Satellite
Show on map
  • Day 45

    İstanbul

    November 3, 2019 in Turkey ⋅ ☀️ 17 °C

    Nach einem abenteuerlichen, nächtlichen Grenzübergang mitten im Wald zwischen Bulgarien und der Türkei erreiche ich den Wendepunkt meiner Reise und die größte Stadt Europas: Istanbul ist mit geschätzten 17 Millionen Einwohnern einfach gigantisch. Schon bei der Einfahrt mit dem Motorrad rolle ich gefühlte Ewigkeiten durch Häuserschluchten und Stadttunnel. Dabei muss ich im Verkehr doch deutliche Aufmerksamkeit darauf verwenden, nicht in der chaotischen Fahrweise unterzugehen. Im Hostel angekommen freunde ich mich mit einem türkischsprachigen Iraner an, dessen Sprachkenntnisse mir während meines einwöchigen Aufenthaltes oftmals ein tieferes Eintauchen ins Alltagsleben der Einheimischen jenseits der Hauptattraktionen ermöglichen sollten. Vom obligatorischen Besuch der Klassiker abgesehen, verbringe ich ohnehin die meiste Zeit abseits der vom Tourismus überprägten Viertel. Dabei genieße ich es, in ranzigen Kebapläden und Teeläden mit der gleichen groben Freundlichkeit behandelt und bedient zu werden, wie die Domino spielenden Alten (Mein Magen würde an dieser Stelle weniger positive Worte verfassen). Tagsüber lasse ich mich meistens einfach durch die Straßen treiben und bleibe, wo es mir gefällt und solange der Çay schmeckt. Abends und nachts begleite ich dann entweder den belgischen Flötenspieler auf kleine Konzerte und Auftritte einheimischer Gruppen oder tauche in die türkische Clubscene ab. Definitiv lebt die Aura dieser niemals schlafenden Metropole vom vielen Wasser des Bosporus, des goldenen Horns und des Marmarameers sowie von seinen Bewohnern selbst. Letztere zogen meine Aufmerksamkeit jedoch nicht immer nur durch verkaufstüchtiges Herumkrakele, sondern auch gerne durch ein paar fliegende Fäuste auf sich. So habe ich mehrere Handgreiflichkeiten beobachtet, bei denen innerhalb kürzester Zeit das Aufeinandertreffen zweier Streithähne zu einer filmreifen Massenschlägerei angeschwollen ist. Vor allem die komplett überlastete Verkehrsinfrastruktur dient dabei ordentlich als Zunder wie sich am folgenden Beispiel zeigt: Ein Rollerfahrer mit Sozius knattert am stockenden Verkehr vorbei über den Gehweg und will eben wieder auf die dreispurige Fahrbahn zurückflitzen, als ein Autofahrer auf der mittleren Spur die Geduld verliert und trotz roter Ampel rechts abbiegt. Ein schönes Quietschen ertönt, als der linke Bremshebel des Rollers seinen metallenen Charakter in Form eines dicken Kratzers auf der Beifahrertür beweist. Die Schuldfrage soll wohl gleich an Ort und Stelle geklärt werden, weshalb der Autofahrer brüllend aussteigt und den Rollerfahrer sogleich am Helm schnappt, um darauf herumzutrommeln. Derweil setzt ein ohrenbetäubendes Hupen ein, da alle drei Fahrspuren blockiert sind. Ein wartender Taxifahrer schreit aus offenem Fenster heraus den Sozius an, der wiederum auf die vermutlich uncharmanten Bezeichnung reagiert, indem er den noch sitzenden Taxifahrer durchs Fenster hindurch am Bart packt und Richtung Lenkrad reißt. Daraufhin steigt nun der Fahrgast aus dem Taxi aus, schnappt den Sozius mit einem Arm am Wanst und spendiert mit der anderen ein paar Faustschläge. Wenige Sekunden später verschwinden Auto, Taxi und Roller in einer Traube heranstürmender Verkehrsteilnehmer, Ladenbesitzer und Straßenbauarbeiter, von denen jeder einzelne davon überzeugt scheint, den entscheidenden Beitrag zur Problemlösung beizusteuern. Es wird gebrüllt, Schuhe fliegen und Backpfeifen knallen. Dann, ganz plötzlich, löst sich alles wieder auf, als wäre nichts gewesen.

    Am letzten Abend vor meiner Weiterreise werde ich dann in einem kleinen Shisha-Café in die Regeln des Backgammons eingeweiht. Viel klassischer als mit Blick auf den nächtlichen Bosporus kann man dieses Spiel wohl kaum erlernen.

    Obwohl ich in Istanbul meinen längsten Aufenthalt verbrachte, habe ich nach sieben intensiven Tagen immer noch das Gefühl, nur einen Bruchteil gesehen zu haben. Nichtsdestotrotz setze ich die Reise fort und fahre über die Interkontinentalbrück nach Asien und um das Marmarameer Richtung Çanakkale.
    Read more