleiten soll. Es vergehen rund 4 Stunden, bis die ersten Wehen einsetzen. Jetzt kommt auch die Hebamme dazu. Sie hatte im Vorraum bereits angedeutet, dass es nicht gut ausgehen wird. Die Hebammen haben viel Erfahrung, also bereite ich mich innerlich auf unschöne Minuten vor. Mit jeder Wehe weitet sich der Geburtskanal. Das kleine Köpfchen des Säuglings kommt mehr und mehr zum Vorschein. Alles läuft wie in den letzten Tagen. Als der Kopf frei liegt, folgt der Schultergürtel. Danach kommt der Rest des Körpers, weil der Umfang dann nicht mehr so groß ist wie die Schultern. Dieser Teil flutscht immer in Bruchteilen von Sekunden durch den Geburtskanal. Es ist völlig ruhig. Die gebärende Mutter verkneift sich das Stöhnen. Der Aberglaube, dass ein schwaches Kind ein schlechtes Omen ist, ist so tief verwurzelt, dass die Frauen sich generell verkneifen, zu stöhnen oder laute Geräusche von sich zu geben.
Dr. Bosco durchtrennt die Nabelschnur und beginnt sofort mit der Reanimation. Der Säugling atmet nicht. Die Hebamme versucht, Flüssigkeit aus dem Mund des Säuglings abzusaugen. Dafür benutzt sie einen kleinen Gummiball mit einer auslaufenden Spitze. Immer wieder versucht sie, im Mund des Säuglings alles herauszusaugen. Nach kurzer Zeit bittet Dr. Bosco mich zu übernehmen. Mir gehen tausend Dinge durch den Kopf, aber jetzt muss ich funktionieren. Viele Male habe ich Notfallsituationen als MTR in der Uniklinik erlebt. Ich kann mich noch genau an meinen ersten Todesfall im CT erinnern. Ich war allein, und es dauerte eine Weile, bis Hilfe bei mir war. Der Patient damals ist nach 45 Minuten Reanimation verstorben. Damals hatte ich das Kontrastmittel aktiviert und anhand des CTs festgestellt, dass der Patient keinen Kreislauf mehr hatte. Er hat die Untersuchung nicht überlebt. Ich weiß nicht, wieso ich an diese Situation denken musste, aber in Bruchteilen von Sekunden war der Gedanke wieder weg. Jetzt war ich im Arbeitsmodus.
Dr. Bosco übergibt mir den warmen kleinen Körper in meine Hände. Ich umfasse mit beiden Händen den Oberkörper unter den Achseln. Mit den Daumen drücke ich vorsichtig auf das Sternum (Brustbein). Durch die anatomischen Gegebenheiten sind alle knöchernen Strukturen noch sehr weich. Es braucht gar nicht viel Druck, um einen ausreichenden Effekt zu erzielen. Ich reanimiere ein Neugeborenes. Und ich schwitze. Immer wieder fragt Dr. Bosco, wie es aussieht, während er die Plazenta der Frau entfernt, damit diese keine Komplikationen befürchten muss. Ich hoffe so sehr, dass wir es schaffen. Während ich drücke und das Tempo konzentriert halte, denke ich mir, wie es wohl in Deutschland gewesen wäre. Mit unserer Hightech-Medizin hätten jetzt fünf Fachärzte versucht, das Leben dieses Kindes zu retten, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln und Medikamenten. Wahrscheinlich hätte eine adäquate und lückenlose gynäkologische und kindliche Vorsorge in der Schwangerschaft Probleme im Vorfeld aufgedeckt. Von Fruchtwasserpunktion bis regelmäßige Ultraschallkontrollen und ein Berufsverbot während der Schwangerschaft. All das ist Luxus in einer Welt, in der Frauen erst in der Geburtshilfe landen, wenn sie Angst bekommen, dass etwas nicht stimmt. Und bei dieser Frau stimmte seit der geplatzten Fruchtblase einiges nicht: das Ausbleiben der Wehen, keine Bewegung des Kindes und ein sehr langsamer Herzschlag des Säuglings. Ich drücke auf das Herz und versuche, so wie Dr. Bosco es tat, irgendwo zwischen 140 und 160 Herzschläge pro Minute zu landen. Ein Metrum, das die Nurse aufgestellt hat, hilft dabei. Die blauen Hände und Füße des Säuglings verändern ihre Farbe jedoch nicht. Jetzt übernimmt Dr. Bosco wieder. Ich beobachte alles. Ohne eine Notfallmedikation wird dieser Einsatz nicht belohnt. Das kleine Herz des Säuglings, der gerade so in zwei Hände passt, wird niemals schlagen. Nach rund 30 Minuten ist klar, dass wir nichts tun können. Es gibt weder Monitore zur Überwachung noch Hightech-Medizingeräte, um das Problem herauszufinden. Die Mutter des Säuglings sieht alles mit an. Tränen laufen ihr über das Gesicht, aber man hört keinen Ton. Sie wird morgen ohne Kind nach Hause gehen. Noch denke ich, dass alles wie immer ist. Wir haben alles versucht, und es hat nicht gereicht. Dr. Bosco lobt mich, sagt, dass ich einen guten Job gemacht habe und dass ich als Student fit bin in dem, was ich tue. „Thank you for your assistance“ (Danke für deine Unterstützung). So recht kann ich das aber nicht annehmen. Ich bedanke mich trotzdem, und er gibt mir den Nachmittag frei.
