Der fünfte Abschnitt unserer Wanderung von Hamburg nach Santiago de Compostela.
Von "Vezelay", Frankreich, nach "San Sebastian", Spanien.
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  • Vorwort zu unserer 5. Wanderung

    April 1, 2019 in Germany ⋅ ☀️ 10 °C

    Ramelsloh, 1. April 2019

    Vorwort zu unserem fünften Abschnitt unserer langen Wanderung von Hamburg nach Santiago de Compostela. Diesmal von „Vézelay“, Frankreich nach „San Sebastian“, Spanien, 860 Kilometer.

    Liebe Freunde unserer „Europäischen Angelegenheit“,

    gleich ist es wieder so weit, ab 21. April sind wir wieder auf Wanderung, weiter als ungläubige Nichtpilger auf unserem Weg nach Santiago de Compostela.

    Die Endstation unserer letzten Wanderung ist wie immer der Startpunkt der Kommenden. Von „Vézelay“ aus wollen wir weiter Frankreich durchqueren um dann, nach rund 860 Kilometern, unser diesjähriges Endziel, „San Sebastian“ im spanischen Baskenland, zu erreichen.
    Diesmal wird uns auch Rahul, Partner und Freund aus Singapur, ab Bordeaux bis San Sebastian, auf den letzten 240 Kilometern, zu uns stoßen.
    Die Vorbereitungen waren sehr zeitaufwendig, immerhin wandern wir die gesamte Strecke auf eigenen Pfaden, fernab von irgendwelchen Pilger- oder Wanderwegen. Da es in den ländlichen Gegenden Frankreichs nur wenig Hotels gibt und wir sicherlich nach 30 Wanderkilometer keine Lust und Kraft mehr haben uns auch noch ein Zimmer zu suchen, war es wichtig die täglichen Wanderetappen bereits zu planen und die entsprechenden Unterkünfte vorab zu buchen.
    Etwas Kopfzerbrechen bereitet uns wie immer der tägliche Transport unserer Koffer, die ja immer auch irgendwie zu unserer abendlichen Unterkunft weiter transportiert werden müssen, denn wir selbst wandern ja nur mit einem leichten, ca. 5 kg schweren Wanderrucksack. Insbesondere an den Wochenenden gibt es nämlich, man glaubt es nicht, kaum Taxen in Frankreich.
    Auch körperlich sind wir sehr gut vorbereitet, gute Kondition, mehr Kraft, weniger Gewicht, beste Voraussetzungen also um die Strecke zu bewältigen, immerhin weiter als die Distanz von Rosenheim nach Hamburg.
    Für die gesamte Strecke haben wir 31 volle Wandertage geplant, durchschnittlich also 28 Kilometer am Tag. Inklusive Pausentage haben wir 39 Tage für unsere Tour vorgesehen. Von San Sebastian aus fliegen wir dann zurück nach Hamburg, am 29. Mai wollen wir wieder zu Hause sein.
    Wir freuen uns schon auf all die kleinen Abenteuer, die wir uns im Moment noch nicht im Entferntesten vorstellen können, aber genau das macht das Fernwandern ja auch aus.

    Eines aber ist gewiss, wir werden berichten, Günter und Marion.
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  • Day 1

    Anreise

    April 21, 2019 in France ⋅ ⛅ 20 °C

    Trip 5, Tag 1: Anreise Hamburg-Vézelay

    Die schöne Landschaft flog nur so an uns vorbei, gut so.

    Ungeduldig saßen wir in unserem Europcar auf der bereits vertrauten französischen Autobahn und sausten unserem geliebten „Vézelay“ entgegen, fast so, als freue man sich auf zu Hause.

    Die Air France 1411 brachte uns von Hamburg zum Terminal 2F von Paris-Charles-de-Gaulle. Die Anmietung des Leihwagens, den wir morgen in „Avallon“ bei „Vézelay“ wieder zurückgeben werden, verlief reibungslos. Nur unser schönes Gemälde das wir letztes Jahr, im Juni 2018, in einer Galerie in „Vézelay“ für teures Geld zum Andenken an unseren letzten Wanderung gekauft- und hier vergessen haben, schmückt vermutlich irgendeine andere Wand, nur nicht unsere, wie ärgerlich!

    „Vézelay“ ist der Startpunkt dieser Wanderung und gleichzeitig Endpunkt der Letzten. Der mittelalterliche Wallfahrtsort ist weit über Frankreich hinaus bekannt, und gleichzeitig Ausgangspunkt des Zufbringer-Jakobswegs „Via Lemovicensis“. Ihm wollen teilweise auf unserem langen Weg nach Spanien folgen, so der Plan.

    Nach dem heißen Sommer bei unserer Wanderung im letzten Jahr, mit fast 4 Wochen ununterbrochenen-, gnadenlosen Sonnenschein, wollten wir dieses Jahr der vermeintlich zu erwartenden Hitze entkommen. Insofern haben wir das Zeit-Fenster dieses Mal sehr früh gewählt, vom 21. April bis 29. Mai.

    Für uns war es nach der Erfahrung im letzten Jahr völlig klar, dass es in diesem Jahr genauso kommen würde. Insofern hätte eine Wanderung im Frühjahr nur Vorteile für uns. Angenehm temperiertes, schönes Wetter, wir waren ja schließlich schon deutlich im Süden, und im Sommer dann wieder zu Hause, im schönen Garten.
    Das es statistisch gesehen, genau in diesem Zeitfenster entlang unserer geplanten Wanderroute normalerweise am meisten regnet, verunsicherte uns wenig. Der Klimawandel wäre auf unserer Seite, ganz sicher.
    Da konnten selbst durchwachsene Wetter-Prognosen für morgen und die restliche Woche, nichts ändern. Auch nicht, dass in Hamburg nur die aller mutigsten Blättlein einen ersten Blick vom Baum auf uns Menschen wagten. Was so ein Blättlein übrigens dabei über uns denken mag, sei einmal dahingestellt.
    Im Nachhinein muss man klar sagen, dass der Jahrhundertsommer letztes Jahr unser Hirn eindeutig vernebelt hat, zu viel "Klimawandel" im Fernsehen.

