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  • Day 13

    10 Nájera – Santo Domingo de la Calzada

    August 9, 2022 in Spain ⋅ ☀️ 32 °C

    Nun bin ich glücklich in Santo Domingo de la Calzada angekommen. Ich bin in Najerá wieder früh losgekommen und war schon um kurz nach acht im 5 km entfernrten Azofra, wo es das übliche Frühstück gab: Café con Leche, Zumo de Naranja und Croissant. Meine veganen Prinzipien muss ich hier übrigens über den Haufen werfen.
    Dann gab es eine lange Durststrecke: 10 km übers Feld und immer bergan. Oben gab es einen Getränkestand am Stoppelfeld und einen Rastplatz mit Bänken im Schatten - Gott sei dank! Da habe ich auch das universelle Pilgerwort gelernt, das in allen Sprachen verstanden wird: „örg“ - beim Aufnehmen des Rucksacks.
    Nun ging es noch einmal 7 km bergab.
    Weit hinten auf der linken Seite, also im Süden, wuchs die Sierra de la Demanda - das Gebirge der Fragen - auf über 2.000 m empor. Das Gebirge liegt da wie eine geöffnete ausgestreckte Hand mit dem Handgelenk und Puls bei Santo Domingo. Nach einer alten Legende soll hier einer der Standorte der Gralsburg gewesen sein.
    Etwas anderes ist besonders an Santo Domingo de la Calzada. In der Kathedrale gibt es einen Holzverschlag mit einer weißen Henne und einem weißen Hahn. Dazu gibt es eine schaurig-verklärte Geschichte von verschmähter Liebe, Rache und falsche Anschuldigung, Galgentod und Rettung durch Santo Domingo. Die will ich aber gar nicht erzählen.
    Man (wer genau?) erzählt sich auch, dass der Camino de Santiago ein Weg war als Vorbereitung zu einer Einweihung. Wer in Santiago für vorbereitet erwählt wurde, bekam die Anweisung, zurückzugehen, bis an die Stelle, wo der Hahn kräht, was damals ein Synonym dafür war, erweckt zu werden. Und das war in Santo Domingo und südlich davon wurde der Gral aufbewahrt.
    Vor einigen Jahren haben ein paar Freunde und ich einmal danach gesucht. Wir haben ihn nicht gefunden, weil heute kann ein Mensch ihn augenscheinlich nicht mehr da draußen finden, vielleicht nur noch innerlich erleben. Wir sind mit dem Auto im aufsteigenden Nebel über eine schmale Straße einmal rund um den Kamm der Sierra gefahren - es war eine mystische unwirkliche Stimmung.
    Nun ja.

    ******
    Auf dem Weg heute hat mich über eine lange Strecke mein Vater begleitet. Er ist nun schon lange tot - fast 19 Jahre. Er wurde 77 Jahre alt.
    Es gibt so eine Anschauung, die besagt, dass ein Mensch sein Leben nach dem Tod rückwärts durchläuft - und zwar drei Mal so schnell. Dabei arbeitet er oder sie alles, was sie oder er erlebt hat, noch einmal auf. Der Rest kommt in einen „karmischen“ Rucksack und wird fürs nächste Leben aufbewahrt.
    Wenn mein Vater also vor 19 Jahren mit 77 gestorben ist, ist er, was die Überarbeitung seines Lebens betrifft, in seinem 20. Lebensjahr angekommen. (3 x 19 = 57 | 77 - 57 = 20. das ist Biographiearbeit, einrs meiner Steckenpferde)
    Das war - er ist 1926 geboren - 1946. Der Krieg war gerade zu Ende. Er war noch als 17-jähriger zur Kriegsmarine eingezogen worden und ist auf einem Schnellboot in Frankreich an der Kanalküste und in der Ostsee gewesen. Was mag er da erlebt haben? Ich weiß es nicht. Wie so viele andere dieser Generation war er verstummt.
    Ich habe lange damit gehadert, habe, wenn ich etwas wissen wollte, provoziert - das war in den 70er Jahren - aber ein Dialog hat so natürlich nicht stattfinden können.
    Erst als ich bereit war, die Fakten, Bewertungen und Schuldzuweisungen beseite zu lassen und auf meine Empfindungen zu lauschen, hat sich etwas geöffnet. Ich weiß noch, wie erschüttert ich war, als ich realisierte, wie die Jugendjahre meines Vaters durch Nationalsozialismus und Krieg besetzt waren. 1933 war er 7 Jahre alt, kam gerade in die Schule - da wo Jugendliche schwärmen und ihren Idealen folgen, zog er in den Krieg - und mit 19 kam er zurück und stand vor einem Scherbenhaufen: alles, wofür er sich begeistert hatte, war nicht nur nichts, es war ein Weg in die Irre gewesen. Ich könnte heulen.
    Und dann dieses Ertragen und Aushalten, diese Angeklagt sein. Ich verstehe heute diese Stummheit.
    Kurz vor seinem Tod saßen wir zusammen auf der Terrasse eines Restaurants. Wir sprachen nicht, es herrschte so ein Frieden zwischen uns, alles war vergeben - nur noch tiefes Mitgefühl. Ich bin so dankbar für diesen Moment.
    Daran dachte ich heute als ich an all den Stoppelfeldern vorbeistapfte. Das ist nämlich auch ein Teil unserer Geschichte: im Sommer stunden/tagelang nebeneinander auf dem Mähdrescher zu hocken - in Stille - zum Reden und Zuhören wäre es da sowieso zu laut gewesen. Es war ein miteinander eins sein.
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