• Time is brain

    6 november 2024, Tanzania ⋅ ☁️ 26 °C

    Von Schlaganfall, Meningitis und anderen schlechten Aussichten | Juven, unser Schneider des Vertrauen

    Der Gottesdienst am Mittwochmorgen ist bereits Routine. Diesmal steht Father Ngai vorne und leitet den Gottesdienst. Er hat auch jetzt, bei seiner Arbeit, die Sonnenbrille an, die ihn ein wenig wie einen Mafia-Boss aussehen lässt. In einem grünen Gewand redet er auf die Gemeinde ein. Hier ein Glockenläuten, da ein paar vergoldete Becher. Ich frage mich jedes Mal wieder, welche Begeisterung die Menschen in sich tragen müssen, um hier regelmäßig zu sein und vor allem Priester zu werden. Frauen sind ja nach wie vor in diesem Amt nicht zugelassen, auch in Tansania nicht. Weil mein Kiswahili nicht ausreicht, um den Worten zu folgen, beobachte ich von ganz hinten immer die Menschen. Es sind überwiegend Frauen, die alle bunte Tücher um ihren Körper geworfen haben. Diese sogenannten „Kitenge“ sollen die womöglich verdreckte Kleidung verbergen und machen beim Hinsehen auch gute Laune. Alles ist bunt, und alle singen aus voller Seele mit. Immer wieder geht’s auf die Knie, dann wieder aufstehen, dann klingelt ein Angestellter mit speziellen Glocken. Für mich steht fest: Es ist der letzte Gottesdienst für dieses Abenteuer, denn am Samstag ist schon meine Abreise geplant. Aber keine Sorge. Es geht noch drei weitere Wochen durch Tansania! Mit seinen schönen Nationalparks und der tollen Kultur. Erst Richtung Norden, dann ein wenig in den Westen, weiter nach Zanzibar und anschließend an die Ostküste. Es wird eine Reise, die ich so schnell nicht vergessen werde. Die Herausforderung wird sein, mit dem wenigen Kiswahili voranzukommen. Aber das sind Sorgen von morgen. Jetzt geht es erstmal zur Visite in der Inneren.

