• Ausweg Selbstständigkeit

    November 7, 2024 in Tanzania ⋅ ☀️ 19 °C

    Die Herausforderung in Tansania Arzt zu werden | Dr.Rizikis Ausstiegspläne | Vorbereitungen zur Abreise

    Als ich an diesem Morgen meine Augen zum ersten Mal ein wenig aufmache, bohrt sich das Sonnenlicht durch den leicht vergilbten Vorhang. Ein leichter Wind bewegt das Klappfenster hin und her. Mit einem sanften Quietschen werde ich aus meinen Träumen geholt. Ich schaue auf mein Handy. Halb sieben, beziehungsweise 0:30, wie wir es hier pflegen zu rechnen. Die Zeitrechnung des Tages beginnt bei uns nicht mit 0:00 in der Nacht, sondern mit 6:00 Uhr morgens. Also ist es erst 0:30. Ich drehe mich noch einmal unter meinem Moskitonetz um. Schlafen klappt aber nicht mehr. Dazu ist es einfach zu hell. Wie so oft schaue ich, ob ich etwas in dieser Welt verpasst habe. Nach den Ereignissen in Amerika, die uns hier komplett fassungslos gemacht haben, erwarte ich nichts Spannendes in der Tagesschau-App. Wurde aber eines Besseren belehrt. Eine Schlagzeile nach der anderen. Ampel-Aus in Deutschland. Auch das noch. Zum Glück bin ich tausende Kilometer weit weg. Die Sonne scheint mir ins Gesicht und gleich gibt es ein leckeres Frühstück mit frischen Avocados und Tomaten. Was in Deutschland los ist: Sorgen von morgen!

    Nach dem Frühstück geht’s auf die Innere Station. Dr. Riziki wartet dort schon auf mich, und als ich mit frischer Energie um die Ecke komme, ruft er Dr. Elaina an. Die kubanische Fachärztin ist erstaunlich gut drauf. Wir machen uns zusammen auf den Weg zu den Patienten der Station. Dr. Riziki ist mittlerweile zu einem guten Kumpel geworden. Er bezieht mich immer wieder in die Überlegungen ein, welche Diagnosen wir den Patienten stellen müssen. Mal zeigt er mir, welche Laborwerte vom Vortag ausschlaggebend sind, mal führen wir zusammen eine körperliche Untersuchung durch. Immer wieder fragt er mich, was ich denke oder wie meine Diagnose lauten würde. Auch wenn ich unsicher wirke und natürlich oft daneben liege, weil mir die praktische Erfahrung einfach fehlt, ist es eine wichtige Übung. Alle Informationen, die notwendig sind, müssen überblickt werden. Wenn ich Symptome oder Laborwerte nicht auf dem Schirm habe, fragt er noch einmal nach. Er gibt Hilfe und möchte, dass ich möglichst viel lerne. Obwohl er selbst Intern ist (also im praktischen Jahr am Ende des Medizinstudiums), bildet er mich mit einer Leidenschaft aus, die ich wirklich gut finde. Am Ende der Visite sagt er, dass ich selbstbewusster sein soll. Viele Ideen, die ich habe, seien richtig und dass ich erst, wenn ich ins PJ starte, wirklich viel lernen werde. Ein Satz, der immer wieder im Studium fällt. So lang ist es zum Glück nicht mehr bis dahin. Tage wie heute, in denen ich als Medizinstudent eingebunden werde und meine Meinung gewertschätzt wird, motivieren mich wirklich sehr, im April ins 5. Studienjahr zu starten.

    Weil wir mit unseren Patienten schnell fertig sind, laufe ich in die Kantine und hole für das gesamte Team „Chapati“. Es sind süße Pfannkuchen, aber sie schmecken besonders gut. Die Konsistenz ist einfach sehr besonders und schwer zu beschreiben. Jedenfalls freuen sich alle über die kleine Aufmerksamkeit und ich komme mit Dr. Riziki ins Gespräch über seine ganz privaten Ziele. Er lädt mich zum Kaffee bei sich ins Wohnheim ein. Dort will er mir ein wenig mehr erzählen, weil er nicht möchte, dass die Kollegen von seinen Plänen wissen.