    Es war ein wunderschönes Gefühl die sechs Wochen-Wanderung noch vor uns zu haben und für eine gefühlt unendlich lange Zeit frei von Zwängen und Alltagssorgen zu sein. Gehen macht den Kopf frei und fast 30 Kilometer täglich machen ihn leer!
    Das erhabene Gefühl der unendlichen Freiheit, garniert mit den Wanderhighlights des letzten Jahres, relativierte auch den zurückliegenden Planungsaufwand gegen null.

    Unsere Vorfreude machte die 263 Kilometer Wegstrecke vom Flughafen Paris nach „Vézelay“ zu einem Genuss, von dem wir mit jedem Kilometer etwas abgeben mussten.
    Günter hatte die 5. Wanderung, die mit 860 Kilometer und 11.600 Höhenmeter unsere längste und gleichzeitig anstrengendste werden würde, monatelang akribisch geplant.
    Von unserer Haustür in Ramelsloh bis „Vézelay“, Frankreich, hatten wir in den vier letzten Wanderabschnitten bisher rund 2.200 Kilometer erwandert.

    Die Herausforderung bei dieser Planung war einmal mehr die dünne Besiedelung der Landschaften, die wir zu durqueren hatten. Auch konnten wir nicht einfach grob der „Via Lemovicensis“ folgen da unser Endpunkt nicht “Saint-Jean-Pied-de-Port“, sondern „San Sebastian“ an der spanischen Atlantikküste war.

    Für unseren finalen Wanderabschnitt im kommenden Jahr, der Durchquerung Spaniens nach „Santiago de Compostela“ und weiter ans „Ende der Welt“, kommen für uns im Grunde nur zwei Jakobswege in Frage.
    Der eine ist der „Camino Francés“ und führt durch das Landesinnere quer durch Spanien von Ost nach West. Er ist auch bekannt als „Hape Kerkeling Weg“ und völlig überlaufen. Eigentlich kann man diesen Weg, den 65% aller "Pilger" nehmen, mehr mit einer Pilger-Modenschau vergleichen. Sehen und gesehen werden ist hier für viele das wichtigste Thema.
    Ausgangspunkt für den „Camino Francés“ ist “Saint-Jean-Pied-de-Port“. Der französische Ort an der spanischen Grenze ist zugleich auch der Endpunkt der „Via Lemovicensis“.

    Für uns wäre das nix, so viel war klar. Auf unseren bisherigen Wanderungen sind wir relativ menschenscheu geworden und haben unsere Zweisamkeit in menschenleeren und grandiosen Landschaften immer sehr genossen. Klar, dass auch mal eine schöne alte Stadt mit Menschen und Kultur dabei sein darf. Aber danach haben wir gerne wieder unsere Ruhe.
    Insofern haben wir uns für den „Camino del Norte“ entschieden. Nach allem was wir so gelesen- und gehört haben, scheint dieser Jakobsweg nach Compostela, der mehr oder weniger entlang der spanischen Atlantikküste führt, genau der Richtige für uns zu sein. Allerdings ist er mit rund 835 atlantischen Kilometern auch etwas länger als der „Camino Francés“ und, ein das ist ein echtes Gegenargument, er ist deutlich effizienter bei der Vernichtung von überflüssigen Pfunden.
    Ihn zu gehen bedeutet viele tausend Höhenmeter mehr an Schweiß. Steilküste rauf, Steilküste runter, Berg rauf, Berg runter, und das mehrmals am Tag. Es hat sicherlich einen Grund, warum sich nur 6% aller „Pilger“ für diesen Jakobsweg entscheiden. An der Landschaft, meist mit erhabenem Blick auf den Atlantik, liegt es sicherlich nicht.

    Ausgangspunkt für den „Camino del Norte“ ist „Irun“ im Baskenland, ca. 30 Kilometer vor San Sebastian, gleich hinter der französischen Grenze. Da San Sebastian auch der Endpunkt dieser Wanderung sein wird, werden wir am Ende auch noch den ersten Abschnitt del "Camino del Norte" erleben und sehen worauf wir uns eingelassen haben.

    Von „Vézelay“ kommend werden wir der „Via Lemovicensis“ nur sporadisch und mehr zufällig folgen, soweit es eben die weiter unten erwähnte Bleistiftlinie in der Landkarte zulässt.
    Nach ein paar hundert Kilometern entfernt sich der Camino jedoch immer mehr von besagter Luftlinie die uns weiter nach „Bordeaux“ führen wird. Bei Mimizan, westlich der spannenden Stadt, werden wir auf den Atlantik stoßen und seiner Küste immer weiter, bis nach San Sebastian, folgen.

    Wie schon öfter erwähnt sind wir nicht spirituell unterwegs, sondern gehen einfach nur zum Spaß nach Santiago.
    Insofern macht es für uns auch keinen Sinn jeder Krümmung der „Via Lemovicensis“ zu folgen nur um irgendein Kirchlein, dass in diesen Gegend leicht zu einem "domaren" Monster mutieren, zu besuchen.
    Auf die dort wartenden Pilgerstempel, die von ähnlich gesinnten gerne als Souvenir oder als Besuchsbeweis im Pilgerbüchlein verewigt werden, was ohne ein solches für uns sowieso schwierig wäre, pfeifen wir.
    Nein, das Stempeln haben wir bereits in Niedersachsen, am Anfang unseres Weges, mangels Sinnhaftigkeit aufgegeben. Liegt ein "Kirchlein" aber auf dem Weg, lassen wir uns gerne von ihm beeindrucken.