Als ich die Klinik verlasse, bricht es aus mir heraus. Den ganzen Weg ins Doctors House laufen mir Tränen über das Gesicht. Ich bin völlig geschafft. Es ist noch niemand zurück, also kann ich mich auf unsere Terrasse setzen und die Emotionen völlig aus mir herauslassen. Mir wäre aber wahrscheinlich auch egal, wenn die Mädels schon da gewesen wären. Ich bin grundsätzlich ein emotionaler Typ und lasse das auch zu. Meine Hände zittern leicht. Dieses Zittern, das sich nach und nach über den gesamten Körper erstreckt, habe ich schon ein einziges Mal in meinem Leben gehabt. Da es mir deshalb bekannt vorkam, wusste ich, dass das ein Schock ist. Da ich aber keine anderen Symptome bemerke, lege ich die Füße auf das Terrassengeländer und atme tief ein und aus. Wahrscheinlich war ich kreidebleich.
In einer Welt, die geprägt ist von „höher, schneller, weiter“, überleben die, die mehr Geld haben. Die, die im richtigen Land zur Welt kommen und bei der Geburtslotterie einfach Glück hatten. Auch wenn mir bewusst ist, dass unsere Welt nun mal so ist, geht es mir besonders nahe. In Düsseldorf habe ich als MTR oft Babyleichen im CT untersuchen müssen. Sie kamen immer aus der Gerichtsmedizin und immer mit der Fragestellung, welche Todesursache die Radiologen beweisen können. Unsere Arbeit bei dieser Frage ist also vor allem eines: gerichtsfeste CT-Aufnahmen erstellen, bevor die Gerichtsmediziner die Körper aufschneiden und die Todesursache klären, damit die mutmaßlichen Straftäter*innen zur Rechenschaft gezogen werden können. Der Unterschied zwischen Verletzungen, die vom Gerichtsmediziner durch sein Arbeitswerkzeug verursacht wurden, und den Verletzungen, die vorher schon im CT sichtbar sind, ist wichtig. Sinnvolle Arbeit. Meist sind es Schütteltraumata, die von außen nicht sichtbar sind, im CT jedoch zweifelsfrei zum Vorschein kommen.
Ein Sternenkind zu gebären – das Schlimmste, was einer Mutter passieren kann. Eines zu reanimieren – die größte Belastung, die man als Arzt/Ärztin oder medizinisches Personal im Dienst haben kann. Sternenkinder nennt man Säuglinge, die vor, während oder kurz nach der Geburt versterben. Kinder-Notfälle sind und bleiben schwere Einsätze. Zwei Stunden sitze ich da und ärgere mich, dass die Menschen hier längst nicht die Möglichkeiten haben, die anderswo auf der Welt herrschen. Aber immer mit dem Wissen, dass dies morgen, wenn die Sonne wieder aufgeht, genau so sein wird.
Am Abend sitze ich wieder auf dem Balkon. Anna und Robin haben von dem Sternenkind gehört. Sie sind vorsichtig mit mir. Sie merken, dass ich in Gedanken bin. Ich nehme mir bewusst die Zeit, alles hier zu schreiben. Ein bisschen Self-Care, um die Bilder zu verarbeiten, die sich ins Gehirn gebrannt haben. Der Beruf, den ich anstrebe, bringt es mit sich. Jeder Arzt und jede Ärztin trägt diesen Rucksack mit sich.
Dann noch etwas ganz Besonderes: Eine Pflanze vor dem Haus blüht. Es ist die „Königin der Nacht“, die nur einmal im Jahr blüht. Das kann kein Zufall sein. Die Blüte der „Königin der Nacht“ geht gegen 22 Uhr auf, um rund 0 Uhr ist sie voll aufgegangen und verwelkt bis zum Morgen. Sie sieht ein einziges Mal das Licht der Welt und verwelkt...
Ich lese noch ein bisschen im Internet, während ich auf der Terrasse unter dem Sternenhimmel sitze. Stoße auf viele Seiten für betroffene Mütter, die Sternenkinder zur Welt gebracht haben und hoffe, dass das kleine Sternenkind von heute irgendwo da oben herunter schaut und denken würde:
„Denis, du machst einen guten Job. Du bist als Student fit in dem, was du tust. Danke für deine Unterstützung...“
Dann kommen wieder Tränen, und ich beschließe, den heutigen Abend alleine zu verbringen.Read more





Traveler❤️
Traveler❤️
Traveler✨✨✨wir lernen es lebenslang ~ LOS LASSEN ~✨✨✨✨und werden uns NIE daran gewöhnen 🫶🏻 Gott sei Dank !