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  • Tag 97

    Begegnungen am Wegesrand - Teil 12

    5. Juni 2023 in Frankreich ⋅ ☁️ 24 °C

    Auf meinem Bett in der Gîte Beilari finde ich ein kleines Karamellbonbon, das der Gastgeber dort jeden hingelegt hat. Als ich es in den Mund stecke und draufbeiße, spüre ich etwas knacken und habe plötzlich ein Stück Zahn in der Hand. Ich komme mir vor, wie in einem bösen Traum, als ich wieder nach unten gehe.
    "Alles in Ordnung?", fragt mich Joseph, der Gastgeber.
    "Ich habe ein Problem", antworte ich und zeige ihm meinen Backenzahn, an dem ein Stück fehlt.
    Joseph wirft einen Blick in meinen Mund und nickt. "Meine Frau ist Zahnärztin", sagt er seelenruhig.
    Ich falle aus allen Wolken, weil ich mein Glück nicht fassen kann.
    "Machst du Witze?!", bringe ich gerade noch heraus, weil ich so aufgewühlt bin, dass ich schon Tränen in den Augen habe.

    20 Minuten nachdem Joseph seine Frau angerufen hat, stehe ich an der Adresse am äußersten Rand von Saint-Jean-Pied-de-Port, zu der mich Google Maps geschickt hat und die mir Joseph mit einem Blick auf die Karte auch bestätigt hat. Aber hier ist... Nichts. Ein Haus, ja, aber definitiv keine Zahnarztpraxis. Verwirrt und etwas gestresst, weil Josephs Frau ausdrücklich gesagt hat, dass sie sehr im Stress ist und nur um 16:20 Uhr kurz Zeit für mich hat, versuche ich die Nummer der Gîte Beilari, aber es geht keiner ran. Als eine Frau mit dem Auto vorbeikommt, frage ich sie nach der Zahnarztpraxis, aber die Dame spricht kein Englisch. Also zeige ich ihr kurzerhand den Namen der Praxis auf Google Maps, der genau an der Stelle, an der wir stehen, eingezeichnet ist. Die Frau nickt und kennt sich plötzlich aus. Sie zeigt auf ihr Auto und will mich scheinbar hin bringen. So weit ist die Praxis weg? Wie kann das sein?
    Tatsächlich fahren wir mehrere hundert Meter und in eine völlig andere Straße, bevor die Frau wieder stehen bleibt. Sie bringt mich bis vor die Tür, die auf der Rückseite des Gebäudes liegt und weist mich auf das Schild an der Tür hin, um mir zu versichern, dass es sich wirklich um die gesuchte Praxis von Josephs Frau handelt. Ich bin ihr unendlich dankbar, weil ich es nie rechtzeitig hierher geschafft hätte und wäre gern in der Lage, mehr als "Merci beaucoup" zu sagen.
    In der Praxis weiß die Ordinationshilfe schon, dass ich komme und ich muss auch nicht lange warten. Josephs Frau empfängt mich mit ausgezeichnetem Englisch und einem strahlenden Lächeln und nimmt sich sofort meines Problems an. Nach nicht einmal 15 Minuten ist sie fertig und auch, wenn es nur eine vorübergehende Lösung ist und ich den Zahn definitiv daheim nochmal richtig reparieren lassen muss, bin ich fest davon überzeugt, dass mir Josephs Frau meine Reise gerettet hat.
    "Ich sage Joseph immer, er soll den Leuten nicht sagen, dass seine Frau Zahnärztin ist", scherzt sie, während wir uns verabschieden.
    "Du warst meine Rettung", antworte ich.
    Sie winkt ab. "Du hättest trotzdem weitergehen können", meint sie leichthin. Ich bin ihr trotzdem unendlich dankbar. Bevor ich gehe, frage ich sie noch nach ihrem Namen, weil ich schon mit dem Gedanken spiele, ihr und Joseph eine Karte aus Santiago zu schreiben.
    "Jaqueline", sagt sie. Ich bedanke mich noch einmal herzlich und verlasse die Praxis.
    Auf dem Weg zurück zur Gîte in der Altstadt denke ich daran, welch unterschiedliche Formen Begegnungen auf diesem Weg schon für mich angenommen haben und auf wie viele verschiedene Weisen sie mich und meine Reise beeinflusst haben. Kein Weg wäre derselbe ohne all die Menschen, die ihn kreuzen. Egal, ob es nur eine kurze Unterhaltung ist, die man teilt, oder ob man auf jemandes Hilfe angewiesen ist. Und Begegnungen, die einem weiterhelfen in Momenten, in denen man plötzlich um den weiteren Weg fürchtet, haben einen ganz besonderen Stellenwert.
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