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  • Tag 13

    Klostertage

    3. Mai 2019 in Frankreich ⋅ 8 °C

    Trip 5, Tag 13, Wandertag 10:
    Guéret - Thauron, 30 km, Steigung 580 Meter, reine Gehzeit 6:14, Freitag, 3.5.2019

    Die Nacht war gefühlt ein Wimpernschlag als um sieben Uhr morgens das Cello-Concert, wie fast an jedem Morgen, erbarmungslos und verschwenderisch aus dem Handy krächzte. Schade um das schöne Concert. Trotz der neun Stunden Tiefschlaf, mehr am Rande der Bewusstlosigkeit, waren wir wie gerädert und eigentlich fühlte sich der neue Tag eher an wie das Ende einer Wanderpause, so kurzweilig war die Nacht.
    Nur mit Hilfe unseres Wundermittels, „Voltauren Resinat“, gestern Abend noch kurz vor dem Schlafen eingeworfen, konnten wir uns heute überhaupt noch bewegen. Dennoch war jeder Schritt schmerzhaft wogegen eine weitere Ibuprofen 600, eingenommen nach dem französischen Frühstück, wenigstens etwas Linderung versprach, alte Wandererfahrung.

    Um halb zehn standen wir wieder auf der Straße. Unseren Gepäcktransport übernahm ein Taxi. Den scheußlichen Tag gestern hatten wir mental verarbeitet. Es sah ganz danach aus, dass uns das Wetter heute wohlgesonnener sein würde, zumindest regnete es nicht mehr, das war ja schon mal was. Die Strecke von „nur“ dreißig Kilometern heute gab Hoffnung, waren das doch immerhin sieben Kilometer weniger als gestern. Wir waren wahre Meister im schmerzhaften Selbstbetrug. Gegenseitig ermutigende Worte, kombiniert mit neuer Tagesenergie und fernem Realitätssinn, das war eine stets gefährliche Mischung die dreißig Kilometer leicht mal eben so in einen lächerlichen Mittagsspaziergang transformierten, böse Falle mit schmerzhaftem Erwachen.

    Wir verließen Guéret in südlicher Richtung und schlossen, noch kurz vor dem Abschied, Frieden mit dem Ort der sich uns gestern, vom Norden herkommend, doch so feindlich, hässlich und nass präsentierte. Die kleine aufsteigende „Rue de Pommeil“, die uns aus dem Ort führte, war mit ihren bürgerlichen Häusern gefällig und bot zurückblickend, noch einmal zum Abschied, eine schöne Aussicht über die Stadt und ihre Dächer.
    Nach knapp zwei Kilometern führte uns die „Route des Bains“, rechts abzweigend, ein wenig mehr in Richtung vielversprechende Natur. Nach einem weiteren guten Kilometer verließen wir auch diese kleine Straße und folgten einem rechts abzweigenden Pfad, hinein in dichtes Unterholz, die Natur hatte uns endgültig wieder.

    Es war eine eigenartige Stimmung geprägt von Kälte und bedecktem Himmel, der es dem Wald, nach meiner Kategorisierung niedriger „Schmuddelwald“, unmöglich machte, bei uns einen freundlichen Eindruck zu hinterlassen. Menschen begegneten wir nicht, wie fast immer waren wir allein und genossen unsere Zweisamkeit.
    Nach einem weiteren Kilometer verließen wir den Single Trail, und sein wenig ansprechendes Unterholz und querten die „Route du CMCN“. Die Landschaft öffnete sich zu einem wahren Augenschmaus, strotzend grün und hügelig aber durch die immer noch tiefhängenden Wolken dennoch bedrohlich. Nur die wenigen kleinen blauen Löcher, die die Bedrohung bedrohten, machten ein wenig Hoffnung auf ihren Sieg.

    Das offene Landschaftsvergnügen währte leider nur ein kurzes Stück, gerade so als wollte der Wald uns eine letzte Gelegenheit geben noch einmal kräftig durchzuatmen, bevor er uns endgültig in seinen Rachen verschlingen würde.
    Der Rachen erstreckte sich über die nächsten fünf Kilometer.
    Aus dem niedrigen „Schmuddelwald“ wurde ein lichter Buchenwald dessen zartes grün seiner ersten Blätter alles andere als sommerlich anmuteten. Und auch die ersten Frühblüher zu seinen Füßen machten uns schnell klar, dass wir besser vier Wochen später unterwegs gewesen wären. Hier war immer noch kalter, beginnender Frühling. Unsere ganze Hoffnung lag bei den späteren Wanderabschnitten, dann, wenn wir hinter Bordeaux auf den Atlantik stoßen würden. Bis dahin hatte der Sommer noch viel Zeit sich zu sammeln und uns zu finden.