    Über den gesamten Verlauf unserer Wanderung werden wir ausschließlich unserer eigenen Navigation, entlang besagter Bleistiftlinie, folgen.
    Unser Navigator ist auch diesmal unsere Komoot-App die uns meist sicher über Trails, Wald- und Schotterwege sowie Wiesen und Stassen zu unseren Zielen geführt hat. Für Fehlinformationen haben wir mittlerweile ein gutes Gefühl entwickelt.

    Die Entwicklung eines ersten Tourenverlaufs ist relativ einfach.
    Man nehme eine Landkarte, suche seinen Ausgangspunkt, hier „Vézelay“, und seinen Endpunkt, hier „San Sebastian“. Dann nimmt man ein Lineal und zieht mit einem Bleistift eine gerade Linie vom Anfang zum Ende.
    Diese Linie teilt man maßstabsgerecht in die Distanzen ein die man sich als Tagesziel gesetzt hat, bei uns waren das zwischen 25 und 30 Kilometer. Man erhält so die Anzahl der Wandertage.
    Danach sucht man sich entlang der Strecke Orte aus, wo man gerne einen freien Tag hätte oder, durch vermeintliche Erschöpfung, vermutlich dringend einen benötigt. Schon weiß man wie lange man insgesamt unterwegs sein wird.

    Die Gegenden, die man durch dieses Verfahren durchwandert, kennt in der Regel garantiert keiner. Gleichzeitig ist das aber auch das größte Problem, denn wenn die Gegend keiner kennt, wandert da auch nie einer und wenn da nie einer wandert wird es extrem schwer Unterkünfte zu finden. Das führt wiederum dazu, dass man die wenigen aber benötigten Unterkünfte, im Voraus buchen muss. Hier fängt der Stress eigentlich erst so richtig an. Ich spreche hier noch nicht einmal von Hotels, die es in diesen Gegenden ohnehin kaum gibt sondern von Privatunterkünften aller Art.
    In solchen Landstrichen-, und am Ende einer langen Wanderung, ohne Vorplanung darauf angewiesen zu sein eine Unterkunft finden, würde unweigerlich entweder irgendwo auf einem weichen Laubbettchen im namenlosen Wald-, oder auf einer durchnässten Wiese im Nirgendwo enden. Nicht unbedingt das was man sich so vorstellen mag, erst recht nicht bei Regen.

    Auch wird man schnell feststellen, dass die eingeteilten Tagesabschnitte der Bleistiftlinie mangels Übernachtungsmöglichkeit so oft nicht funktionieren.
    Dann muss man die Tagesstrecke bis zur einzig möglichen Unterkunft entweder erhöhen oder reduzieren und das Strichlein zähneknirschend versetzen. Dabei ist es immer gut einen noch nicht ausgetrockneten Radiergummi im Haus zu haben.
    Es versteht sich von selbst, dass eine dadurch kleiner werdende Tagesstrecke, wegen des im Verhältnis engen Zeit-Fensters, an einem anderen Tag wieder aufgeschlagen werden muss.
    Nach dem das Strichlein seinen neuen Platz gefunden hat, werden es so auch schon mal knapp 40 Tageskilometer und gleichzeitig deutlich mehr Höhenmeter.
    So ein Strichlein wird dann schnell zum gemeinen Schwein.

    Oft aber hilft aber auch intensives radieren nichts. Denn, wenn in menschenleeren Gegenden im Umkreis von 50 Kilometer überhaupt kein Bett zu finden ist benötigt man irgendeinen Fahrdienst der einen vom Endpunkt des Wandertages abholt, zurück zur Unterkunft fährt, und am Morgen des kommenden Tages dorthin wieder zurückbringt.
    Und wenn der Umkreis eher bei 70 Kilometer bis zur nächstmöglichen Unterkunft liegt, benötigt man auch noch die Fahrbereitschaft des nächsten Hotels auf der Wanderroute oder eines anderen Fahrdienstes. Der muss uns dann, am Ende des zweiten Tages, an einem schwer zu erklärenden Endpunkt mitten in der Pampa und irgendwo im nirgendwo, abholen und zur neuen Unterkunft bringen.
    Am Morgen des dritten Tages ist man dann darauf angewiesen, dass dieser Fahrdienst so nett ist uns wieder zum Endpunkt des Vortages zurückzubringen damit wir, am Ende dieses Wandertages, dann die ganzen 70 Kilometer zur Unterkunft zu Fuß zurückgelegt- und die Strecke so geschlossen haben. Man kann die dafür erforderliche Logistik nur schwer in Worte fassen.
    Das alles macht die Planung enorm komplex. Natürlich sind wir selbst schuld, weil wir ja immer nur Tagesgepäck in Form eines ca. 5 Kilogramm schweren Rucksacks mit uns führen und unsere schweren Koffer zur nächsten Unterkunft ebenfalls von einem Fahrdienst, transportieren lassen.

    Alles andere würde aber für jeden von uns einen mindestens 15 Kilogramm schweren Rucksack mit Zelt und einer rudimentären Garderobenausstattung mit sich bringen, aus dem Alter sind wir eindeutig und zweifellos raus. Außerdem, mit räudigen Klamotten einen der sauer verdienten, freien Tage an einem schönen Ort so richtig genießen zu können geht nicht, bei Günter jedenfalls nicht. Auch die durchschnittlichen Tageskilometer müssten dann aus gewichtsgründen drastisch reduzieren.
    Die Planung erfordert also die Buchung der Übernachtungen, den Koffertransport und zusätzlich oft auch noch den Hol- und Bringdienst von End- oder Startpunkten, alles gegen Bezahlung zum Taxitarif versteht sich.

