• Abschied mit Dosenbier

    14 août, Allemagne ⋅ ⛅ 33 °C

    Liebes Tagebuch. Die Nacht war wieder zu warm oder zu kalt. Mit Penntüte am schwitzen. Ohne am frösteln. Der Mond kam in der Nacht noch empor und leuchtete in mein Zelt. Die Füchse waren am bellen. Um kurz vor fünf ging der Wecker, aber heute machte ich ganz in Ruhe. Nur noch 18km bis zu meinem Ziel Dillenburg. Als ich mich in Gang setzte war es bereits hell. Ich tapste durch die Gegend und es waren sehr viele Rehe unterwegs. Neugierig guckten sie mich aus dem Gebüsch an und sprangen dann meist von einer Sekunde auf die andere panisch davon. Rehe scheinen eine verlangsamte Reaktionszeit zu haben. Zur Abwechslung sollte es auch mal wieder schmale Pfade geben, als kleine Entschädigung für die ganzen Schotterwege, und es ging erstmal nur bergab. Meine Füsse spürte ich nun doch. Also langsam und ein letztes mal die Ruhe des Waldes einsaugen. Hinter einer Wegbiegung sah ich dann etwas super süßes. Fünf kleine Wildschweine suchten am Wegesrand nach Nahrung. Als sie mich bemerkten liefen sie quiekend davon. Die erste Freude verflog schnell, denn ich konnte ihre Mama nicht sehen. Etwas mulmig war mir schon. Ich klatschte in die Hände. Im Gebüsch raschelte und grunzte es. Erneutes Klatschen. Ich hörte wie etwas durchs Unterholz flüchtete. Immer wieder Grunzen und Quieken. Ich klatschte so lange weiter bis Ruhe war. Die Gefahr schien gebannt. Ich holte meinen Trekkingstock hervor für den Fall, das Mama Schwein einen Hinterhalt legen wollte. Alter Ötzi Instinkt oder so. Aber nichts passierte. Zum Glück.
    Es dauerte nicht mehr lang bis ich endgültig das Rothaargebirge verlassen sollte. Es ging stetig bergab. Mittlerweile war dank des urbanen Umfelds der Weg wieder auf Asphalt. In der Ferne hörte ich Strassenlärm, der durch das ganze Tal schallte. Die Sonne tat ihr übriges dazu. Ich war müde und erschöpft. Langsam wich auch der Geruch des Waldes dem der Stadt, der Autos und der Industrie. Es war purer Stress. In Rodenbach dachte ich: ach komm. Gehste zum Edeka und holst dir nen Kaffee. Ja dieser Edeka ist wohl noch aus einer anderen Zeit. Fast alle Produkte (es gab nicht sehr viel) waren wegen kurzer Haltbarkeit reduziert. Die drei Gänge standen voll mit Ware. Das reinste Chaos. Kaffee gab es keinen. Dafür vergilbte Regale und eingestaubte Konserven.
    Ich ging. Ein Auto knatterte an mir vorbei. Erst jetzt viel mir auf wie ruhig es da draussen gewesen war. Ich passiere eine laute mehrspurige Strasse. Zwischen zwei Bergkuppen, eine Strasse, McDonald's... der deutsche Cajon Pass (ein legendärer Punkt auf dem PCT)? Ich schmunzelte.
    Dann machte der Weg etwas was er seit dem Anfang nicht mehr getan hatte. Er ging steil nach oben. Auf Asphalt. Zum Ende hin nochmal schön Höhenmeter fressen. Der Schweiss lief aus allen Ritzen. Dicke Salzränder hatten sich bereits an meinem Hoodie gebildet. Alles klebte und stank. Ich ekelte mich ein wenig vor mir selber. Kurz bevor ich Dillenburg erreiche machte ich nochmal eine Pause. Ich holte mein fast sauberes Schlafshirt raus und mit meinem letzten Wasser wusch ich mich grob ab, bevor ich es überstreifte. Was für ein tolles Gefühl. Das T-Shirt. So luftig. Ohne irgendwo festzukleben. Ich hatte eine kleine Dose Deocreme dabei. Die verteilte ich überall wo es eklig war. Ich fühlte mich fast wieder wie ein Mensch. Ich erreiche die Kreuzung wo der NST auf den Lahn Dill Pfad wechselt. Ich bin im Hikerflow und hätte noch Bock bis Herborn zu gehen, aber dafür müsste ich mal einen Tag Pause machen und meine Füsse pflegen. Das lohnt nicht. Und ich vermisste Phoenix. Ich klatschte mit den Wegweiser ab und machte mich auf ins Tal.