    Mit dem siebten Kilometer erreichten wir den mit 688 Meter höchsten Punkt der heutigen Wanderung, die bisher zweihundertfünfzig bezwungenen Höhenmeter hinterließen bei uns bereits erste Spuren einer leichten Erschöpfung. Der Waldweg veränderte mehr und mehr sein Gesicht. Die Monotonie des Buchenwaldes, zerschnitten vom kurvenlosen Wanderweg, wich einem abwechslungsreichen verschlungenen Pfad, durchsetzt mit großen Felsen und einem fortwährenden Auf- und Ab. Der abwechslungsreiche Pfad erinnerte mehr an einen Motorcross-Trail.

    Nach dem neunten Kilometer spuckte uns der Wald kurz vor „Le Mas Foreau“ wieder aus. Die wenigen gepflegten Häuser des winzigen Ortes waren eine willkommene Abwechslung, grüngeschädigt wie wir mittlerweile bereits wieder waren.

    Wir folgten der „Rue du Moulin“ die offensichtlich nur für uns irgendwann gebaut wurde, Autos fuhren so gut wie keine. Immer noch begegnete uns am heutigen Tag kein Mensch, Frankreich gehörte uns ganz allein, herrlich.

    Bei den nun folgenden fünf Kilometern verloren wir uns im Rausch der Sinne. Die offene und geschwungene Landschaft, okkupiert von gepflegten- und spärlich verteilten alten Häusern, sowie das zerbrechlich zarte Grün der Wiesen, Büsche und Bäume, versetzten uns fast schon in Euphorie. Wieder einmal wussten wir, warum wir das taten was wir taten, wandern, jeden Tag. Für uns kein Selbstfindungstripp, wie so oft von Fernwanderern heraufbeschworen, nein, uns reichte die Natur und die tägliche Veränderung, gefunden hatten wir uns ja schon.

    Hinter dem kleinen Ort „Massebrot“ stießen wir auf die „D940“ in der Karte zwar als gelbe Bundesstraße markiert, dennoch auch sie so gut wie unbefahren. Die grandiose Landschaft und ihre Farben, setzten sich fort. Es gab nichts was geeignet gewesen wäre diese Harmonie in irgendeiner Art und Weise zu stören, keine Strommasten, keine Windmühlen, keine herunter gewirtschafteten Bauten, alles war perfekt, ohne visuelle Verschmutzung.
    Eine kleine Mauer am Wegesrand nach dem achtzehnten Kilometer, war der ideale Platz für unsere Pause. Von den heutigen sechshundertdreissig Höhenmetern hatten wir bereits einen Großteil erledigt was unsere Muskeln mit fortschreitender Erschöpfung quittierten, eine Pause war insofern dringend nötig. Genüsslich kauten wir an unseren sorgfältig belegten Baguettes, die wir heuten Morgen noch schnell am Frühstücksbuffet stibitzten.

    Wir genossen die Stille an der vermeintlichen kleinen Bundesstraße, immer noch nahezu unbefahren, und die, anstelle von Autos, nur von einigen paarungsbereiten Vögeln angenehm gestört wurde.
    Während wir so genüsslich vor uns hin kauten (Man glaubt ja gar nicht wie gut so ein Baguette schmecken kann) realisierten wir, dass unser heutiges Ziel, das „l'Abbaye du Palais“, vermutlich ein echtes Highlight werden könnte, noch dazu für zwei Nächte. Für uns war das uns schon fast Urlaub, auch ohne Wanderpause, denn wir würden morgen von dort die nächste Wanderung starten- und vom Endpunkt wieder mit dem Taxi zurückkehren.
    Das l'Abbaye du Palais, mit vollem Namen "Abbaye du Palais de Notre Dame", wie der Name schon sagt, ein altes Kloster (Zisterzienser), wurde im zwölften Jahrhundert von Bernhard von Clairvaux gegründet.
    Die Bilder im Internet waren so fantastisch, wir konnten gar nicht glauben, dass es so etwas wirklich gibt. Nein, es musste einen Haken geben, ein modriges Zimmer, Toilette im Flur, Bruchbude, alles war möglich, wir waren auf alles vorbereitet, nur noch 12 Kilometer, dann würden wir es wissen.

