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  • Day 62

    Tiefpunkte und Lichtblicke

    January 20 in New Zealand ⋅ 🌩️ 21 °C

    Es ist nicht leicht, jeden Tag aufs Neue zu starten und loszulaufen. Manchmal habe ich schon nach 10 Minuten keine Lust mehr. Danny möchte oft wissen, bei welchem Kilometer wir gerade sind. Wenn ich dann auf der App nachschaue und ihm die Zahl sage, rechnet er aus, wieviele Stunden wir bis zum Ziel noch benötigen. „Wenn wir weiter so laufen wie bisher könnten wir in 5-6 Stunden da sein“, sagt er. Mich frustriert das manchmal eher, weil es noch so lang klingt und ich gar nicht weiß, ob ich oder wir dieses Lauftempo durchhalten. Das kommt auch immer sehr aufs Höhenprofil an.

    Heute laufen wir den Fisher‘s Track. Er wird hier eher als Mountainbike-Tour beworben. Das Wetter sieht trüb und nach Regen aus. Gleichzeitig ist es schwülwarm und ich überlege die ganze Zeit, ob ich die Regenjacke anlassen soll oder nicht. Anlassen bedeutet, man schwitzt unten drunter wie verrückt und ist nass vom eigenen Schweiß. Nicht anlassen bedeutet, wenn der Regen schlagartig einsetzt (und das geht hier schneller als man denkt), ist man ebenfalls sofort nass. Ich kann also zwischen nass von innen oder nass von außen wählen.

    Das erste Stück Weg ist wieder Schotterstraße und geht leicht bergauf. Von der Umgebung sehen wir aktuell noch nicht sehr viel, der Weg ist links und rechts sehr hoch mit Bäumen bewachsen. Wir laufen nebeneinander her, reden nicht und unter unseren Schritten hören wir das Geräusch der Schottersteine. Der Rucksack drückt auf meine Schultern. Ich spiele mit dem Gewicht und ziehe an den verschiedenen Riemen. Keine Einstellung ist wirklich perfekt. So geht das eigentlich schon von Anfang an. Und heute habe ich es besonders satt. Ich fange an, rumzumeckern: Doofer Weg, keine Aussicht, Rucksack drückt, schwülwarme Luft, keine Lust…

    Danny ist genervt. Auf der einen Seite versteht er mich, auf der anderen Seite wünscht er sich, dass ich neben all den negativen Ausführungen auch mal was Positives sage. Ich gebe mir Mühe und strenge mich an. Die Schotterstraße hat aufgehört und wir laufen jetzt leicht bergab in ein Tal und durch üppiges Farmland. Alles sieht so wunderbar satt und grün aus.

    Es nieselt immer mal wieder, manchmal regnet es auch kurzzeitig. Wir haben beide Hunger und kochen uns am Straßenrand gefriergetrocknetes Essen. So romantisch, wie das für euch klingt, ist es aber für uns gar nicht (mehr). Wir haben das jetzt schon so oft gegessen und können es nicht mehr sehen. Über die Verträglichkeit dieser Kost möchte ich jetzt gar nicht anfangen, zu schreiben. Wir müssen nochmal nach Alternativen suchen. Heute gibt es erstmal keine. Auf dem Speiseplan steht „Chicken Teriyaki“. Heißes Wasser drauf, umrühren, ziehen lassen, fertig. Dazu gibt’s immerhin ein paar Stückchen Salatgurke und Oliven. Mampf, mampf, alles irgendwie grob ausspülen, verstauen und weiter geht’s.

    Ich höre es donnern und keine Minute später laufen wir im Starkregen. Am schlimmsten sind für mich immer die Schuhe. Matsch, platsch, quatsch schlurfen wir weiter. Nach „nass“ kommt „klamm“, kommt Geruch, kommt Gestank. Einfach nur ekelhaft.

    Abends sitzen wir mit Sharon und Roger zusammen. Sind sind Trailangel und weil weiterer Regen angekündigt ist, schlafen wir bei ihnen in der Scheune. Mal wieder ein sehr spezieller Übernachtungsort, an dem sich Hund und Katze über Bett und Sofa jagen.

    Sharon hat viel zu erzählen und es ist sehr spannend, ihre Geschichte zu hören. Wir erfahren, dass sie einen schweren Schlaganfall hatte und schlecht laufen und nicht sprechen konnte. Der Kontakt mit den Wanderern hat ihr Mobilität und Sprache zurückgegeben. Durch sie war Sharon gezwungen, zu kommunizieren und sich zu bewegen. Die Begegnung mit Fritz, einem Te Araroa Wanderer aus Holland, hat in ihr neuen Antrieb ausgelöst. Fritz war über 50, als er von den Ärzten die Diagnose Krebs bekam. Er sollte sofort die Therapie beginnen, entschied sich aber, erstmal den Te Araroa Trail zu laufen. Das hat etwas in Sharon bewegt und sie begann, Tagebuch zu führen. Sie hat sich Schritt für Schritt ins Leben zurückgekämpft. Fritz geht es soweit gut und er will Sharon noch dieses Jahr besuchen.

    Ihre Geschichte und auch die von Fritz haben etwas in mir ausgelöst, was ich noch nicht so richtig in Worte fassen kann.
    Es passiert hier jeden Tag so viel und nicht immer ist der Weg ein Zuckerschlecken, auch wenn es auf den Fotos vielleicht so aussieht. Man kämpft hier mit den gleichen Herausforderungen wie im Alltag, nur auf eine andere Art und Weise und begegnet sich im wahrsten Sinne des Wortes selbst. Es kann im ersten Moment sehr brutal sein, seinem Ego direkt ins Auge zu blicken. Gleichzeitig wird mit dieser Erkenntnis Energie freigesetzt und ein Tor geöffnet. Zu mehr Mitgefühl und Toleranz mit sich selber? Oder der Erkenntnis, den Fokus zu verlagern auf das, was schön ist? Ich weiß es (noch) nicht. Ich weiß nur: Nach Regen kommt immer Sonnenschein. Das habe ich heute erlebt.
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