• Hergot

    22–23 Jun, Norway ⋅ ☁️ 7 °C

    Am Abend tanzen die Möwen auf dem Wind in unserer Bucht. Ganz langsam fliegen sie, alleine, bilden Formationen, lassen sich auf dem Wind tragen, und fallen manchmal aus seinen Armen. Dann flattern sie kurz wieder hoch und schweben wieder wie Engel in der Luft. Ich habe selten so was Schönes gesehen, dass sich unmittelbar vor meinem Fenster abspielt.

    Wir sind an einem Ort, der sich Hergot nennt, eine Bucht mit Steinstrand im abendlichen Sonnenschein, in der Hilde nach ihrem Stock schwimmt und sich im Steinsand wälzt. Sie ist so fröhlich am Meer, das mir das Herz aufgeht. Später im Bus ist sie ungeduldig wie ein kleines Kind, weil sie erst völlig trocknen muss, bevor sie wieder überall rumspielen kann.

    Vor der Bucht ist zur Straße hin ein großer Parkplatz, auf dem sich die Camper verteilen. Begehrt ist natürlich der Platz an der Wiese, von der wir zum Strand runter gehen. Wir haben nette Nachbarn, ich führe Gespräche mit zwei Paaren aus dem Harz, denen ich einige Reisetipps geben kann, über Wege, die wir gefahren sind.

    Mit einem norwegischen Ehepaar, das fürs verlängerte Wochenende von den überfüllten Lofoten hierher kommt, spreche ich über die sichtbaren Veränderung in der Gesellschaft hier, die wir in verstärkter Form in Deutschland vorfinden. Mein Eindruck, den ich unterwegs gewinne, täuscht nicht. Auch sie finden, dass sich vieles bewegt, was keine guten Vorzeichen in sich trägt.

    Wir sprechen über die Kriege, die uns näher kommen, und uns erschrecken. Ein solches Gespräch wäre vor wenigen Jahren noch undenkbar gewesen. Vielleicht in Afrika oder Südamerika, aber nicht in Europa. Später fährt eine deutschfinnische Familie zwischen uns, die Kinder haben dort zweieinhalb Monate Sommerferien, während ihre Eltern nach vier Wochen wieder arbeiten gehen müssen.

    Das erklärt auch die Vielzahl von finnischen Fahrzeugen in Norwegen, in denen oft ein Kind ein ziemlich einsames Dasein führt, weil Kinder aus anderen Ländern noch nicht reisen können. Neben den wenigen Familien reisen ja sonst fast nur Rentner und Paare im mittleren Ehestand, die alle mehr oder weniger mit sich beschäftigt sind. Es sei denn, sie brauchen Mitmenschen so wie ich.

    In Narvik haben wir Mariusz getroffen, der mit seiner Familie ebenfalls in einem VW Bus unterwegs ist. Wir stehen an einem Servicepoint, wo der Trinkwasserhahn direkt neben der Entsorgung ist. Das wirkt so ekelhaft, dass wir beide darauf verzichten, hier Wasser zu tanken. Er gibt mir die Hand zum Abschied, und während ich mit dem Handy ein Video über den Dächern der Stadt bis hinüber zu den schneebedeckten Bergen auf der anderen Seite der Bucht mache, packt er seine Drohne aus.

    Schon um halb elf ist es an unserem Platz unweit der Brücke so heiß, dass wir aufbrechen, und die Halbinsel links von Ballangen uns anschauen. Von der E6 geht eine Straße quer durchs Land in einer Wellenbewegung, in ebenen Tälern wunderschöne Wiesen lassen mich nach Elchen Ausschau halten. Wir finden einen Spazierweg zwischen zwei dieser Wiesen, auf dem Hilde Gerüche wahrnimmt, die sie davon abhalten, weiter zu gehen. Die Stille ist so nah, dass man meinen könnte, gleich würde eins dieser edlen Tiere hervortreten und seinen Garten inspizieren.

    Am Ende der Straße ist das Meer, wir biegen nach links ab, während rechts im Ort ein großes Mittsommernachtsfest stattfindet, zu dem alle Welt hinwandert. Später müssen wir ob der Menschen und der parkenden Fahrzeuge vorsichtig den Ort queren.

    Aber jetzt kommen wir erstmal nach Vargfjord, an dessen Ortsende eine kleine Brücke den Fjord quert. Danach kommt ein großer Platz mit Baumaschinen und Holzstapeln, aus dem ein Schotterweg bergauf führt und auf das Korshamn Fort hinweist.

    Überall in Norwegen finden sich Hinweise auf die Besetzung der Deutschen in den vergangenen Kriegsjahren. Das löst zwiespältige Gefühle in mir aus. Zum einen dokumentiere ich meine Straße, zum anderen denke ich an all die traurigen Erinnerungen, die diese Zeit über die Menschen gebracht hat. Die, die vor Ort leben, und die, denen der Krieg vorgeschrieben hat, dort Dienst zu tun.

    Indirekt bin ich ein Kriegskind, denn die Folgen von Krieg, Gefangenschaft, und Ausbombung haben meine Eltern auch ohne ihren Willen in mein Leben gebracht. So kann ich selten einen solchen Ort wertfrei betreten. Und wie sagte Mariusz, als ich ihn nach seinem Wohnort in Polen frage, der einen unverständlichen Namen trägt, die Deutschen kennen ihn unter Angerburg, als sie das Land besetzt hatten. So wie hier.

    Ich fahre langsam den Berg hoch. Das Fort Korshamn ist eine alte Torpedobatterie auf der Südseite des Ofotfjords, vier Kilometer westlich von Kjeldebotn in der Gemeinde Narvik. Mittlerweile sind die Bunker vom Gras überwachsen, und ob die Häuser noch aus der Zeit stammen, lässt sich nicht so einfach sagen, weil es keinerlei Hinweise gibt. An der Anlegestelle stehen zwei norwegische Fahrzeuge, ihre Besitzer sind mit einem Boot über den Fjord gefahren.

    Auf dem Weg nach Narvik kommt man an einem schönen Stellplatz am Wasser vorbei. Hier wird erinnert an die Heldentat des norwegischen Kommandanten Fleischer, der insbesondere für seinen Beitrag zur Rückeroberung von Narvik bekannt ist. Er war der erste Landkommandant, der einen bedeutenden Sieg gegen die Deutschen errang.

    Erinnerungen auf Schritt und Tritt. Wenn es nicht die eigenen sind, dann die der Väter und Mütter. Oder wie Hopkins gesagt hat, niemand kommt hier lebend raus. Überall musst du dich positionieren. Innerlich und äußerlich, ob du beteiligt warst oder nicht. Dabei geht es nicht mal ums eigene Sterben, aber selbst der Tod anderer Menschen bleibt manches Mal unvergessen. Nicht weil die Menschen Helden waren, sondern weil ihr Schicksal es war, zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein.

    Und wer weiß, ob ich immer am richtigen Ort bin, obwohl ich ja glaube, dass Gott unser Leben, unsere Reise segnet. Aber was ich darüber hinaus für mich entscheide, hat ja auch Auswirkungen. Wie immer bewegt mich unsere Reise, die Bilder sind nur ein Ausdruck des Geschehens, den anderen Teil tragen wir in unseren Herzen, von dem der kleine Prinz sagt, „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“

    Parkplatz (frei)
    Google Maps Code
    FP24+F99 Hergot, Norwegen
    Baca lagi