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  • Hotel Nikopolis

    May 6 in Turkey ⋅ ☀️ 17 °C

    Als wir am Morgen aufstehen, ist der Familienvater bereits wieder bei der Arbeit und einige Kinder schon in der Schule, Zeynep und Betül verabschieden sich gerade und verlassen das Haus. Sultan verzichtet heute auf den Schulbesuch, weil wir da sind, wie sie uns erklärt. Ein wunderbares Frühstück genießen wir noch in diesem gastfreundlichen Haus, bevor die Zeit des Aufbruchs gekommen ist. Sultan zeigt uns noch kurz die zwei Kühe der Familie und wie üblich wird noch das eine oder andere Foto gemacht. Ein bisschen bereuen wir, nicht gestern schon ein gemeinsames Bild gemacht zu haben, wo am heutigen Morgen diverse Familienmitglieder leider nicht mehr da sind. Zum Abschied werden uns noch reichlich Geschenke überreicht: Neben Socken für uns beide gibt es zwei Gläser Oliven, ein Glas Sesampaste, Kuchen und reichlich Sesamkekse alles aus eigener Produktion…! Wir verstauen alles in den Packtaschen, verabschieden uns und radeln schließlich winkend vom Hof. Ein paar kleine Wattewölkchen zeigen sich am ansonsten blauen Himmel, als wir wieder über den Asphalt rollen. Nach etwa drei Kilometern erreichen wir den Ort Aktepe, wo wir unsere Wasservorräte auffüllen. Es ist ein sehr quirlig lebendiger Ort. Rechts und links der Straße herrscht emsiges Treiben, während auf dem Mittelstreifen viele Menschen auf kleinen Holzstühlen unter Palmen sitzen und Tee trinken. Nachdem Aktepe hinter uns liegt, werden wir doch etwas überrascht von der Landschaft die uns nun erwartet. Auf einmal befinden wir uns inmitten riesiger Lavafelder, die gespickt sind mit kleinen Olivenbäumchen. Eine Recherche zu dieser Gegend in der Provinz Hassa ergibt, dass wir hier in einer Ova („Landschaft, Ebene“) tektonischen Ursprungs unterwegs sind, die in seismisch aktiven Teilen der Türkei vorkommen. Der durch Hassa ziehende Antakya-Kahramanmaraş-Graben ist ein Gebiet, in dem verschiedene tektonische Strukturen nebeneinander existieren und die tektonische Aktivität sehr intensiv ist. Auf beiden Seiten des Grabenfeldes existieren Verwerfungslinien. Während die Verwerfungszone des Toten Meeres den östlichen Teil der Grabenlinie begrenzt, begrenzt die ostanatolische Verwerfungszone den westlichen Teil des Grabens. Fasziniert radeln wir durch die an Island erinnernde „Mondlandschaft“, durch die auch die eine oder andere Ziegenherde getrieben wird. Die heutige Etappe konfrontiert uns aber mit noch einer weiteren Besonderheit, nämlich der unmittelbaren Nähe zur syrischen Grenze. Diese Tatsache stimmt uns angesichts der Lage in diesem Land mal wieder nachdenklich und die Brisanz dieses Grenzgebietes wird durch folgende Begegnung verdeutlicht: Der Fahrer eines Traktor fährt hinter uns her und hält an, um uns davon abzuhalten, dieser Straße weiter zu folgen. In der Richtung würde es nach Syrien gehen und wir sollten unbedingt umkehren und einen anderen Weg einschlagen. Er gibt uns einen Tipp, wie wir am besten zu einer größeren Straße gelangen, der wir dann über die Stadt Kilis nach Gaziantep folgen können. Obwohl laut unseren Navis die von uns gewählte Strecke lediglich parallel zur Grenze verläuft und die empfohlene Route auf den Geräten gar nicht verzeichnet ist, vertrauen wir dem sehr eindringlich formulierten Rat des Traktorfahres und folgen einer kleinen Straße durch die Lava. Als wir ein kleines Dorf erreichen und in einem Laden