    Von oben sah Dillenburg sehr idyllisch aus. Am Bismarcktempel hat man einen schönen Überblick. Über der Stadt thront ein Schloss. Imposant, aber den Aufstieg würde ich mir ersparen. Es war 12 Uhr und die Glocken in den Kirchtürmen verkündeten meine Ankunft. Als ich die Stadt betrat war ich doch etwas enttäuscht. Es wirkte wie ausgestorben. Das komplette Gegenteil zu Winterberg oder Brilon. Ich wollte eigentlich ein leckeres Bier als Belohnung trinken, aber die einzige Kneipe die offen hatte war das U-Boot. Über der Tür die Abbildung eines deutschen U-Bootes aus dem 2ten Weltkrieg. Mein Gefühl sagte mir einfach NEIN. Ich gab auf und machte mich auf zum Bahnhof. Der Weg führte mich offenbar durch Dillenburgs Slum. Am Bahnhof gröhlende Trinker. Abgerissene Typen, die mit sich selber reden. Ich war nicht bereit für diesen krassen Kontrast zu den letzten Tagen.
    Im DB Service Shop zog ich mir eine lauwarme Dose Bier. Die Kassiererin diskutierte mit einem "Stammgast" und wirkte abgenervt. Ich wünschte ihr einen schönen Tag. Sie lachte nur.
    Na dann Prost. Gute gemacht! Ich wurde einer von den Bahnhofssäufern.
    Der Zug nach Gießen hatte Verspätung und ich konnte meinen Anschluss nicht bekommen. Geht ja gut los. Endlich in Giessen stieg ich aufgrund einer falschen Infotafel in den falschen Zug. Der Umweg kostete mich eine Stunde. Auf dem Weg zurück nach Giessen war ein Typ, der Allen erzählen musste was für ein geiler krasser Hecht er ist und was er alles irre gerade gemacht hat. Fünf Tage Kanu, Kajak, jetzt Mountainbike. Nebenbei kommentiert er sämtliche Handlungen anderer Leute im Zug. Er fühlt sich so geil. Es wirkt als hätte er gekokst. Ich möchte ihm die Stimmbänder entfernen.
    Als ich endlich wieder in Giessen bin und im richtigen Zug nach Kassel sitze kommt die Durchsage, dass wir wegen eines liegengebliebenen Zuges nicht fahren können. Der nächste Anschluss ging flöten. Die Menschen sind unzufrieden und aggressiv. Kleinkinder schreien. Die Klimaanlage ist ein Witz. Danke, Deutsche Bahn. Nach einer halben Stunde geht es endlich los. Mir gegenüber sitzt ein Mann, der die ganze Zeit leise vor sich hin flucht. Neben mir eine Frau, die mich auf meinen Rucksack anspricht. Ob wandern gewesen wäre? Ich hab schliesslich einen Wanderstock dabei und die Alpen wären ja so toll. Da war sie vor ein paar Tagen. Müsse ich unbedingt mal machen. Ok... Wie kommt sie da drauf? Der Stock dient nur dazu nervige Menschen zu pfählen, deren Interesse darin besteht was über sich zu erzählen. Sie steigt zwei Stationen später aus und sagt, dass sie traurig sei, dass sie nicht noch weiter fahren müsse. Sie würde so gerne meinen Geschichten (vermutlich eher ihren eigenen) lauschen... na da hab ich ja nochmal Glück gehabt.
