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- Tag 90–91
- 28. Mai 2025 um 12:44 - 29. Mai 2025
- 1 Nacht
- 🌧 17 °C
- Höhe über NN: 63 m
DeutschlandNienhagen52°32’47” N 10°7’15” E
Nienhagen

Ich halte an einem Bücherschrank, Hilde bellt zu einem Fußgänger, es beginnt leicht zu regnen. Als ich die Tür öffne, schaut mir der Meeresrand entgegen, ich nehme es, ohne zu zögern, ohne darin zu blättern, ohne nachzudenken. Morgenstern's gesammelte Werke. Nein, das kennt sie nicht. Sagt später eine Frau Anfang Fünfzig, deren Mann auf dem Arm einen kleinen Bub hält, der mich anlächelt. Sie seien eine Kurzpflegestelle, eine Notaufnahme für verwahrloste Kinder, die manchmal Jahre bleiben.
Dieser Kleine mit dem italienischen Namen lächelt mich an. Obwohl er so vieles schon erlebt hat, ist er ein fröhliches, glückliches Kind. Ob der Mensch gut ist, hat mich Uli in Berlin gefragt, vor seiner Klasse aus achtzehnjährigen Religionsschülern, die mich übers Leben ausquetschen.
Ja, das kommt mir leicht über die Lippen, grundsätzlich sind alle Menschen von Geburt aus gut. Und manche bleiben Engel, trotz allem Leid, das ihnen begegnet. Und andere treffen eine Entscheidung aus einer Unschuld heraus, die sie schuldig macht.
No way out. Das habe ich auch gedacht, als ich vierzig war. So alt wie die Autorin. Nein, Morgenstern kennt sie nicht, sie liest Clancey und Grisham's Schuld. Ich werde Meeresrand nicht lesen, aus einem Gefühl heraus wusste ich, dass es nicht fröhlich endet. Aber das will ich, ein fröhliches Ende, eine glückliche Reise am Rand des Wassers, trotzdem was ich weiß, und mit welchen Schicksalen ich mein Leben lang beschäftigt war.
Ich habe mir ein leichtes Herz behalten, mit Augen, die viel weinen können, aber einem Sinn fürs Leben, fürs Sein, fürs Schauen und Hoffen. Und für den Glauben. An das Gute im Menschen, an die Freiheit, auf die ich sehnsüchtig warte. Und da liegt sie, Gary Paulsens Freiheit ohne Grenzen.
Mit fast Sechzig auf einer Harley durch die USA, Erscheinungsdatum im gleichen Jahr wie der Meeresrand. Ich ahne, dass ich es schon gelesen habe, aber ich bin nicht sicher. Und wenn, dann bin ich heute fünfzehn Jahre älter. Weiser. Vielleicht. Auf jeden Fall milder gestimmt, durch die Zeit gereift.
Ob es Freiheit gibt, hat mich der Lehrer auch gefragt. Wenn du nichts mehr zu verlieren hast, sagte Janis Joplin. Das geht nur im Moment des Todes, wird die Mutter der beiden Kinder im Buch vielleicht in ihrem Kopf haben. Im letzten Atemzug mag der Mensch das fühlen. Wenn sich die Wogen glätten. So stelle ich mir das vor, obwohl ich Freiheit nie als erstrebenswertes Ziel im meinem Leben gesehen habe. Weder vorher noch jetzt, ich denke nur manchmal nach, wenn mich jemand fragt.
So haben wir lange geschlafen, heute morgen in Nienhagen, auf dem kostenlosen Stellplatz. Weil niemand auf uns wartet. Nur wir beide da sind. Auf unserer Reise zum nächsten Meeresrand. So lasse ich mir Zeit mit dem Frühstück, mische für Hilde ein paar leckere Zutaten zusammen, habe dem Regen gelauscht, und sitze im Sonnenschein.
