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  • Kinderreiche Regenrettung

    May 5 in Turkey ⋅ ☁️ 16 °C

    Wie mit unserer Gastfamilie verabredet stehen wir um 8 Uhr auf und bekommen als erstes einen türkischen Kaffee serviert. Es folgt ein reichhaltiges Frühstück und dann ist es an der Zeit, Abschied von Burak und seiner Familie zu nehmen. Die Räder, die wie wir in der Wohnung übernachtet haben, werden in den Vorgarten verfrachtet und beladen. Um das Erinnerungsfoto kümmert sich Beyzan, die angesichts einer allergisch bedingten "dicken Lippe" lieber hinter der Kamera bleiben möchte. Wir rollen winkend vom Hof und zurück auf die uns von gestern bereits bekannte Hauptstraße. Am Ortsende ändert sich die Größe der Straße ebenso wie der Untergrund drastisch. Fortan haben wir auf einer schmalen Piste Schotter unter den Reifen, hin und wieder abgelöst durch Wasser. An mehreren Stellen ist der Weg überflutet und wenn die Bodenbeschaffenheit oder die Wassertiefe kein vorsichtiges Durchfahren oder Durchschieben erlauben, ist Abladen und Einzelteile tragen angesagt. Für ein Teilstück wechseln wir kurzzeitig wieder auf die Hauptstraße, dort nervt aber der Verkehr. Also holpern wir doch auf Schotter weiter und kühlen zwischendurch beim Durchwaten der überschwemmten Abschnitte unsere Füße, wir haben ja Zeit...! Entlang des Weges kommen wir an vereinzelten kleinen Häusern vorbei, plötzlich rufen uns von zwei Grundstücken Menschen zu. Sowohl auf der rechten als auch auf der linken Wegseite winkt man uns heran und möchte uns zum Tee einladen. Die Entscheidung ist nicht leicht, wir wollen ja niemanden vor den Kopf stoßen. Ganz pragmatisch biegen wir auf das Grundstück ab, dass am dichtesten liegt. Während die Frau uns türkischen Kaffee vorbereitet, führt der Mann uns durch seinen Garten. Dieser dient der Selbstversorgung und es wächst dort tatsächlich von Obst bis Gemüse alles, was das Herz begehrt. Dazu wuseln noch ein Hund, eine Katze und viele Hühner auf dem Grundstück herum. Wir erfahren, dass die Familie durch das Erdbeben ihr Haus verloren hat und deshalb nun hier lebt. Eine Weile sitzen wir mit dem Ehepaar sowie einem etwas größeren und einem kleinen Mädchen am Tisch, trinken Kaffee und essen die ebenfalls servierten Süßigkeiten. Im Verlauf gesellt sich noch der Bruder unseres Gastgebers, der auf einem Traktor angeknattert kommt (und unbedingt fotografiert werden will) dazu. Als wir die Weiterfahrt antreten wollen, müssen wir feststellen, dass die Nachbarn des schräg gegenüberliegenden Hauses uns nicht vergessen haben. Erneut winken sie und rufen: „Çay, Çay!“ So nett und durchaus verlockend das natürlich ist, wir können einfach nicht alle paar Meter Tee trinken und türkische Köstlichkeiten futtern. So belassen wir es bei einem Gruß und radeln weiter. Der Himmel zeigt sich zunehmend bewölkt und es fallen zwischendurch immer mal wieder ein paar wenige Regentopfen. Am frühen Nachmittag nimmt die Anzahl der Tropfen dann aber leider in einem solchen Umfang zu, dass wir von echtem Regen sprechen müssen und der dunkelgraue Himmel verheißt für den Rest des Tages nichts Gutes. Wir sind schon reichlich nass, als wir eine überdachte hölzerne Sitzgruppe auf einem Schulhof erreichen und Schutz suchen. Abwarten und im wahrsten Sinne des Wortes Tee trinken, so lautet zunächst unserer Devise. Die Zeit verstreicht und es wird weder trockener noch gemütlicher, obendrein frieren wir inzwischen nicht zu wenig. Nun ist guter Rat teuer, zumal unser Zelt zwar bei gutem Wetter super ist, aber bei ausgeprägter Nässe von oben dezente Schwächen aufweist…! Idee Heiko: „Wir könnten zu einem Hotel fahren. Das nächste ist 38km entfernt, um acht könnten wir da sein.“ Claudia reagiert mittelbegeistert und formuliert eine halbherzige Gegenidee: „Ich gehe mit dem Regenschirm durch das Dorf und guck mal, ob ich eine überdachte Zeltoption sehe.