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  • Day 129

    Wahrsagung auf über 4000 Metern

    May 6, 2019 in Bolivia ⋅ ⛅ 15 °C

    Die ältere Schamanin grinst mich mit ihrem Metallgebiss an. Dann greift sie in eine Tüte, nimmt ein Bündel Coca-Blätter heraus und wirft diese schwungvoll auf den Tisch. Anschließend schiebt sie einige Blätter nicht nachvollziehbar hin und her und betrachtet jedes einzelne Blatt kritisch. Während die Schamanin ihr Ritual verfolgt, werde ich von zwei dekorierten Totenköpfen aus einem Regal angeschaut. Schließlich haben die Coca-Blätter gesprochen, meine Zukunft wird bestimmt durch einige vertrocknete, angeknabberte Blätter. Die Schamanin lässt mich wissen, dass ich in nächster Zeit umziehen werde und meine Arbeit wechsele (tut mir leid Kollegen, aber so steht es in den Coca-Blättern 😂), und ich werde sehr zufrieden sein. Ich werde Susi heiraten und mit ihr sehr glücklich werden. „Meine Zukunft könnte schlechter aussehen“, denke ich. Ich verlasse recht zufrieden den kleinen Container der Wahrsagerin und kehre auf die Straßen von El Alto zurück. Meine Investition für diese Wahrsagung (10 Bolivianos = 1,50 Euro) hat sich gelohnt 😉

    Ich befinde mich auf über 4000 m im Stadtteil El Alto des höchsten Regierungssitzes der Welt. Eigentlich wollte ich La Paz nur durchreisen, nicht einmal einen Tag verbringen, da mein Bedarf an Großstadtatmosphäre erst einmal gedeckt ist. Letztlich hatte ich mich dazu entschieden, zumindest eine Nacht in La Paz zu verbringen, auszuschlafen und Energie für die nächste große Busreise Richtung Cusco zu sammeln. Da ich den Morgen bereits effektiv für meine weitere Reiseplanung genutzt habe, blieb mir noch ein freier Nachmittag, um zumindest einen kleinen Eindruck dieser außergewöhnlichen Metropole zu sammeln. Als ich mich von meinem Hostel auf die Straße begebe, bin ich sofort von der Lebhaftigkeit und dem schönen Ausblick positiv überrascht. Auf den Straßen wimmelt es von Fußgängern, die Straßen scheinen ein einziger großer Markt zu sein. Vor fast jedem Gebäude befindet sich ein Verkaufsstand mit den unterschiedlichsten Artikeln (Lebensmittel, Kleidung, Elektronik, Werkzeug, usw.), meist besetzt von einer recht korpulent wirkenden Bolivianerin in traditioneller bolivianischer Tracht mit typischem Zylinder (der Eindruck der etwas korpulenten Figur kann aber auch der weiten, aufgeblasenen Kleidung geschuldet sein 😊). Durch die überwiegend engen Gassen lässt sich immer wieder ein Blick auf die steilen Hänge von La Paz und die dahinterliegenden hohen Anden erhaschen. Über mir bewegen sich in schwindelerregender Höhe die farbigen Gondolas, die das Stadtbild so charakteristisch prägen. Diese Gondeln wurden seit 2014 in La Paz etabliert, um dem zunehmenden Verkehr durch die engen Straßen Herr zu werden und ersetzen hier praktisch die Metro in anderen Großstädten. Mehr als 10000 Menschen werden stündlich durch dieses Verkehrssystem transportiert.