Brot trocknet auf der Ablage vorm Fenster. Gestern in Ohof hinter der Radaranlage beim Nah&Gut habe ich drei Baguettes im Arm, eine Tüte Möhren, fünf Notfallsweets, von denen mir eins runterfällt. Ob sie mir helfen könnte, die jüngere Frau kniet nieder, und ich denke für einen Moment, wie absurd das ist.
Dass ich mich nicht mehr gut zu Dingen hinunterbeugen kann, die auf dem Boden liegen, um die Hilfe eines anderen Menschen bitten zu müssen. Sie habe es gerne getan, ich bedanke mich herzlich. In Wienhausen fahren wir ans alte Allerwehr, ein Stück flussaufwärts liegt der Campingplatz, auf dem liebe Menschen übernachten, die wir vor drei Jahren in Spanien getroffen haben, an einem wunderschönen Platz.
Heute besichtigen sie das Kloster und erzählen von ihrer lustigen Begegnung mit den Nonnenchor, während wir uns nahe dem Bootsanleger an einer Wiese getroffen haben. Fast mein Alter, kann ich nicht glauben, wie vital sie sind. Und schaue zwei Jahre zurück, als ich noch viel beweglicher war. Zwei, drei Jahre können eine Ewigkeit sein, vor drei Jahren ist der Enkelzwerg geboren, und schau an, was er alles erlebt hat, wie mein Sohn jedes Wort und jede neue Handlung begeistert feiert, mich daran teilhaben lässt. Und gleichzeitig wird meine Enkeltochter eine junge Frau. Es ist ein Geschenk, zwischen den Zeiten zu leben, die Verzweiflung vergangenen Lebens durchkämpft zu haben, als mir der Boden unter den Füßen weggerissen zu werden schien.
Sie werden lange nach Südamerika gehen, ich freue mich auf ihre Bilder, ihre Geschichten, ihre Sicht der Dinge. Und wie schön, ihnen nochmal begegnet zu sein. Es hat wieder angefangen zu regnen. Wir sind zum Parkplatz vom Schwimmbad in Nienhagen gefahren, wo es auch einen kostenlosen Stellplatz im Grünen gibt. Hilde hat sich hinten im Bus eingerollt, ich habe meine Jacke über sie gelegt, jetzt ist sie in ihrer Höhle.
Die meisten Frühschwimmer sind gefahren, junge und alte Menschen, alleine unterwegs. Heute morgen gibt es wieder Bananensaft, ich werde in der Bibel lesen, bevor wir weiterfahren, so langsam komme ich in meinen alten Lieblingsrhythmus, der zwischen Familie und Terminen nie so entspannt gelebt werden kann.
Obwohl mich die Straße schon wieder neugierig macht, wo werden wir heute unterwegs sein, übernachten, spazieren. Ein Bus ist angekommen, er hat eine Leerfahrt gemacht, eine Schulklasse mit ihren Lehrern steigt aus, strömt ins kalte Becken, Jubelschreie oder der Moment, wo die Erkenntnis den Stand der Theorie überschreitet.
Kinder seien lernfähig, ist die allgemeine Meinung, anpassungsfähig, freiheitsliebend, und von Grund auf gut. Und wenn sie sich diese Neugier behalten, dann kann das Leben spannend werden. Doch kaum sind die Kinder im Wasser fegt ein heftiges Gewitter über den Himmel. Das hat der Lehrkörper nicht kommen sehen, denn er hat wie ich den Wetterbericht vorher nicht gelesen. Oder ihn ignoriert, weil auf dem Stundenplan halt Schwimmen steht, und der Bus schon vor der Schule gewartet hat.
Hilde hat sich auch auf den Fahrersitz gesetzt, Ohren angelegt, wir hören von den Time Runners das Album Journey. Vielleicht brauchst du auch mal eine Gewittermusik. Hier ist der Link:
https://youtu.be/a53aTJqb3oA?si=6HC8Vzti1L1R-hRvWeiterlesen