    Hinzu kommt auch noch zu überlegen, wo man sich am Ende eines langen Wandertages den gähnend leeren Bauch voll schlagen kann, denn auch Restaurants sind in diesen Gegenden selten. Cafes, tagsüber für zwischendurch, gibt es sowieso nicht. Die wenigen Restaurants die es dort gibt sind meistens nur kurz mittags- und abends, von 18:00 bis 21:30, geöffnet. Sie erwarten wegen der von den Franzosen allseits geliebten 5-gänge Menüs, auch noch eine Reservierung.

    Die erforderliche Planung wird insofern zu einem logistischen Meisterwerk das in einem kaum noch zu verstehenden- und völlig überladenen Excel-Sheet, mit hunderten von Informationen, endet.
    Erschwerend kommt bei den Fahrdiensten hinzu, dass es sich mit ihnen ähnlich verhält wie mit den Unterkünften, es gibt sie kaum oder gar nicht und am Wochenende in Frankreich in der Regel sowieso nicht.
    So muss man, gibt es kein Taxiunternehmen wie so oft, private Fahrer finden. Meist sind es dann die Unterkünfte die man für eine bezahlte Fahrt oft beknien muss, weil der gemeine Franzose grundsätzlich geneigt ist einen „Herzinfarkt“ zu vermeiden.

    All diese Services müssen im Voraus gebucht- und meist auch gleich bezahlt werden, ein großes Risiko, denn wird man krank ist das Geld futsch. Auch kann man die Tagesetappen nicht spontan ändern oder, wenn einem ein Ort gut gefällt, nicht eben mal einen Tag länger bleiben.

    Die Ausgaben für eine solche Wanderung sind nicht unerheblich. Eine 6-wöchige Luxus-Kreuzfahrt wäre sicherlich nicht teurer, aber wer will die schon.

    Auch die Tatsache, dass in Frankreich kaum jemand deutsch oder englisch spricht und wir wiederum nicht Französisch, sei an der Stelle noch kurz erwähnt, es lebe Google.

    Ist man aber mit der Planung erst einmal durch, hat man seine Ruhe und kann in der Regel seine Wanderung nahezu unbesorgt genießen! Genau das ist der große Vorteil in dünn besiedelten Landstrichen von denen es in Frankreich viele gibt. Manch einer mag sich gar nicht vorstellen, dass es hier, anders als in Deutschland, viel, sehr viel Platz gibt.

    Am Ende eines langen Wandertages erwartet man dann mit Spannung was man für den heuten Abend- und bei welchen Vermieter, gebucht hat. Manchmal treffen da Welten zwischen Fantasie und Realität aufeinander, sowohl positive als auch negative.
    Unser auf knapp 6 Wochen begrenztes Zeit-Budget, dass uns bis nach Spanien bringen soll, fordert von uns einen Tagesdurchschnitt 28 Kilometer, plus Steigungen, brutal. Auch müssen wir, nach Günters Planung, immer 5 bis 6 Tage gehen um uns, nach rund 150 Kilometern, einen- oder zwei Tage Pause zu gönnen.

    So richtig realisierte Marion die strapaziöse Planung eigentlich erst im Flieger nach Paris, wo sie einen ersten Blick auf das monströse Excel-Sheet warf. Danach viel es ihr wie Schuppen von den Augen.
    Ich benötigte das gesamte Repertoire meiner 60jährigen Lebenserfahrung, um die harten Fakten etwas weicher erscheinen zu lassen. Marion wurde jedoch emotional schnell wieder rückfällig. Es brauchte seine Zeit bis sie sich Ihrem "Schicksal" ergab. Ich selbst habe mich bereits schon während der Planung ergeben.
    "Da müssen wir jetzt wohl irgendwie durch", nuschelte Günter kleinlaut, um Marion Motivation nicht noch weiter zu strapazieren.

    Die letzten Kilometer führten uns die kleine Straße hinauf nach „Vézelay“. Es thront seit über tausend Jahren oben auf dem Berg. Kaum zu glauben, dass mehrere unrühmliche Kreuzzüge ins Heilige Land hier, bei der Basilika, ihren Anfang fanden.
    Alles an diesem wunderschönen 600 Seelen Ort fühlte sich an, als ob wir zuletzt gestern hier gewesen wären. Nur die Touristen waren, obwohl heute Ostersonntag war, vermutlich jahreszeitlich bedingt, deutlich weniger.
    Es war so schön wieder hier zu sein. Was für ein Ausgangspunkt für unsere Wanderung.
    Auch das altehrwürdige „Hotel de la poste et du Lion d'Or“ hatte uns-, und wir den schönen Blick auf Zugang in den kleinen Ort, wieder.
    Im Restaurant „A la Fortune du Pot“, direkt daneben, erkannten uns auch gleich die netten Gastgeber wieder.
    Wir saßen unter Heizstrahlern auf der Terrasse und ließen, leicht unterkühlt, die Wanderung des letzten Jahres, mit all den Highlights, bei einem ausgezeichneten französischen Menü Revue passieren. Negatives hatten wir längst verdrängt.
    Morgen war es also so weit. Wie würde die Wanderweg hinter „Vézelay“, wo mehr und mehr der hügelige Wald dominierte, wohl weiterführen? Darüber hatten wir auch schon im letzten Jahr oft gerätselt.
    Wir waren voller Ungeduld und sehr neugierig auf das, was uns ab jetzt erwarteten würde.
    Aber irgendetwas fühlte sich anders an als im letzten Jahr, es war die die kalte Abendluft.
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  • Day 2