    Der Himmel verwöhnte uns mehr und mehr mit seinem wunderschönem blau was die Blätter, Wiesen und Blumen um uns herum mit ihren zart-leuchtenden Farben honorierten, es war herrlich, nur kalt-, ja, kalt war es leider immer noch.

    Irgendwann passierten wir „Combeauvert“. Der winzige Ort erlangte durch das „Massaker von Combeauvert“ am 9. Juni 1944 traurige Bekanntheit. Hier wurden 31 Guerillas von den Deutschen hingerichtet. Ein Denkmal kurz vor dem Ort erinnerte daran, beklemmend.

    Nach neunundzwanzig köstlichen Naturkilometern standen wir, bereits deutlich erschöpft, nun auf der Brücke die uns über den Fluss „Le Thaurion“ bringen würde. Von der Brücke aus gab es eine Menge zu entdecken, spannendes Terrain. Der weißblaue Himmel spiegelte sein Antlitz eins zu eins im breiten-, langsam fließenden Gewässer, ein herrliches Schauspiel.
    Nur noch ein Kilometer, dann würde unsere ungeduldige Neugier befriedigt werden, aber der eine bergauf Kilometer sollte es in sich haben. Es nutze nichts, irgendwie mussten wir da hoch. Eigentlich nichts Besonderes, aber nach fast dreißig Kilometern doch schon eine nervige Hürde. Die fast einhundert gewanderten Kilometer der letzten drei Tage mit ordentlich Höhe dazwischen, wiesen unsere Kräfte deutlich in die Schranken. Wir schleppten uns Meter für Meter hoch waren aber dennoch von der Schönheit der Gegend, auch auf diesem letzten Kilometer, beeindruckt.

    Und dann endlich, wir standen am Eingangstor zur kleinen Privatstraße die abzweigend von der Hauptstraße auf das Klostergelände führte. Das rote Kreuzritter Kreuz am Tor war verheißungsvoll.
    Das Gelände war riesig, es hatte die Dimensionen eines Parks der weitläufig von gewaltigen Laubbäumen mit unterschiedlichem rot-grünen Blättergewand durchsetzt war. Das strotzende Grün der gepflegten, weitläufigen Rasenflächen dazwischen, beherbergte, verstreut über den Park, gewaltige, mittelalterliche Ruinen. Es war ein märchenhafter Ort. Ein derartiges Ensemble aus Bäumen, Wiesen und Ruinen sahen wir heute zum ersten Mal.

    Inmitten dieser gewaltigen Umgebung war das jüngere Hauptgebäude, nur einige hundert Jahre alt. Es wurde während der Französischen Revolution zerstört aber danach wieder aufgebaut. Den unmarkierten Eingang in diesem großen Gebäude zu finden war nicht trivial, eine unscheinbare Haustür erlaubte uns schließlich den Zutritt, man erwartete uns bereits.
    Hier drinnen war es mindestens genauso einzigartig wie draußen im Park. Das ehrwürdige Gemäuer erinnerte mehr an ein Schloss. Mit seinem alten Mobiliar perfekt in Szene gesetzt, es war der Wahnsinn. Die lange Tafel des beeindruckenden Kaminzimmers nebenan zeigte eindrucksvoll, dass hier gemeinsam mit allen Gästen getafelt wird, klar, wir waren ja auch in einem „Chambres d'hôtes“. Dinner gabs in einer Stunde, die nette holländische Gastgeberin brachte uns auf unser Zimmer.

    Die Inszenierung setzte sich auch hier fort, alles war geschmackvoll alt, passend zum Gesamten eingerichtet. Im Raum stand eine uralte Email-Badewanne, die ich und jede Faser meiner Muskeln voller Vorfreude wohlwollend zur Kenntnis nahmen. Von den Fenstern aus präsentierte sich der herrliche Park mit seinen Ruinen, er wirkte wie ein Gemälde von David Caspar Friedrich. So sehr wir uns auch bemühten, wir fanden kein Haar in der Suppe, alles war maximal begeisternd. Schon ärgerten wir uns, dass wir hier nur zwei Nächte bleiben konnten.

    Das fünfgängige Dinner war ein weiteres Highlight. Wir waren ca. fünfundzwanzig internationale Gäste die gemeinsam hier den Abend an der Tafel am lodernden Kamin schnatternd verbrachten. Alles spannende Menschen. Dennoch, wir waren die Sensation als wir berichteten, dass wir zu Fuß aus Hamburg hier waren, jeder wollte wissen, wie das geht.

    Und jeder von ihnen war verzaubert von diesem Ort.
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