• Eine Diagnose kommt selten allein

    November 5, 2024 in Tanzania ⋅ ⛅ 24 °C

    Letzte Woche Famulatur | Sprechstunde in der Inneren Medizin | Schlaganfall im Busch

    Die neue Woche beginnt mit der Frühbesprechung. Oberärzte und Fachärzte wollen auf den neuesten Stand gebracht werden. Die Interns (Medizinstudierende im Praktischen Jahr) sind die Hausherren am Wochenende (leider sind es nur Männer). Sie sind auf sich allein gestellt. Lediglich telefonisch können sie ihre Mentoren erreichen. Die Oberärzte und Chefärzte sind bei ihren Familien, meist viele Stunden Fahrt von Litembo entfernt. Montags morgens werden dann die Fälle der Abteilungen nochmals vorgestellt und auch die Therapieansätze besprochen und diskutiert. Diese Form der Patientenvorstellung durch die Interns und die damit verbundenen kritischen Fragen der Fachärzte zu theoretischem Wissen sollen die Interns auf ihre abschließende praktische Prüfung vorbereiten. Die Fallvorstellungen sind auf Englisch, und ich folge den Ausführungen immer sehr aufmerksam. Ein bisschen teste ich mich dann auch selbst, ob ich wüsste, was man zu tun hätte oder wenigstens eine Ahnung. Mir fehlt aber definitiv noch viel praktische Erfahrung. Immerhin weiß ich bei den theoretischen Fragen auch ungefähr Bescheid. Gut, dass ich hier nur Gast bin. Die Interns, die vorne an einem langen Tisch sitzen, mit Blick auf die Stuhlreihen, in denen wir sitzen, kommen ganz schön ins Schwitzen. Aber sie schlagen sich alle ziemlich gut. Die kritischsten Fragen stellt überraschenderweise immer der Augenarzt des Hauses. Ganz schön fordernd für einen Mann, der sich nur mit einem einzigen Organ des Körpers den ganzen Tag beschäftigt. Meine Abneigung zur Augenheilkunde wird mal wieder deutlich. Auch dafür ist eine Famulatur wichtig – zu wissen, was man später nicht machen will und vor allem, wie man nicht werden will.

    Nach der Frühbesprechung folge ich Dr. Risiki auf die Innere Station. Er ist der Intern und hatte mich schon am ersten Tag bei meinem Rundgang mit der Sekretärin kennengelernt. Er hatte damals gesagt, dass ich hier die beste Zeit haben werde und am meisten lerne. Das wird allerdings schwierig, nachdem ich die Geburten (fast) selbstständig begleitet habe. Die Fachärztin in der Inneren ist Dr. Elaina, eine kubanische Fachärztin, die aufgrund des desaströsen medizinischen Systems auf Kuba hierher gekommen ist, Kiswahili gelernt hat und sich hier ein Leben aufbaut. Sie erzählt mir später, dass im nächsten Jahr ihr Mann und ihre Kinder folgen werden. Auf Kuba verdienen Ärzte kaum etwas. Da alles staatlich finanziert wird, gibt es viele Patienten, aber die Vergütung vom kubanischen Staat wird nur selten gezahlt. Ein unhaltbarer Zustand und ein Leben ohne Sicherheit. Hier bekommt sie so viel, dass sie nach 4-5 Jahren zurück nach Kuba möchte und mit dem Geld ein neues Business aufbauen will. Sie wird dem Beruf als Ärztin in Kuba nicht aufgeben, aber sie wird ihr Geld anders verdienen als mit der Patientenversorgung.