    Sie nimmt ihren Koffer, welcher gegen das Bein von dem Meckerheini gegenüber stösst. Er regt sich natürlich tierisch auf. Ich schmunzel in mich hinein.
    Irgendwann erreiche ich Kassel. Der Bahnhof platzt fast vor Menschen. Sämtliche Züge habe Verspätung oder fallen aus. Ein Typ von Greenpeace kommt auf mich zu und fragt ob ich kurz Zeit hätte. Ich sage ja, aber nicht für ihn und das ich kein Interesse habe. Das juckt ihn nicht und er fährt fort: "Darf ich mal ganz ehrlich sein...?" Junge, du kannst die Schnauze halten. Ich frage ihn was so schwer an "Ich habe kein Interesse" zu verstehen ist und gehe weiter. Ich komme keine zwei Schritte weit da steht sein Kollege vor mir. Ob ich etwas Zeit hätte. Ich sage ihm, dass ich leider keine habe. Ich habe einen dringenden Termin an der Nordsee. Erst Fässer mit Giftmüll versenken und dann Robbenkloppen. Ib er vielleicht mitkommen möchte? Er guckt dumm.
    Mein Anschlusszug hat eine halbe Stunde Verspätung. Glück gehabt. Bei den anderen ICEs sind es zwischen 60 und 90 Minuten. Irgendwann ist er dann da und ich bekomme sogar noch einen Sitzplatz. Es ist halb sieben. Fast sechs Stunden sind vergangen seitdem ich in Dillenburg am Bahnhof angekommen war. Eigentlich hätte ich längst in Hannover sein sollen. Da hätte ich glatt zu Fuss gehen können.
    Ich drücke den Ärger weg. Wieviel schöne Stunden hatte ich in der Natur.
    Ich sollte zufrieden sein. Und das bin ich. 160km in vier Tagen. Das hab ich auch schon länger nicht mehr gemacht. Dazu viele tolle Begegnungen mit Tieren und friedliche Nächte in der Natur.
    Ja und was ist mein Fazit? Wäre der Rothaarsteig kein Teil vom Nord Süd Trail wäre ich etwas enttäuscht gewesen. So gehört er einfach dazu. Ohne Zweifel startet der Trail richtig toll und ist bis Winterberg definitiv zu empfehlen. Danach könnte man ihn als Lehrpfad sehen was passiert, wenn man ganze Landstriche mit Monokulturen zuklatscht. Durch den fehlenden Wald mangelt es immerhin nicht an Fernsichten. 🫠
    Vermutlich lebt der Steig nur noch dadurch, dass er als einer der Klassiker unter den deutschen Fernwanderwegen gilt. Definitiv gibt es von der Wegebeschaffenheit schönere.
    Toll ist die Infrastruktur für Hiker. Viele Hütten und Gasthöfe machen die Logistik einfach. Dazu noch die Trekking Camps. Jetzt müssen nur noch neue Pfade geschaffen werden und neuer Wald wachsen. Ich drücke dem Rothaarsteig die Daumen.
    Retrospektiv hatte der Waldecker Weg, Diemelsteig und Urwaldsteig auch einen besonderen Reiz. Und gäbe es den NST nicht wäre ich wohl nie auf die Idee gekommen den Waldecker Weg zu wandern. Von daher danke an Soulboy.
    Ich bin gespannt wann und wie es weitergeht für mich auf dem NST und natürlich auch für alle zukünftigen Hiker und die, die gerade noch unterwegs sind. ✊

    Die Facts der letzten acht Tage:
    ~265km
    7900m hoch
    8000m runter
    5 Wanderwege
    1 Thruhike
    6 Nächte im Zelt
    1 Nacht im Hotel
    1 Dusche
    1 kleine Blase
    0 Zecken
    3 Füchse
    4 Hasen
    1 Hermelin
    1000 Rehe
    5 Wildschweine
    7 Blindschleichen
    1 Schlange
    10000 Pilze
    3 Reichsbürger/Schwurbler
    2 Familie Ballastralla
    6 Alkoholfreie Weizen
    4 Pils
    1 Germknödel
    1 zufriedener Magpie
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