• Gjøvik

    Jun 4–5 in Norway ⋅ ⛅ 14 °C

    Als ich mich entschieden hatte, meine Haare abzuschneiden, ist dem ein Prozess vorangegangenen, bei dem es um mein Leben ging. Nicht um meinen Tod, aber dennoch um einen gravierenden Schnitt in meinem Dasein, meiner menschlichen Existenz, diesem äußeren Zeichen des Forever Young, im Kopf, im Geist, im äußeren Erscheinungsbild, den langen Haaren.

    Es ist nicht die Angst vor dem Alter, sondern eine Form der Auseinandersetzung mit dem Älterwerden. 75 Jahre sind ein Schnitt in diesem Prozess, zumindest äußerlich. Darüber war ich mir schon lange im Klaren, allerdings nicht über inneren Veränderungen, die letztendlich auch zu diesem Friseurtermin geführt haben.

    Wobei schon interessant ist, dass die Polizei mich genauso taxiert wie mit langen Haaren, als wäre nicht das das Kriterium ihrer Beobachtung. Sprich, ich werde einfach nicht ein seriöser, unauffälliger Bürger, nur weil die Haare kürzer sind. Da muss es also etwas geben, was tiefer in mir liegt, aber trotzdem für die Hüter gewisser Ordnungen offensichtlich ist.

    Spannend. Ja, es bleibt spannend, weil die Haare nur ein Baustein meiner veränderten Lebenssituation sind. Ich denke oft über Entfernungen nach. Letzten Winter in Frankreich, als ich nicht nach Spanien fahren wollte, mich innerlich etwas daran hemmte. Dass Portugal und Griechenland mir so weit weg vorkommen. Oder jetzt eben der Polarkreis, Mo I Rana, die Küstenstrasse 17, die Lofoten. Das kann man doch in einer Woche von Deutschland aus fahren, lacht mich jemand an. Ja, das mag stimmen. Aber so einfach ist das nicht.

    Vielleicht kränkeln wir alle ein bisschen. Der blaue Bus quält sich die Berge rauf, die noch eher Hügel sind, die Hilde hat Bauch, und ich Rücken. Lebensprozesse. Das Bedürfnis nach mehr Ruhe, gleichzeitig das Wissen, wie wichtig Bewegung für mich geworden ist. Und parallel eben auch das Weniger an der Lust und Freude des langen Fahrens. Mich schreckt Entfernung. Große Strecken, tausend Kilometer, die vor uns liegen - und zurück gefahren werden müssen.

    Es macht plötzlich einen Unterschied aus, ob ich alleine reise. Das hat mich überrascht. Damit habe ich nicht gerechnet. Das muss ich erstmal verkraften. Es geht nicht um das Fahren und Reisen allgemein, sondern um große Entfernungen, auf denen ich mich alleine nicht mehr so wohl fühle.

    Was das bedeutet, darüber mag ich nicht spekulieren. Das muss ich erstmal verdauen, verarbeiten, mit Leben füllen. Fürs erste und für heute heißt das, dass wir perspektivisch in den Osten fahren werden, langsam rüber an die Ostseeküste Schwedens, um das Land am Meer zu befahren.

    Das ist ein gravierender Einschnitt in meinem Leben. Auch darüber zu sprechen, fällt mir nicht leicht. Aber letztendlich ist es meine Reise und mein Leben, von dem ich ein paar netten Menschen erzähle, denn angesichts der gewollten Verringerung meiner Internetauftritte ist die Leserschaft jetzt deutlich übersichtlicher geworden. Vielleicht sind es jetzt noch knapp fünfhundert Menschen, die unsere Texte bekommen können, wovon ich annehme, dass nur ein Drittel sie tatsächlich liest. Das hat schon einen familiären Charakter. Da kann man schon ein bisschen aus dem Nähstübchen plaudern, wie die Oma immer sagte, wenn es um kleine Geheimnisse ging.

    Von der Entdeckung der Langsamkeit, die in ihrer vollendeten Form der Sesshaftigkeit nahe kommt, bin ich noch weit entfernt. Aber es ist interessantes, ganz weitläufigen Feld des Erkennens aus einer anderer Perspektive. Und ja, selbst wenn mein Horizont eingeschränkt ist, gibt es noch eine Menge zu entdecken, so vielen Küsten zu bereisen, dass ich davon nicht genug kriegen kann.

    Und wer weiß, ob sich nicht die ein oder andere gemeinsame Reise mit zwei Fahrzeuge durchaus noch auftun könnte. In Planung steht eine besondere Insel im Frühsommer des nächsten Jahres. Soweit habe ich früher nie denken wollen, heute erfüllt es mich mit Freude. Obwohl natürlich niemand weiß, oder in die Zukunft schauen kann.