    Dr. Elaina, die kubanische Fachärztin, war auch im Gottesdienst und begrüßt mich. Sie lädt mich ein, bei der Visite dabei zu sein. Generell sprechen die Menschen hier (auch wenn sie aus Kuba kommt) für alles Einladungen aus, auch wenn man sowieso dabei ist. Als wir auf die Innere Station abbiegen, sehen wir den Intern Dr. Risiki schon. Er bereitet die letzten Details für die Visite vor. Dr. Elaina möchte von ihm immer die aktuellsten Patientendaten und Vitalparameter wissen. Die erste Patientin, die wir sehen, ist eine 74-jährige Dame. Ihr Mann und einige Mitglieder der Familie haben sie gestern Abend (Dienstag) gebracht. Die Anamnese hat ergeben, dass sie seit Sonntag eine linksseitige Schwäche im Arm und Bein hat. Dazu verschlechterte sich ihre Vigilanz. Sie trübte über die Tage ein und war Dienstagmittag gar nicht mehr ansprechbar. Ich schaue die Patientin an und sehe, wie sie dort auf dem alten Krankenhausbett liegt. An der Seite klebt ein kleines Schild: St. Marien Hospital Oberhausen. Sie atmet schnell und flach. Ihr Mundwinkel hängt zur linken Seite. Sie spricht nicht. Die Augen sind zu. Kein gutes Zeichen. Auf Ansprache reagiert sie auch heute nicht. Dann bittet Dr. Elaina mich, die Patientin zu wecken. Ich beginne mit Ansprache, werde ein wenig lauter – nichts. Jetzt berühre ich vorsichtig die Arme – nichts. Also gehe ich über und zwicke die Patientin an den Armen. Auch hier keine Reaktion. Jetzt gehe ich zur Ultima Ratio über: Ich mache eine Faust und reibe mit den Enden der Mittelhandknochen über das Brustbein der Patientin. Diese Methode ist bei Menschen, die wach und ansprechbar sind, höllisch schmerzhaft. Es ist quasi ein Knochen-auf-Knochen-Reiben. Diese Patientin bewegt jetzt leicht ihren rechten Arm. Aber eine deutliche Abwehrhaltung, die normal wäre, lässt sich nicht ausmachen. Die Frage, die wir uns jetzt stellen, ist, ob es eine Blutung ist oder ein thrombembolisches Ereignis. Dabei scheint die Antwort auf diese Frage kaum einen Unterschied zu machen. Denn ein CT gibt es hier in Litembo nicht. Die Fahrt nach Songea, wo ich mit dem Flugzeug aus Dar gelandet bin, dauert rund 4 Stunden. Bei einem Schlaganfall fatal. Time is brain. Und je mehr Zeit vergeht, desto schlechter ist ihre Prognose. Sie hat eine Hemiplegie, eine Lähmung der kompletten linken Körperhälfte. Das andere Problem: Die Fahrt mit dem Krankentransportwagen kostet. Da sie nicht versichert ist, muss die Familie das Geld auftreiben. Die Tochter telefoniert seit Stunden. Auf dem kleinen Patiententisch am Bett sehe ich eine Liste. Darauf hat sie Vornamen geschrieben und dahinter die Geldsummen, die sie sich wahrscheinlich dort leihen wird. Es ist wieder ein trauriger Moment. Denn bis die Patientin in Songea ein CT bekommen wird, ist eine Therapie nicht mehr zielführend. Dann ist die Herausforderung, die Versorgung im häuslichen Umfeld zu stemmen. Nach einer orientierenden neurologischen Untersuchung leuchte ich der Patientin in die Augen. Die linke Pupille ist kleiner als die rechte – eine Anisokorie. Es ist zwar nicht sicher zu sagen, aber häufig geht dies mit einer Hirnblutung einher. Schmerzmittel und die engmaschige Blutdruckkontrolle sind alles, was die Ärzte tun können. Den Kopf lagern sie ein wenig nach oben, damit die Schwerkraft der vermuteten Blutung ein wenig entgegenwirken kann.

    Die nächsten 6 Patienten sind aufgrund von Lungenentzündungen, Magenbeschwerden und Durchfall hier. Ein leichteres Therapieschema. Wirklich jeder von ihnen wird bis zu den Zähnen mit Antibiotika versorgt. Natürlich erst, wenn die Patienten sich diese in der Klinik-Apotheke gekauft haben. Am Morgen müssen sie auch einen Kassenbon im Dienstzimmer vorzeigen, um zu bestätigen, dass sie die Nacht und die Behandlung für den kommenden Tag (im Voraus) bezahlt haben.

    Der traurigste Fall ist nichts für schwache Nerven. Es ist ein 22-jähriger Mann, der letzte Woche aufgrund einer bakteriellen Infektion schon einmal hier war. Er hatte Antibiotika erhalten und wurde nach Hause entlassen, als es ihm besser ging. Ein Freund hat ihn vor wenigen Stunden in der Früh hergebracht. Der Patient war kaum erweckbar und reagierte nur auf Schmerzreiz. Sein Name ist Rotari. Die Ärzte fragen seinen Freund alles, was ihnen wichtig erscheint. Aufgrund der bekannten bakteriellen Infektion liegt nahe, dass er die Erkrankung nicht überwunden hat. Nach einigen Untersuchungen stellen wir fest, dass der Patient scheinbar stärkste Schmerzen hat, wenn der Kopf in Richtung Brust genommen wird. Die Arbeitsdiagnose Meningitis steht fest – eine Hirnhautentzündung, wahrscheinlich bakteriell. Jetzt muss alles schnell gehen, denke ich. Wenn ich mich richtig erinnere, wartet man keine Sekunde auf Labortests, sondern startet eine großzügige antibiotische Therapie. Anschließend Blutentnahme und gegebenenfalls Umstellung der Antibiotika, falls eine Resistenz auffällt. Diese Laboruntersuchung mit Kulturen dauert mindestens 2 Tage. Die hat der Patient nicht. Aber wir sind auch nicht in Deutschland. Der Fehler passiert mir immer wieder. Die Frage der Ärzte in Richtung seines Freundes: Gibt es Angehörige oder jemanden, der die Therapie zahlt? Im Voraus versteht sich. So ist es hier üblich. Keine Ausnahmen. Die Familiensituation scheint schwierig. Die Mutter ist verstorben, der Vater hat ihn verstoßen. Allein sein Onkel kümmert sich wohl noch. Was ich in dem Moment noch nicht weiß: Ich werde diesen Onkel am Nachmittag noch kennenlernen. Doch die Finanzen sind knapp und reichen nicht für die Therapie. Ich bitte Dr. Risiki zur Seite. Ich biete an, die Therapie zu finanzieren. Doch das ist nicht erlaubt. Sonst würden wir als Mitarbeitende jeden Tag in dieses Dilemma kommen. Er sagt, dass dieses System in Tansania leider zum Leben der Menschen gehöre und dass es ehrenvoll ist, von mir dies anzubieten, allerdings nicht gern gesehen wird.