    Klimaerwartungsindex

    April 22, 2019 in France ⋅ ☁️ 22 °C

    Trip 5, Tag 2, Wandertag 1: Vézelay - L'église de Talon, 25,4 km, Steigung 430 Meter, Gehzeit 5:17

    Gleich hinter dem Hotel führt uns eine kleine Straße steil abwärts zur „D 951“. Mit einem letzten Blick auf unser alt-ehrwürdiges Hotel und das darüber thronende Vézelay, machen wir uns auf den Weg zu unserem ersten Tagesziel, der Église (Kirche) von Talon.
    Wandern fühlt sich heute noch ungewohnt und fremd an. Auch die benötigte Zeit für die morgendliche Aufsteh-, Pack- und Frühstücksroutine bot noch deutliches Optimierungspotenzial. Da Günter zuvor auch noch das Leihauto in „Avalon“ zurückgeben- und zurück ein Taxi nehmen musste, waren wir relativ spät unterwegs.
    Nach einer kurzen- aber nervigen Stippvisite bei der Bundesstraße befreit uns die „Via Lemovicensis“ aus ihren Klauen. Fast haben wir vergessen, wie nervig und gefährlich Bundesstraßen sind, besonders solche, mit vielen Kurven und vielen Autos.

    Die himmlische Ruhe des gut 1.000 Jahre alten Pilgerweges, den die UNESCO 1998 zum Weltkulturerbe erklärte, wird nur von unserem leidendvollen Gekeuche irdisch gestört. Es geht bergauf, sehr bergauf, ohne Hoffnung auf einen baldigen Sieg. Wenigstens wird uns warm dabei, denn vom erwarteten Klimawandel gibt es weit und breit keine Spur.
    Im Gegenteil, es ist kalt, richtig kalt. Die Bäume schieben gerade mal ihren ersten Hauch von grün unter den bedeckten Himmel. Eigentlich, wenn man es genau nimmt, ist hier noch Winter wie in Deutschland. Kleine wilde Horden von ersten Schlüsselblumen, links und rechts des Weges belegten dies eindrucksvoll.
    In unseren Köpfen platzt gerade eine Seifenblase größeren Ausmaßes. Anstelle einer kalten Frühjahrswanderung, die sich Dank des Klimawandels und des schon deutlich im Süden gelegenen Breitengrades zur vermeintlichen Frühsommerwanderung mit angenehmen Temperaturen transformiert sollte, waren wir nun doch im Begriff im frühen Frühjahr- bzw. späten Winter zu wandern.
    Klimaschützer mögen mir an der Stelle meine Ironie bezüglich des Klimawandels, die sich mehr gegen die nach Skandalen haschenden Medien als gegen die traurige Anerkennung des Umstandes richtet, verzeihen.
    Während wir so von uns hin schnaufen, versuchen wir im atemlosen Dialog Argumente zu finden warum ab morgen alles anders sein könnte. Aber es hilft alles nichts, der Wald zeigt uns an seinem Zustand, dass er nicht bereit ist in den kommenden Tagen und Wochen daran etwas gravierend zu ändern, ihm waren die Hände gebunden. Die kalten Temperaturen waren noch nicht auf seiner Seite.
    Schließlich geben wir die Parole aus, dass der Sommer weiter im Süden bei Bordeaux, schon noch auf uns warten wird. Immerhin wären wir dann ja fast schon auf der geographischen Höhe Roms. Dass aber Rom am Mittelmeer-, und Bordeaux am Atlantik liegt, haben wir dabei verdrängt, gut so, es lebe die Illusion.

    Wie auch immer, deutlich geläutert und reichlich desillusioniert folgen wir dem breiten und uralten Waldweg. Wir versuchten uns vorzustellen welche Schmerzen, Strapazen und Gefahren die frühen Pilger im Mittelalter auf diesem Weg erdulden mussten. Nur den Glauben im Kopf, und mit nichts und ohne Geld unterwegs, waren sie eine willkommene Freibeute für jedes Schlitzohr dieser Gegend. Selbst schuld, dachte Günter gnadenlos.
    Aus dem ausgesetzten und lichten Buchenwald wird streckenweise schöner, dichter „Dschungel“ den wir auf dem rettenden Weg komfortabel durchwandern. Ein bisschen fühlt es sich an wie im botanischen Garten. Der immer noch bedeckte Himmel und die erfrischenden 12 Grad verbreiten dennoch eine leicht morbide Grundstimmung, die durch die Art des Waldes auch noch verstärkt wird.

    Nach rund dreieinhalb Kilometern hat das Leiden erst einmal ein Ende. Es geht wieder abwärts, angenehmes Wandern, wir haben es uns verdient.
    Mit dem zehnten Kilometer spuckt uns der Wald endlich aus. Wir landeten auf einer wunderschönen, sanft geschwungenen und menschenleeren Landschaft ohne Bäume, nur begrenzt durch den Horizont. Willkommen in „unserem“ Frankreich, dachten wir. Das ist das Frankreich, das wir lieben, was für ein erhabener Anblick.

    Aber nicht nur die Landschaft will uns mit „unserem Frankreich“ belohnen, auch die dringend benötigte Sonne begrüßt uns mit schlagartigen 22 Grad, wow. Wir können unser Glück kaum fassen, das Frieren hat erst einmal ein Ende. Vielleicht haben wir uns ja, wegen des kalten Klimas, heute Morgen, zu viel Gedanken gemacht. Schnell muss Günters lange Hose einer Kurzen weichen und Marions warme Jacke fortan im Rucksack schmoren.

