• Mouraria oder "Fado heißt Schicksal"

    April 19 in Portugal ⋅ ⛅ 15 °C

    Der Stadtteil Mouraria verdient einen separaten Footprint. Denn nirgendwo ist Lissabon ursprünglicher, ist mehr das alte, das echte Lisboa hinter der Kopie der Kopie. Amalia Rodrigues, von der ich mir mit zwanzig eine Schallplatte gekauft habe, hat Mouraria ein Lied gewidmet, in dem geht es um Nachtigallen auf Dachtraufen, um rosafarbene Kleider, Prozessionen und eine schluchzende Gitarre. Mouraria liegt nicht einfach am Weg, man muss hinfinden. Zumal so ein Stadtteil, ebenso wie die Alfama, nicht auf einem Hügel thronen kann, sondern sich mit dem Schatten darunter begnügen muss. 

    Wir sind durch einen kleinen Park geschlendert, vorbei an Häuserfassaden und narbigen Wänden, geschmückt mit Streetart, die vor Vitalität und praller Farbigkeit nur so strotzt. Dann sind wir über viele, viele Stufen hinab auf den Grund Lissabons gestiegen. Hier sind die Gassen eng, die Gebäude verschachtelt, die Plätze überraschend und verschwiegen, als legte jemand einen Zeigefinger auf die Lippen und flüsterte „Pst!" In warmem Hellgrün, Gelb, Blau oder Rosa getünchte Häuser sind Mangelware. Sogar der Frühling zögert. In Mouraria dominieren Weiß-, Braun- und Grautöne, aber in unendlichen Variationen. Vor gefliestem Mauerwerk bläht sich Wäsche, Tauben flattern auf. Gesichter erscheinen an Fenstern, nur um wieder zu verschwinden.

    Mouraria. An diesem Flecken, an dem sich einst freigelassene Sklaven niedergelassen haben, ist vor zweihundert Jahren der Fado geboren worden. Die Fotokünstlerin Camilla Watson hat den Wegbereiterinnen und Protagonistinnen eines ehemals anrüchigen Musikstils Denkmäler gesetzt. Überall im Viertel stößt man auf Schwarzweißaufnahmen von ihnen an Hauswänden. In ihren Augen brennt Lebensfreude gepaart mit Schwermut.

    Hier mal zwei Wochen wohnen, denke ich. Abends in der Kneipe Os Amigos da Severa sitzen. Eintauchen in ein Lebensgefühl, das uns Gegenwartsmenschen verloren gegangen ist, hier aber noch seine Nistplätze hat, die Ideen sprießen lassen könnten - für Geschichten, einen Roman … Vielleicht über Maria Severa Onofriana, das Freudenmädchen, das in diesem Viertel groß geworden ist mitsamt dem Fado, den sie groß gemacht hat. Ich stelle sie mir vor, sehe und höre sie in Mourarias verrauchten Kaschemmen singen von dem, wovon Fischer und Seeleute träumen, während sie Vinho verde trinken und Sardinhas oder Pasteis de Bacalhau essen. Ich stelle mir Maria Severas Mama, die Roma-Schankwirtin Ana vor, wie sie Gewürze in den Schatten ihres Vorgartens am Largo da Severa pflanzt, damit hier irgend etwas wächst. Und wie sie sich eine Zukunft für ihre Tochter wünscht, eine bessere oder überhaupt eine. Ob die Geschichte stimmt, dass Maria eine Liebschaft mit einem Grafen mit unendlich langem Vornamen hatte, oder ob es doch nur eine Mär à la Aschenputtel ist? Amalias Liedtext zu 'Ai Mouraria' erzählt auch von schelmischen Blicken, von Täuschung und Verrat. Sicher ist, dass Maria Severa ein sehr kurzes Leben hatte. Sie starb 1846 mit nur 26 Jahren an Tuberkulose. Oder vielleicht doch an gebrochenem Herzen, das sie in den Selbstmord trieb? Ihre letzte Ruhe(?) fand sie laut Wikipedia in einem Massengrab auf dem Lissaboner Friedhof Alto de Sao Joao.
    Übrigens: Fado heißt Schicksal.

    Guntrun
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