    Um es mir leicht zu machen und um nicht im Großstadtdschungel verloren zu gehen, habe ich für heute Nachmittag eine Red Cap Walking Tour gebucht. Wir hatten in Valparaiso mit der Stadttour bereits eine gute Erfahrung gemacht und es erscheint mir als optimale Art und Weise in kurzer Zeit eine fremde Stadt zu erkunden. Auf unserer Route für heute steht ein Besuch des Friedhofs La Paz, eine Fahrt mit der Gondel zum Aussichtspunkt und Stadtteil El Alto (wo mir auch die Coca-Blätter meine Zukunft offenbaren), ein Besuch des Witches Markets (Hexenmarkt), sowie eine Einführung in die richtige Verwendung der Coca-Blätter. Unsere beiden Guides David und Roberto sind aufgeschlossen, freundlich und sehr informativ. Am Friedhof angekommen, erzählt uns David eine Menge über die Traditionen, Rituale und den Umgang mit dem Tod in Bolivien. Denn obwohl Bolivien überwiegend streng katholisch ist, vermischen sich die uns bekannten Bräuche mit den uralten Traditionen der indigenen Stämme. So erfahren wir, dass alle 5 Jahre die Grabstätte gewechselt werden muss, um Platz zu schaffen. Aus dem ursprünglich großen Sargophag werden dann vom Bestatter die Gebeine entnommen, zerkleinert und in einen kleineren Sargophag überführt. Bei dieser Handlung ist es zwingend empfohlen, dass der Vorgang von einem Angehörigen überwacht wird, denn allzugerne werden bei diesem Zeitpunkt Schädel entnommen, die dann gewinnbringend auf dem nächsten Markt verkauft werden. Schädel spielen in der Kultur eine wichtige Rolle. Die Tradition sieht vor, dass jede Familie einen Schädel bei sich zu Hause hat. Der Schädel repräsentiert den Geist, der über die Familie wachen soll. Für die schutzbringenden Dienste erweist man dem Schädel Gefälligkeiten, indem man ihn entsprechend schmückt. Der Schädel teilt übrigens dem Familienoberhaupt direkt mit, wie er geschmückt werden möchte (meine persönlich Vermutung ist, dass die Stimmen nur durch den übermäßigen Verzehr von Coca-Blättern hörbar werden 😉) . So findet man Schädel mit Perrücken, Hüten, Sonnenbrillen, Ketten, usw.. Es ist zwingend aufzupassen, dass man den Schädel nicht verärgert oder neidisch macht, indem man zum Beispiel seinen Kindern mehr Aufmerksamkeit widmet als dem Schädel selbst. Tritt eine solche Situation einmal ein, so muss man schnell zusehen, den Schädel wieder loszuwerden. Aus diesem Grund wird sicherheitshalber einmal jährlich der Schädel in einen Tempel zurückgebracht und gegen einen neuen getauscht. Verrückte und gespenstische Sache!!!

    Eine weitere angsteinflößende Geschichte erzählt uns David dann später auf dem Witches Market. Hier hängen an Buden ausgestopfte Baby-Lamas, Mumien, Knochen und andere okkulte Gegenstände, die man sich wahrscheinlich eher nicht ins Schlafzimmer stellen würde. David lässt uns wissen, dass es Brauch in Bolivien ist, vor dem Bau eines neuen Gebäudes ein Opfer zu erbringen und ein totes Baby-Lama im Fundament zu vergraben. Die erforderliche Größe des Baby-Lamas richtet sich dabei nach der Größe des Gebäudes. Eine (zum Glück nicht bestätigte) Legende besagt, dass für sehr große Bauten ein lebender Mensch im Fundament zu begraben ist, in der Regel ein Obdachloser von der Straße, der mittels Alkohol betäubt wird. Ich bin froh, dass es sich hierbei nur um eine Legende handelt (aber manches Mal ist ja auch ein Stückchen Wahrheit an jeder Legende...)

    Zum Abschluss unserer Tour bekommen wir dann noch einige Informationen zum Verzehr von Coca-Blättern. Diese werden hier für Pfennigpreise an jeder Straßenecke verkauft und von den Einheimischen in rauhen Mengen in Form eines Tees getrunken oder direkt gekaut. Sie sollen eine entspannende und zugleich aufputschende Wirkung haben. Ihre volle Wirkung entfalten sie allerdings nur durch die Zugabe einer kleinen schwarzen Wurzel, welche in Verbindung mit dem Speichel als Katalysator wirkt. David zeigt uns, wie wir aus den Coca-Blättern zusammen mit der kleinen schwarzen Wurzel eine Art Kaugummi bauen, welches wir dann anschließend leicht kauend in unserem Mund lutschen. Schmeckt gar nicht mal so schlecht, ein bisschen nach Spearmint. Eine große Wirkung spüre ich zwar nicht, finde aber diesen Gebrauch auch nicht unangenehm. Soll ja auch der Höhenkrankheit vorbeugen 😊

    Mein Tag in La Paz neigt sich dem Ende. Am Abend hole ich mir noch einen lokalen Snack zum Abendessen (eine Art Currywurst mit Pommes für etwa 1,50 Euro) und kehre zufrieden in mein Hostal zurück, um zu entspannen und mich auf die morgige Busfahrt vorzubereiten. Als ich auf meinem Zimmer bin, höre ich allerdings immer und immer wieder ein lautes Rumsen als ob hier ständig jemand auf den Boden knallt. Ich gehe auf Entdeckungstour und sehe schließlich aus meinem Treppenhaus, dass sich im Stockwerk unterhalb meines Zimmers eine Volleyball-Halle befindet, in der intensiv trainiert wird. Verrückte Sachen gibt es... Zum Glück endet das Trainingsprogramm gegen 20 Uhr und ich kann meine Nachtruhe ungestört genießen.

    La Paz wird mir in guter Erinnerung bleiben, insbesondere weil ich ohne jegliche Erwartungen und Vorurteile in die Stadt gekommen bin. Sicherlich eine Stadt, in der man auch mehrere Tage bequem verbringen könnte, ohne sich zu langweilen. Ich bin froh, zumindest diesen eintägigen Zwischenstopp eingelegt zu haben 🙂
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