“ Gesagt, getan, Claudia stapft in Flipflops mit Regenschirm durch die nassen Straßen. Nach wenigen Schritten ist die Sackgasse einer kleinen Straße erreicht, wo eine Frau auf Claudia aufmerksam wird und sie anspricht. Und da haben wir den Salat…, GUCKEN wollte Claudia nach einem möglichen Lagerplatz, SPRECHEN in türkischer Sprache ist dagegen ganz klar Heikos Fachgebiet. Der sitzt aber auf dem Schulhof und die Frau versteht natürlich kein Englisch. Okay, dann also die wenigen bekannten türkischen Vokabeln „turistler, Almanya, bisiklet, çadır, bir gece, eşim, okul“ aufsagen und mit mehr oder weniger gekonnter Mimik und Gestik zu einem Anliegen verbinden, das hoffentlich zumindest ansatzweise verstanden wird. Inzwischen hat sich auch eine Schar von Kindern unterschiedlichen Alters eingefunden und beteiligt sich rege an der Auflösung des Rätsels. Um dem Scharade-Spiel im Regen auf die Sprünge zu helfen, zückt die Frau ihr Telefon, ruft jemanden an und hält Claudia das Telefon hin. Bei der Stimme am anderen Ende handelt es sich um ihren Bruder, der ein Juweliergeschäft in Antalya betreibt und deutsch spricht, juhuuu! Alles kein Problem heißt es am Ende und dann werden wir (mal wieder) von einer riesigen Welle Gastfreundschaft überrollt. Die Kids wollen Claudia nicht mal mehr zurück zur Schule gehen lassen, sondern am liebsten Heiko und die Räder allein abholen. Der Kompromiss ist ein gemeinsamer Gang zur Schule, wo Heiko kurz darauf von einer Horde Menschen überrascht wird. Zurück am Haus wird uns eine große Garage geöffnet, wo wir unsere Räder parken können, dann werden wir in das sehr geräumige Wohnzimmer gebeten. Schon auf dem Weg zum Haus hat ein Junge Heiko als Fußballgesprächspartner auserkoren, nun schenkt er ihm ein Trikot seines Lieblingsvereins Fenerbahçe Istanbul, welches sofort angezogen wird. Wir werden auf dem Sofa platziert und alle Menschen, ob groß oder klein, sind um unser Wohlbefinden bemüht. Ein Heizstrahler wird eingeschaltet und direkt vor uns aufgestellt, wärmende Kleidung wird herangeschafft, die wir anziehen sollen (Widerstand zwecklos…) und in der Küche wird Tee und etwas zu essen vorbereitet. Innerhalb kürzester Zeit steht eine komplette Mahlzeit vor uns. Die Herzlichkeit dieser Menschen, bei denen sich uns die familiären Zusammenhänge nicht vollständig erschließen, ist kaum in Worte zu fassen. Wir verleben, vor allem auch dank der vielen Kinder, einen kurzweiligen Abend. Ob es der geschätzt dreijährige Junge ist, der mit uns herumtobt, die etwa zehnjährige Betül, die mit Heiko Bilder malt, die hinreißende zwölfjährige Sultan oder die etwas älteren Mädels (leider erinnern wird nur den Namen Zeynep…), die ihre Schulenglischkenntnisse zum Besten geben, sie alle machen den Tag zu einem unvergesslichen Erlebnis. Uns beschleicht eine leise Vorahnung, als wir plötzlich wieder verdächtige Geräusche und Gerüche aus der Küche wahrnehmen, die Bestätigung lässt schließlich nicht lange auf sich warten. Noch satt von der üppigen Begrüßungsmahlzeit teilt man uns mit, dass das Abendessen nun fertig sei. Auch der Familienvater ist inzwischen eingetroffen und nun sitzen wir alle gemeinsam auf dem Fußboden um eine Decke herum, auf der immer mehr gefüllte Schüsseln und Teller abgestellt werden. Das Essen erweist sich als Hochgenuss, von der perfekt gewürzten Suppe und dem Hühnchengericht mit orientalisch angehauchtem Reis bis hin zu den vielen Beilagen sind wir restlos begeistert. Satt, satter, am sattesten – wir sind definitiv bei Stufe 3 angekommen. Im Hinterkopf schwirrt allerdings noch leise und bedrohlich die Frage, die Zeynep irgendwann zwischendurch gestellt hat: „Mögt ihr Pudding?“ Es ist kaum zu glauben, aber auch an dieser Stelle haben wir die Familie unterschätzt. Der nächste Gang wird hereingetragen, jeder erhält einen Teller mit zwei Stücken von in Sirup getränktem Kuchen und uns beiden wird ZUSÄTZLICH noch je eine rosa Schale mit selbstgemachtem Schokoladenpudding kredenzt, puh! Um zu verhindern, dass wir platzen, verschieben wir den Verzehr des Puddings auf das morgige Frühstück und lassen auch die Finger von den im Raum verteilten Nusstellern. Ein paar Gläser Tee schlürfen wir noch in Gesellschaft, bevor die allgemeine Nachtruhe eingeläutet wird. Mitten im großen Wohnzimmer richtet man uns ein Lager her. Müde und reichlich übersättigt, aber auch unfassbar dankbar für diese Begegnung machen wir die Augen für heute zu.Read more