• Gletscherfluten

    4 augusti, Schweiz ⋅ ☁️ 14 °C

    Der Morteratsch-Gletscher flutet seine Umgebung mit einer unvorstellbaren Menge an Wasser. Unsere Sinne flutet er ebenso: Riesig, rauschend und rumorend liegt er vor uns, als wir den Gletscherweg und noch ein wenig Kletterei im jüngsten Schmelzgebiet hinter uns lassen. Inzwischen muss man recht weit gehen, um bis ganz an die Gletscherzunge zu gelangen, so viel hat der schmelzende Riese bereits an Masse verloren. Dennoch überwältigt er uns. Hier anzulanden ist der Höhepunkt einer (tut mir Leid für die Superlative) epischen Wanderung. Bevor wir uns dem großen Staunen hingeben, haben wir eine Zeitreise mit dem Gletscher durchlaufen. Beginnend an dem Punkt, an dem er 1860 seine größte Ausdehnung erreicht hatte und mit Zwischenstopps an liebevoll und einladend getexteten Informationstafeln, die uns allerlei Wissen über den Gletscher und die von ihm geformte Landschaft vermitteln. Auch für Kinder ist ein kleines Buch mit dem kleinen Eis-Geist Sabi gestaltet worden, der sein Wirken am hier erzählt. Mit Stempelstationen ist die Wandermotivation perfekt für kleine Wandersleute.

    Wie wir noch atemlos vor den Eismassen stehen, werden wir von einem freundlichen Mann angesprochen, der getrost als Gletscher-Freak im besten Sinne bezeichnet werden kann. Hat er in seinem Leben schon eine Menge Gletscher bereist; in Alaska, Südamerika oder Neuseeland, der Morteratsch hat es ihm besonders angetan. Seit 10 Jahres kommt er mehrmals pro Jahr aus Mainz hier her und beobachtet und dokumentiert die Transformation des Kolosses. Er erzählt uns nochmal eindrucksvoll, wie schnell der Gletscher schmilzt, welche Wassermassen er abgibt (pro Tag 500.000 bis 1.000.000 Tonnen!) oder wie man hier versucht, die Schmelze mit Schneekanonen im Nährungsgebiet retten will. Klar, neben dem Aspekt des Umweltschutzes spielen hier auch wirtschaftliche Interessen mit. Ein Bergretter ist auch anwesend. Wir erfahren, dass er jetzt versucht, die Leute, die wir von hier aus auf dem Gletscher herumlaufen sehen, wieder unbeschadet runterzukriegen. Denn dort, wo sie laufen, ist es richtig gefährlich. Wir sehen deutlich, wo vor Kurzem enorme Eismassen abgegangen sind. Und hören auch, wie das Eis und die Landschaft arbeiten. In der halben Stunde, die wir hier verbringen, gehen rechts von uns am Moränenrand zwei laute Steinschläge ab (zum Glück weit entfernt) und einmal knarzt der Gletscher dröhnend laut und knackt vernehmlich. Unser Gletscher-Mann prophezeit, dass hier in zwei Jahren – wenn wir wieder kommen, das steht für ihn außer Frage – ein See aus Schmelzwasser liegen wird. Die Senke, in der wir stehen, macht das einleuchtend. Spannend würde, wie man dann dieses Gebiet für die vielen Besucher sichert.

    Und an Besuchern mangelt es nicht. Viele steigen mit uns hoch und runter, die letzten zwei Kilometer zum Ziel sind anspruchsvoll, aber machbar. Zoey schaltet in den Bergziegen-Modus und mit ihrem Allrad-Antrieb wuselt sie sich durch schwierige Passagen. Natürlich hat sie Zeit, zwischendurch in Steinspalten zu schnüffeln, Murmeltierkacke zu probieren, heruntergefallenes Zwieback zu futtern und Hummeln zu jagen. Und Erik? Der ist heute mal Vollblut-Wanderer. Diese Art von Ausflügen trifft auf seine breite Zustimmung. Dafür ist es einfach viel zu aufregend und die latente Gefahr des Absturzes kitzelt seinen Abenteuergeist.

    Auch an die Temperaturen gewöhnen wir uns. Heute Nacht ging es bis auf vier Grad runter, wieder sind wir froh über unsere Heizung. Nur eine Mütze hätte ich gerne, sicher eine Premiere für den Sommerurlaub. Wir leihen uns eine zusätzliche Decke, ein netter Service an der Rezeption und genießen die Annehmlichkeiten der formidablen Sanitäranlagen. Es lässt sich nur wenig mit den Froiden einer kochend heißen Dusche bei frischen Außentemperaturen vergleichen. Ich drücke das Äquivalent der Snooze-Taste immer noch einmal, bis ich ein Blasenwerfen der Haut fürchte und mich schließlich überwinde, wieder ins Kühle zu treten. Huh, das war schön!
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