    Und nochmal zum Verständnis. Mir fehlt keine Lebenspartnerin, auch nicht ein Menschen, mit dem ich mich ständig unterhalten kann. Nein, mein Tag ist gut gefüllt. Aber wir reisen häufig in Gegenden, in denen wenig los ist, und da ist ein Mitmensch einfach eine große Bereicherung für mich. Mal ein bisschen reden, mal zusammen Tee trinken, oder einfach irgendwo anhalten, die Zeit von der Uhr laufen lassen.

    Solche reisenden Mitmenschen gibt es natürlich nicht wie Sand am Meer, sonst wäre das ja ein einfaches Spiel. Aber es gibt sie zu meinem Glück. Am Morgen fahren wir im Sonnenschein oberhalb eines riesigen Sees nach Lillestrøm, einer Kleinstadt, der man die Nähe zu Oslo durchaus schon anmerken kann.

    Ich habe mir statt der E6 für den Weg nach Norden, die kleinere 4 ausgesucht, wobei ich komplett übersehen habe, dass ich diese schon im vergangenen Jahr gefahren bin. Wir brauchen lange, um aus dem Geflecht der Stadtnähe herauszukommen, bevor wir dann wieder mit der Natur uns besser verbunden fühlen.

    Es stürmt schon den ganzen Tag, die Wellen der Seen, die wir passieren, sind wild geworden. Trotzdem ist der Tag noch lange mild, nur gegen Abend wird es deutlich kühler. Sofern es geht, nutzen wir jede Möglichkeit für einen Spaziergang am Wasser, finden einen unserer alten Schlafplätze vom letzten Jahr wieder, um dort eine längere Pause einzulegen. Stehen gegenüber dem Elchschild, wegen dem ich letztens dann die ganze Nacht vergeblich auf einen Besuch gehofft habe.

    Nochmal übernachten mag ich hier nicht, da der starke Wind landeinwärts die Baumkronen in unsere Richtung drückt. Also entschließt ich mich für Gjøvik an der E6, wo ich diesen schönen Stellplatz gefunden habe, auf dem wir jetzt auch mit netten Nachbarn gestanden haben.

    Der blaue Bus quält sich über die Berge, die eher die Höhe von größeren Hügeln haben, sodass ich mich ernsthaft sorge, was zu meiner Stimmung beiträgt. Den ganzen Tag habe ich Nackenschmerzen und kann den Kopf kaum nach links drehen, um dem Verkehr zu folgen. Beim Auswringen der Wäschestücke hat das als Folge, dass mein Rücken und der rechte Oberschenkel in Mitleidenschaft gezogen werden, während Hilde jeden anbellt, der sich dem Bus von Ferne nähert.

    Ich erinnere mich, dass mich solche ähnlichen Probleme auch in anderen Situationen bedrängt haben, wenn ich wichtige Entscheidungen zu treffen hatte, von deren Existenz ich überhaupt nichts wusste.

    Der Platz ist wunderschön. Ein kleiner Parkplatz unterhalb eines am Hang liegenden Campings, über dem eine imposante, neue Siedlung aus weitblickenden, schmalen Häusern über die Bucht blickt. Der See Mjøsa legt sich hier an die Seite einer Halbinsel am gegenüberliegenden Ufer, und öffnet sich unterhalb zu seiner ganzen Breite, die die kleine Insel Helgøya umschließt.

    Bei Wikipedia lese ich, "der See liegt 123 Meter über dem Meeresspiegel, ist 117 Kilometer lang und bis zu 453 Meter tief (damit liegt der Seeboden 330 Meter unter Meeresniveau). Seine maximale Breite, die er bei Hamar erreicht, beträgt 15 Kilometer. Hier liegt auch seine größte Insel Helgøya. 17 Flüsse fließen in den See. Der wasserreichste davon ist der Gudbrandsdalslågen, der das Wasser aus dem Gudbrandsdalen bringt und bei Lillehammer mündet. Insgesamt hat der See ein Einzugsgebiet von 16.555 Quadratkilometern. Am südlichen Ende verlässt der Fluss Vorma den See mit einer durchschnittlichen Abflussmenge von 11,11 Milliarden Kubikmetern pro Jahr (352 m³/s). Die gesamte Uferlänge des Sees beträgt 273 Kilometer. Mjøsa, Vorma und deren Zuflüsse bilden den westlichen Teil des Glomma-Flusssystems, des größten Flusssystems Norwegens."

    Am Morgen ist es windstill und der See sieht friedlich aus. Aber im Laufe des Vormittags, unsere Nachbarn sind grade gefahren, hat der Wind wieder an Kraft zugelegt. Im Gegensatz zu gestrigen Abend, bin ich am Morgen ein bisschen motivierter, meine norwegische Umgebung noch ein wenig intensiver anzuschauen, bevor wir nach Osten fahren.
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