    Ich begleite Dr. Elaina in der Sprechstunde. Natürlich verstehe ich nicht, was die Patienten für Beschwerden oder Symptome haben, aber Dr. Elaina übersetzt ins Englische, und ich führe die Untersuchungen durch. Körperliche Untersuchungen sind kein Problem. In meiner Hausarztfamulatur in Düsseldorf habe ich bei Herrn Clemens eine Menge an Fertigkeiten gelernt, die mir hier jetzt zugutekommen! Ich bin mir sicher, dass ich in jeder anderen Hausarztfamulatur nicht so viel gelernt hätte. Vor allem das genaue Auskultieren mit dem Stethoskop oder die Inspektion der Haut, was viele Aufschlüsse geben kann, ohne teure und lange Labortests. Wir verbringen den Vormittag also damit, die ambulanten Patienten zu sichten und zu behandeln. Fast alle von ihnen haben Bluthochdruck. Weil ich dem automatischen Messgerät aber nicht traue, messe ich jedes Mal manuell. Auch damit bestätigt sich der hohe Blutdruck. Und auch Diabetes ist hier sehr häufig. Die Afrikaner trinken jedes Getränk mit viel Zucker – mit sehr viel! Vor allem Limonaden und andere zuckerhaltige Getränke werden hier wie Wasser getrunken. Kein gesunder Lebensstil. Deshalb sind Antihypertensiva und Antidiabetika die meistverschriebenen Medikamente heute. Aber eine Diagnose kommt selten allein! Wer einen Arzt oder eine Ärztin aufsucht, bekommt mindestens eine weitere Diagnose, denn die Patienten sind nicht wegen des hohen Blutdrucks da. Die meisten merken den noch nicht einmal. Es ist wie beim Hausarzt: Magenbeschwerden, Schmerzen in den Gelenken oder andere Symptome haben dazu geführt, dass die Patienten hier sitzen. Aber weil sie sowieso da sind, gibt es eine Blutdruckmessung „aufs Haus“ und einen kleinen Stich in die Fingerbeere, um den Zuckerspiegel zu testen. Dann sind die Einnahmen schon gesichert. Denn die Medikamente kaufen die Patienten in der Klinik eigenen Apotheke. Was gibt es Schöneres als einen gesunden Patienten, der für eine gesunde Finanzbuchhaltung sorgt?

    Der zweite stationäre Fall ist durchaus spannender. Dr. Risiki zeigt mir ein Röntgenbild und fragt mich, was ich sehe. Es ist ein Röntgenbild einer 74-jährigen Patientin. Allein, dass sie so alt wird, in einem Land, in dem die Lebenserwartung nicht gerade hoch ist, ist beachtlich. Auf dem kleinen PC-Bildschirm öffnet sich das Röntgenbild. Es ist ein Bild der Lunge. Weil ich selbst schon zehntausende Röntgenbilder von Lungen angefertigt habe, sehe ich auf den ersten Blick: Diese Frau wird das, was man dort sieht, nicht überleben – nicht hier. In der Regel sieht man auf einem Normalbefund zwei dunkle Lungenflügel und helle Abschnitte überall da, wo Haut und die Rippen sind, in der Mitte die Wirbelsäule und der Herzschatten (Normalbefund füge ich mal als Bild mit hinzu). Ihre Lunge ist aber weiß. Bis auf den linken Oberlappen (man spricht immer aus der Sicht des Patienten, im Bild also rechts, ist bei dem Patienten die linke Seite). Patientenlinks also ist noch ein wenig Lungengewebe belüftet. Der Rest: Weiß. Jetzt geht das Nachdenken los. Nacheinander gehe ich im Kopf die Möglichkeiten einer „weißen Lunge“ durch. Relativ einfach, dass es eine fulminante Tuberkulose sein muss. Die rundlichen Herde, die wie kleine Wolken in der Lunge abgebildet sind, lassen daran eigentlich keinen Zweifel mehr. Die Patientin kam mit massiver Luftnot und ist als Notfall auf die Innere gekommen. Dr. Risiki und Dr. Elaina müssen jetzt mit den Angehörigen sprechen. Die Patientin wird daran versterben, wahrscheinlich heute noch. Denn Sauerstoff gibt es hier leider nur, wenn die Patienten diese Therapie auch zahlen können. Da Strom teuer ist und immer wieder ausfällt, ist auch das keine Garantie. Es ist mittlerweile 14:00 Uhr. Die Patientin ist seit einigen Stunden nicht mehr ansprechbar. Jetzt wird Morphin vorbereitet, damit es eine würdige Verabschiedung durch die Familie geben kann.

    Am Dienstag sind wir im Litembo Health Training Center verabredet. Hanne, die deutsche MTLA, wird uns den ganzen Tag mit interessanten Präparaten am Mikroskop beglücken. Vor allem die beiden Mädels sind sehr begeistert. Für mich eine sehr gute Wiederholung. Ich habe die spannendsten und häufigsten Diagnosen abfotografiert. Mein Highlight ist der Schistosomenwurm, dessen Larve durch die Haut aus kontaminierten Gewässern in den Körper eindringt, mit dem Blut zur Leber gelangt, dort ausreift und mit dem Blut in die Darmwand und die Blasenwand wandert, dort Unwesen treibt und Eier in die Umwelt abgibt. Bei einer solchen Erkrankung braucht man keine Diät mehr. Es ist die beste Diät, die man sich vorstellen kann. Man isst und isst, aber nimmt in kurzer Zeit so schnell ab. Durchfall inklusive. Und zwar massiv. Die ganze Nahrung ernährt nur die Würmer. Empfehlen würde ich es trotzdem lieber nicht.
    Read more