    Irgendwo dort in der Ferne, erahnen wir bereits „La Maison-Dieu“, 2 Kilometer später stehen wir am Ortschild. Es ist ein ländlicher-, von Landwirtschaft geprägter-, schöner alter Ort der von ungewöhnlich vielen alten Brunnen geziert wird. Mit seinen rund 120 Einwohnern ist er, wegen anhaltender Landflucht, mittlerweile eindeutig überdimensioniert. Menschen sehen wir, wie fast immer in solchen Orten, keine.
    Kein Zweifel, hier war der Frühling zu Besuch, wunderschön blühende Büsche waren seine Spuren. Unser „Klimaerwartungsindex“, der heute Morgen von 100 Punkten gegen null rauschte, erholt sich stetig. Als wir dann schließlich nach dem Ortsausgang auch noch am Wegesrand ein schönes Plätzchen für unsere Mittagspause auf einer Wiese entdecken, erholt sich der Index schnell auf satte 70%.
    In absoluter Ruhe, die höchstens von ersten, lebensmüden- und kälteunempfindlichen Insekten gestört wird, mampften wir unser belegtes Baguette das wir heute Morgen, am Frühstücksbuffet, liebevoll mit Wurst, Käse und ein paar Gürkchen aufwerteten. Danach gibt es zum Dessert für jeden einen Eiweißriegel. Es ist eindeutig einer der ersten Glücksmomente dieser Wanderung.

    Weiter geht es auf dem Jakobsweg der das Einzige ist, was dieser beeindruckenden Landschaft in Form einer Linie abgerungen wurde, wir sind tief beeindruckt.
    Einzig der versprochene Abholservice des Hotels, den ich im voran gegangenen Kapitel beschrieben habe und den wir bereits am ersten Wandertag nutzen wollen um noch eine Nacht länger im schönen Vézelay bleiben zu können und um gleichzeitig einmal weniger Koffer packen zu müssen, störte unsere völlige Unbesorgtheit.
    Treffpunkt ist die noch rund acht Kilometer entfernte Kirche in Talon, die L'église de Talon. Ohne ein wartendes Taxi vor der Kirche sind wir aufgeschmissen, denn dort ein Taxi rufen zu müssen könnte zur abendfüllenden Aufgabe werden. Unser Optimismus behielt dennoch die Oberhand.

    Wir stoßen auf die vernachlässigte „D 985“ die wir nach eineinhalb Kilometer gegen die nicht minder entspannte „D 165“, in Richtung „Tannay“, eintauschen und queren danach den romantischen, 174 Kilometer langen „Canal du Niveaus“ mit seinen 108 Schleusen. Versteht sich von selbst, dass Günter noch schnell von der Brücke in den Kanal spucken musste, um ein Zeichen zu setzen.

    Mit dem zwanzigsten Kilometer macht „Tannay“ und seine 585 nicht sichtbaren Einwohner mit uns Bekanntschaft. In dem schönen alten Ort gibt es einiges zu entdecken. Besonders spannend sind einige alte Villen mit ihren hinter hohen Mauern versteckten Gärten, die auch schon mal zu kleinen, herrschaftlichen Parks mutieren. Ihr Geheimnis geben sie nur auf den zweiten Blick, durch alte geschmiedete Eingangspforten, preis.

    Mittlerweile wandern wir gegen die Zeit, immerhin haben wir mit dem Fahrdienst eine feste Uhrzeit vereinbart.
    Mit dem zweiundzwanzigsten Kilometer nervt uns für einen Kilometer die „D 34“ mit ihrem „Feierabendverkehr“, der mit maximal einem Auto pro Minute auf sich aufmerksam macht.
    Dem rettende Wegweiser zum nur noch zwei Kilometer entfernten „Talon“, unserem heutigen Ziel, folgen wir auf der unbefahrenen „D 282“ gerne. Zwischenzeitlich fällt unser „Klimaerwartungsindex“ mangels wärmender Sonne wieder deutlich unter 50%.
    Den Ort, mit seinen 42 Einwohnern müssen wir fast schon suchen, eigentlich ist es mehr ein kleiner, versprengter Haufen von wenigen Bauernhäusern. Der örtliche Friedhof beherbergt vermutlich mehr Einwohner als seine Parallelwelt über der Erde.
    Nur mit zehnminütiger Verspätung, man staune, stehen wir vor der Eingangstür der Kirche und warten leicht nervös auf unseren verspäteten Abholer. So könnten wir uns wenigsten noch das alte Kirchlein ansehen, dachten wir uns. Das aber wollte nichts von uns wissen und verwies uns mit Hilfe des beißenden Schimmelgeruchs wieder nach draußen.

    Dort wartet mittlerweile der gut gelaunte, aus Marokko stammende Fahrer, um uns müde aber zufrieden wieder im Hotel in Vézelay, und unserer dringend benötigten, warmen Dusche, abzuliefern. Es brauchte viele Liter heißes Wasser, bis wir unser Blut wieder einigermaßen in Wallung bringen konnten um uns anschließend zum abendlichen Dinner aufzuraffen.
    Im Restaurant stoßen wir bei einem feinen französischen Menü an, „Prost, auf unseren ersten Wandertag“.
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  • Day 3

    Das Monster

    April 23, 2019 in France ⋅ ☁️ 15 °C

    Trip 5, Tag 3, Wandertag 2: L'église de Talon - Prémery, 33 km, Steigung 520 Meter, Gehzeit 10:25

    Ganz vergessen hatten wir schon die nervige und allmorgendlichen Rucksack-Vorbereitung für die Wanderung des Tages. Der Rucksack, den wir jede Stunde abwechselnd tragen, verlangt beim Packen große Sorgfalt. Schließlich wollen wir ja auch für Notfälle in der Einsamkeit gerüstet sein. Nicht auszudenken was passieren würde, wenn wir beispielsweise zu wenig Ersatzakkus für Günters Smartphone dabeihätten. Es wäre fast aussichtslos ohne jemandem zu begegnen, das Etappenziel zu finden. Auch sind wir durch die extrem schlechte Netzabdeckung in der Einsamkeit von der morgens heruntergeladenen und damit offline verfügbaren Tagesnavigation abhängig. Oder eine Verletzung irgendwo im Nirgendwo, sie wäre ohne Erste Hilfe Equipment bestimmt nicht lustig. Auch muss man natürlich die richtigen Wechsel-Klamotten für den Tag im Rucksack bunkern. Sich morgens gut über das im Tagesverlauf zu erwartende Wetter informiert zu haben ist für einen sorgenfreien Wandertag unabdingbar. Eine mitgeführte, kurze Hose kann da genauso viel Freude bereiten, wie ein warmer Pullover oder eine Regengarnitur.