Wasser kaufen wollen, werden wir direkt von drei Männern zum Tee eingeladen. Auch sie erwähnen, dass wir an dieser Stelle nur drei Kilometer von der syrischen Grenze entfernt sind und bestätigen die Empfehlung der Route über Kilis nach Gaziantep. Um uns auf den rechten Pfad zu bringen, begleitet uns einer der Männer auf seinem Moped ein Stück des Weges. Wieder zu zweit erreichen wir nach einer Weile eine Kreuzung, an der wir eine Entscheidung hinsichtlich der weiteren Fahrt treffen müssen. Biegen wir auf die Hauptstraße ab und radeln auf direktem Weg über Kilis weiter nach Gaziantep oder überqueren wir die Kreuzung, um wieder auf unsere ursprünglich geplante Route zu stoßen, um dieser zu folgen? Während wir diesbezügliche Überlegungen anstellen, kommen mehrere Menschen aus einem sich in Sichtweite befindlichen Zeltlager mit Eimern und anderen Gefäßen vorbei, um auf der gegenüberliegenden Straßenseite an einem Brunnen Wasser zu holen. Bei diesem Lager scheint es sich nicht um eine Unterkunft für Erdbebenopfer zu handeln, ohne es genau zu wissen vermuten wir eher ein syrisches Flüchtlingscamp. Wir entscheiden uns schließlich gegen die verkehrsreiche Hauptstraße und für die weitere, aber vermutlich ruhigere Nebenstrecke, die auf unseren Navis gespeichert ist. Mittlerweile ist die Zeit auch so weit fortgeschritten, dass die Suche nach einem Zeltplatz eingeläutet werden sollte. Die eine oder andere Option wird inspiziert, aber irgendwie kann Heiko sich nicht mit dem Gedanken anfreunden, hier die Nacht zu verbringen. Manchmal ist es einfach so, dass man sich aus rational nicht erklärbaren Gründen in einer Umgebung nicht wohlfühlt, so geht es Heiko hier und heute. Obwohl die Landschaft total schön ist und faktisch eigentlich nichts anders ist als sonst, passt einfach das Gefühl nicht. Da es aber wichtig ist, dass wir uns stets beide wohlfühlen, beschließen wir, heute auf eine Übernachtung im Zelt zu verzichten und einen kleinen Umweg zu einem Hotel in Kauf zu nehmen. Das übliche Päuschen findet natürlich trotzdem statt, schließlich muss ja auch der geschenkte Kuchen verzehrt werden. Nicht weit vom Ziel entfernt durchqueren wir ein Weinanbaugebiet, wo wir einen deutschsprachigen Türken treffen. Er erzählt uns, dass er durch das Erdbeben sein Haus verloren hat und sich daraufhin eine Hütte auf seinem Weinfeld gebaut hat, was eigentlich nicht erlaubt ist. In der Ferne können wir bereits die gleichförmigen großen Häuser an unserem Zielort İslahiye ausmachen. Je näher wir kommen, desto deutlicher erkennen wir, dass hier riesige neue Wohngebiete gebaut werden und zu einem großen Teil bereits fertig sind. Das schicke, neu eröffnete Hotel Nikopolis befindet sich in unmittelbarer Nähe. Wir checken ein, beziehen unser geräumiges Zimmer und stellen einen Kontrast bei den verschiedenen Ausblicken aus den Fenstern des Hotels fest, der wahrlich bizarr ist: Schaut man aus dem Fenster des Speisesaals, blickt man auf den Hotelpool und die dazugehörigen Sonnenliegen. Zieht man hingegen die Gardine am Fenster unseres Zimmers zurück, schauen wir direkt auf das benachbarte Containerlager für Erdbebenopfer. Das Lager scheint nicht mehr vollständig bewohnt zu sein, aber vereinzelt hängen durchaus bestückte Wäscheleinen in den Gängen zwischen den Containern, spielen Kinder und parken Autos davor. Wir können uns nicht ganz frei machen von diesen Bildern, als wir am Ende eines langen Tages in die Hotelbetten fallen...Read more