    In dem Gemeinschaftsraum schneidet er eine Avocado auf, während ich mich um den Kaffee kümmer. Das Zimmer ist einfach eingerichtet. Eine alte Couch, die in die Jahre gekommen ist. An der Wand hängen zwei alte Bilder, vermutlich von den ersten Interns, die hier je gewohnt haben. Auf dem Boden lehnen verschiedene Acrylbilder. In einer Hälfte des Raums steht eine Staffelei. Daneben kleine Farbtöpfe in Rot, Grün, Blau, Schwarz. Alle Farben, die man für ein Bild benötigt. Auf der Staffelei ein Bild, das gerade entsteht. Darauf ist ein Nashorn zu erkennen. Alle Bilder zeigen Tiere. „Das Beste, was Tansania zu bieten hat“, meint Riziki. Er kommt aus Moshi, direkt am Kilimandscharo. Die Natur und die Wildnis faszinieren ihn. Die Malerei nutzt er, um auf andere Gedanken zu kommen. Er ist froh, hier in Litembo zu sein, da die Arbeitsbedingungen hier angenehm sind und die Ausbildung hervorragend. In den großen Städten würde er den anderen Interns auf den Füßen stehen. Aber dann öffnet er seinen Laptop und zeigt mir eine Internetseite. Es ist eine sehr professionell gestaltete Homepage, auf der Touren auf den Kilimandscharo angeboten werden. Wer in den Serengeti-Nationalpark will, findet auch hier ein passendes Angebot. Ich bin verwirrt und frage, ob er zurück nach Moshi will, um als Guide zu arbeiten. Seine Leidenschaft ist und bleibt die Medizin. Aber nach dem PJ hier als Intern ist eine Anstellung in einem der Krankenhäuser in Tansania nicht sicher. Die Arbeit in den Häusern wird vor allem von Interns gestemmt. Und die rücken Jahr für Jahr nach. Teure Ärzte werden nur angestellt, wenn es sein muss. Deshalb baut er gerade ein Unternehmen mit seinem besten Freund auf. Damit würden sie auf europäischem Niveau verdienen. Als Arzt wäre es bei weitem nicht so viel. Große Pläne für jemanden, der eigentlich einen zukunftssicheren Beruf erlernt hat. Ich frage kritisch, warum er den langen Weg des sechsjährigen Studiums auf sich genommen hat, während ich mich über die Muffins, die er bereitgestellt hat, hermache. Man merkt ihm an, dass eine Art Ohnmacht in seiner Stimme liegt. Das medizinische System in Tansania ist desaströs. Der Regierung mangelt es an guten Ideen und vor allem Finanzen, um ein flächendeckendes Gesundheitssystem einzuführen, das die gleichen Standards hat. Private Investoren und in vielen Regionen auch die Kirchen nutzen dies, um Geld zu verdienen. Wobei die kirchlichen Träger zumindest einen hohen Standard vorweisen. Wir sprechen über das Universitätsklinikum in Düsseldorf. Ich zeige ihm einige Videos, wie unsere Klinik aussieht. Ich wollte es erst nicht machen, da ich Sorge hatte, es würde Riziki runterziehen. Aber er ist sehr interessiert. Er findet allein die Architektur faszinierend und er sagt auch, dass Europa das Ziel vieler seiner Mitstudierenden ist, allerdings sind die Hürden so hoch, dass kaum einer es letztlich schafft. Für Riziki, so sagt er, ist die Selbstständigkeit am Ende auch ein möglicher Ausweg aus der Arbeitslosigkeit, falls niemand einen teuren Arzt einstellen will. Sein Wunsch wäre es, hier in Litembo Chirurg zu sein. Er erzählt daher niemandem von seinem Vorhaben im Hintergrund, weil sonst würde er hier keine Zukunftsperspektive haben.