    Als ich nach der Mittagspause wieder zurück bin, holt Dr. Risiki mich im Dienstzimmer ab. Er lädt mich ein, einen Totenschein mit ihm auszufüllen und die dazugehörige Untersuchung am Leichnam mit ihm durchzuführen. Ich habe eine Vermutung, in welches Zimmer wir gehen. Vor dem Zimmer sitzt ein Mann in einem roten Shirt und einer schicken schwarzen Hose. Es ist Rotaris Onkel. In einigen Minuten wird er den Totenschein bekommen und ihn Rotaris Familie bringen. Eine Leichenschau ist erschreckend schnell erledigt. Es werden 5 Dinge überprüft:

    Pupillenreflex
    Kornealreflex
    Atmung
    Schmerzreiz
    Würgereiz bei Fremdmaterial im Rachen (Spatel)

    Wenn alle überprüften Dinge negativ ausfallen, ist der Patient tot. Ich diskutiere mit Dr. Risiki, ob es sinnvoll ist, den Patienten weder zu entkleiden noch andere, sichere Todeszeichen zu überprüfen. Wie zum Beispiel Totenflecken. Sicherlich bei der dunklen Hautfarbe nicht so einfach, aber möglich. Auch wir in Deutschland üblich, wird nicht in jede Körperöffnung geschaut. Auch eine Vergiftung kann durchaus in Frage kommen. Aber das wird hier nie gemacht. Es hätte keine Konsequenz. Letztlich ist die Diagnose Meningitis immer noch eine Verdachtsdiagnose. Todesursache laut amtlicher Bescheinigung: Natürlicher Tod – Bakterielle Meningitis. An diesem Tag ist es wieder klar, wie privilegiert wir sind als Europäer. Das Glück und der Zufall, wo wir geboren werden, bestimmen über Leben und Tod. Gewonnen in der Lotterie des Lebens haben die, die in einem westlichen Staat geboren werden.

    Am Abend sitzen wir beim Essen zusammen. Es gibt Nudeln mit einem hervorragenden Tomatensalat. Der Salat hat eine ganz leichte Ingwernote. Definitiv eines der Dinge, die ich in Deutschland auch probieren werde: Ingwer ins Dressing! Wärmste Empfehlung. Als Beilage gibt es Grünkohl und bitter gekochte Tomaten. Die schmecken wie sie heißen... Als es klingelt, freuen wir uns. Es ist Juven, unser Haus- und Hofschneider. Ich habe einiges bei ihm in Auftrag gegeben, und heute bringt er die endgültigen Schnitte. Eins von den Teilen ist eine entspannte Hose mit Taschen und Gummizug, ein bisschen wie eine Jogginghose. Aber diese sitzt wie angegossen. Meine erste maßgeschneiderte Jogginghose. Wer hätte das gedacht? Kostenpunkt für den Stoff: 10 Euro, für die Fertigung der Hose: 3 Euro. Wahnsinn. Zur Belohnung und ein wenig, um die Erfahrungen des heutigen Tages zu verdauen, gibt es Süßes aus meinem Vorrat. Morgen nehme ich mir als Erster vor, nach der Patientin mit dem Schlaganfall zu schauen. Für heute lasse ich es gut sein.
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