    Wenn man danach auch noch die Koffer packen muss, weil die Tageswanderung bei einer neuen Unterkunft endet, geht das Generve weiter.

    Hat sich die Routine aber erst einmal eingestellt, benötigen wir für beides ungefähr eine Stunde. Konkret bedeutet das für uns um Sieben aufstehen, eine Stunde Morgentoilette und Frühstücken, sowie eine Stunde packen. Wenn wir dann um neun bereits auf der Piste sind, waren wir gut. Ist die Etappe länger als dreissig Kilometer sollten wir spätestens um acht auf der Piste sein was wir leider noch nie geschafft haben.

    Heute werden wir uns endgültig von Vézelay abnabeln, wer weiß ob wir diesen ungewöhnlichen Ort jemals wiedersehen, ein bisschen Wehmut stellt sich ein als wir beim Hotel auschecken.
    Unser erster Wandertag war zur Eingewöhnung mit 25 Kilometern bewusst „kurz“ gewählt. Heute jedoch, mit rund 33 Kilometer Wegstrecke und 520 Höhenmetern, ist Schluss mit lustig.

    Unser marokkanischer Fahrer, bringt uns zurück zur „L'église de Talon“. Mit einem leichten Winken verabschiedet er sich von uns um danach auch noch unsere Koffer beim „Chambre d'hôtes La Chatelière“, unserem heutigen Ziel in der Nähe von “Prémery“, abzugeben. Mindestens elf Wanderstunden später werden wir unsere Koffer wiedersehen.
    Da standen wir nun, direkt vor dem vermoderten Kirchlein und mitten im weitläufigen- und menschenleeren Nichts, genau da, wo wir gestern aufgehört haben. Auf der vorbeiführenden „D 282“, der „Rue des Naudins“, deren Verkehrsaufkommen uns mehr an eine Sackgasse erinnert, starten wir unseren zweiten Wandertag.

    Gemächlich und irgendwie andächtig entfernen wir uns von dem Ort der eigentlich gar keiner ist und in dem es mehr Tote als lebende gibt.
    Die kleine Straße führt uns weiter durch die grandiose Landschaft der endlosen und leicht hügeligen Weite, die mindestens genauso grandios ist wie die Gestrige. Kein Zweifel, hier fühlt sich der Frühling eindeutig besser als im nur 25 Kilometer entfernten Vézelay das, auf dem 300 Meter hohen Hügel thronend, immer auch dem Wind ausgesetzt ist, Frühlinge mögen das nicht.
    Die hier blühenden Rapsfelder, eingebettet in strotzend grüne Wiesen, belegen das prägnant. Nur unsere kleine und unbefahrene Straße, die von einigen Bäumen auf ihrem hügeligen Weg ins nirgendwo begleitet wird, wacht über dieses grandiose Szenario.
    Wenn der Himmel jetzt nicht bedeckt- und die Luft nicht ganz so kalt wäre, würden wir es gar nicht mehr aushalten mit unserem Glück, unser „Klimaerwartungsindex“ lag immerhin schon bei 55%.

    Nach gut zwei Kilometern Landstraße- und ohne jede Begegnung mit Autos oder Menschen, kreuzen wir die nicht minder gelangweilte „Route départementale“ Nummer 34.
    Ihre Kollegin mit der Nummer 128, auf der anderen Seite der Kreuzung, konnte ihr Glück kaum fassen als sie feststellte, dass wir ausgerechnet auf ihr zum kleinen Ort „Asnan“ folgen wollen.
    Deutlich entschleunigt passieren wir das Ortschild seiner 127 „verschollenen“ Einwohner. Das unbedeutende Dorf vermittelte uns irgendwie das Gefühl als sei es vom Schicksal seiner längst vergessenen Seelen in einen „transzendentalen Zustand“ befördert worden. Nichts vermochte das zu ändern, dachten wir jedenfalls.

    Es fällt uns schwer die wenigen alten Gebäude in „bewohnt“ oder „unbewohnt“ zu kategorisieren, wozu auch? Eigentlich wollen wir auch gar nicht in die Verlegenheit kommen irgendeinen Menschen zu begegnen, weil auch uns ein allzu lautes „Bonjour“ sofort in die irdischen Welt zurückkatapultieren würde.

    Just in dem Moment, als wir selbst schon kurz davor waren den vermeintlichen „transzendentalen Zustand“ zu erreichen, sorgte eine große, widerlich-braune und grässlich kläffende Töle, die mit ihrem ungewöhnlichen Aggressionspotenzial in der Lage ist ein ganzes Dorf zu tyrannisieren, für besagte Bruchlandung in der irdischen Welt.
    Völlig unverhofft kam das Monster aus der offenstehenden Wohnung eines der letzten Dorfbewohner angeschossen. Noch nicht einmal die auffällige Aggression seines missratenen Köters ermutigen ihn seine Schreckensbehausung, die auch perfekt zum Monster passte, zu verlassen.
    Nur ein akribisch, aus einem bunten Mix von Gittern und Drähten zusammen gefrickelter kleiner Zaun, hinderte das Monster daran uns zu zerfleischen, wir waren geschockt. Es würde wohl Wochen dauern, um die Töle wieder zu vergessen und uns erneut dem nicht allzu ernst zu nehmenden „transzendentalen Zustand“ anzunähern.