    Nach einer Stunde Austausch über unsere Studienzeit und den Ablauf gehen wir zurück in die Klinik. Es sind nur einige wenige Meter, da das Wohnheim der Interns direkt am Gelände angrenzt. Die Dame mit dem Schlaganfall von gestern erwartet uns. Sie hat die vierstündige Fahrt von Litembo nach Songea zum CT überstanden. Die Bilder erhält Dr. Riziki auf dem kurzen Dienstweg. Bei WhatsApp zeigt er mir das CT-Bild vom Kopf der Patientin. Der Radiologe in Songea verschickt sie als Video-Nachricht, während er durch die Bilder klickt. Um zu verstehen, warum ich mich wundere, mache ich einen müden Ausflug in die Theorie der Radiologie. Ein Schlaganfall kann zwei Ursachen haben. Entweder blutet man aus einem Gefäß ins Gehirn, alle Areale dahinter werden demnach nicht mit Blut versorgt und es kommt zur bekannten Symptomatik. Oder ein Gefäß ist verschlossen, der Blutfluss also gestoppt. Auch hier ist das Hirnareal hinter diesem Verschluss nicht durchblutet und stirbt ab. Eine frische Blutung ist in einem CT-Scan leicht zu sehen. Möchte man Gefäße in einem CT-Scan darstellen, so benötigt man Kontrastmittel, welches die Gefäße sichtbar macht. Um zu verstehen, wo das Gefäß also verschlossen ist und welche Regionen des Gehirns in Mitleidenschaft gezogen sind, ist ein Kontrastmittel-CT indiziert. (In Deutschland gehört dies zur Routine-Diagnostik bei einem akuten Schlaganfall). Die Patientin, die 4 Stunden zum CT gefahren wurde und 4 Stunden zurück, erhält aber nur eines ohne Kontrastmittel. Wir sehen auf der Aufnahme: Es ist keine Blutung. Die gesamte rechte Hirnhälfte ist untergegangen. Ein Pflegefall für die Familie. Dr. Riziki meint, es bestehen Chancen, dass die Patientin in einigen Monaten sogar wieder laufen könne. Ich bin mir allerdings sicher, dass ein solches CT-Bild absolut nicht dazu passt. Auch als ich nachfrage, warum kein Kontrastmittel gegeben wurde, merke ich, dass Dr. Riziki schlicht nicht routiniert ist. Er gibt ehrlich zu, dass er weder Radiologe noch Neurologe ist und dachte, dass Kontrastmittel schädlich sei. Die Qualität dieser Versorgung ist alles andere als gut. Die Familie ist jedoch dankbar und erleichtert, dass die Diagnose bestätigt wurde. Verrückt, denke ich. Der Mann der Patientin bedankt sich sogar bei mir, dass ich ebenfalls an der Behandlung beteiligt bin. Ich nehme seinen Dank an, da es unfreundlich wäre, es nicht zu tun, wenn ein Familienoberhaupt dies hier ausspricht. Aber ich sage Dr. Riziki, dass er ausrichten soll, dass ich an diesem Fall lerne und nicht behandle. Für Angehörige ist es eine Ehre, wenn weiße Menschen an der Behandlung beteiligt sind. Ein Kult um weiße Menschen, den ich nie verstehen werde.

    Am Abend geht es an den Koffer. Ich lege einige Sachen zusammen und bereite mich auf die Abreise vor. Es wird ab Samstag eine anstrengende, aber sehr interessante Zeit. Einige Stopps und Unterkünfte habe ich bereits gebucht. Ich freue mich sehr. Es ist auch eine Belohnung für die vergangenen Jahre und ich habe nicht vor zu sparen, sondern zu leben!

    Bevor ich mich ausruhe und den Tag ausklingen lasse, stehen noch einige Anrufe in die Heimat an. Ich sehe meine Eltern und meine geliebte Tante wieder. Ein herzliches, wohltuendes Wiedersehen. Inklusive kleiner Fortbildung im Anhang per Mail verschicken. Aber das mache ich gerne. Kontakt in die Heimat bleibt für mich wichtig. Auch aufgrund der Erlebnisse hier. Weil ich aber auch weiß, dass es ihnen gut tut, nicht nur mir. Und weil ich ja noch einige Zeit unterwegs sein werde. Nicht nur in Tansania…
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