    Die wunderschöne Kulturlandschaft gab ihr Bestes, um uns einmal mehr mit der „Bourgogne“ zu versöhnen, viel musste sie sich nicht anstrengen. Die weitläufige Hügellandschaft, die jetzt mehr und mehr durch die flachen Wildhecken-Begrenzungen für die strotzend grünen Weiden struktur bekommt, berauschte unsere Sinne ohne großes Superlativ.

    Weiter folgen wir der „Voie de Coux á Asnan“ der Straße ohne Nummer und Autos und „erwachten“ in „Mavé“ wo uns ein kleiner und neugieriger „Kampfhund“ deutlich spannender fand als seine olle Madame. Der kleine war renitent, wir wurden ihn gar nicht mehr los. Kein Wunder, schließlich war hier gefühlt seit 1.246 Jahren kein Fremder mehr.
    Seine Madame fand das gar nicht lustig als sie, gut beleibt und etwas außer Atem, nach ein paar hundert Metern Dauerlauf, den kleinen verbal vermutlich tausend Tode sterben ließ. Gut dass wir kein Französisch verstanden. Ihrem Blick nach war aber zu entnehmen, dass wir in ihren Ausführungen die Hauprolle spielten, welche Ungerechtigkeit, wir waren unschuldig, echt jetzt!

    Wir ertappten uns dabei wie wir, wegen der vielen Eindrücke die nur so auf uns einprasselten, wertvolle Zeit verdaddelten. Sieben Kilometer hatten wir erst auf den Füssen und fast sechsundzwanzig noch vor uns.
    Wir passierten „Michaugues“ und seine 60 Seelen und folgten weiter der „Route de Michaugues à Neuilly“ die mit dem elften Kilometer mehr zu einem Feldweg verkümmerte.

    Jede der bis dahin passierten alten Ortschaften beindruckte auf eine eigene Weise, immer aber war etwas Düsteres mit dabei. Der immer noch bedeckte Himmel und die moabit wirkenden verfallenen Häuser, hatten sicherlich einen Anteil daran.
    An der Stelle sei noch kurz erwähnt, dass wir bereits gestern die „Via Lemovicensis“ irgendwo verloren haben. Keine Ahnung wann sie wieder in unserer Navigation auftaucht.
    Der Feldweg verlor sich irgendwo inmitten einer unendlichen Wiese und war als solcher nur noch mit detektivischem Spürsinn zu erahnen. Schnell wurden wieder vergangene Navigationsirrtümer unserer Komoot-App, die uns in solchen Situationen oft viel Schweiß und Panik abverlangten, im Kopf präsent.

    Unser Spürsinn belohnte uns nach dem dreizehnten Kilometer mit einem schönem Rastplatz, gleich hinter den 120 Seelen von „Neuilly“, Mittagspause! Schuhe aus, selbst designtes Baguette in den Mund geschoben und sofort geschlafen, nur wir Beide, inmitten einer schönen und ungemähten Wiese. Die Natur und ihre Insekten geben ihr Bestes, um sich in unseren Hirnen dauerhaft zu verewigen.
    Nur die Frühblüher fehlten der Wiese noch. Dafür war es aber selbst für Frühblüher noch zu früh.
    Aber auch die Sonne wollte sich nicht lumpen lassen und bemühte sich stetig und nach bestem Gewissen, unsere noch arg mehlfarbene Haut in eine begehrtere Farbe zu tranformieren. Unser Klimaerwartungsindex lag mittlerweile bei fast 100%, wow.
    Schön war es hier vor sich hinzudösen. Das ungewohnte und monotone Motorengeräusch eines Traktors, ganz weit weg in der Ferne, hatte zusätzlich die ermüdende Wirkung einer Schlaftablette, war aber zugleich auch ein Hinweis auf hier existierende Aliens, wir warten beruhigt.

    Auf der verwaisten Straße, die unsere Wiese vom Wald trennte und sanft, aber stetig zum Hügel hinauf ansteigt, weichten die letzten Fetzen des morgendlichen Hochnebels der erstarkenden Sonne. Ohne die Zeit im Nacken wären wir auf der Wiese sicherlich versackt. Wir wollten aber noch vor Einbruch der Dunkelheit unser Ziel, das „Chambre d'hôtes La Chatelière“ bei „Prémery“, erreichen. Eine menschenleere Gegend bei völliger Dunkelheit und ohne Streulicht wäre eine ganz neue Erfahrung, die wir nicht unbedingt erfahren wollen.

    Mit dem vierzehnten Kilometer passierten wir „Champallement“ und seine rund 50 „Champallementois“, indem wir ganz einfach immer weiter der „D 146“ folgten. Eigentlich war es gar kein Ort, sondern mehr ein schönes altes Chateau, Kloster, oder was auch immer, wir werden es nie erfahren.

    Mit dem zwanzigsten Kilometer beglückten wir die 120 Einwohner von „Montenoison“ die vermutlich ebenso im „Urlaub“ waren wie die Bewohner aller voran durchwanderten Orte. Dass auch diese letzten sechs Kilometer Landschaftlich tief beeindruckten, ist mittlerweile selbstredend. Nur der Anstieg des letzten Kilometers zum Ort raubte uns schon wieder einen ordentlichen Teil unseres kaum noch vorhandenen Energiedepots des Tages.
    Der schöne alte Ort, der augenscheinlich auch schon den „transzendentalen Zustand“ erreicht hat, liegt etwas unterhalb des gleichnamigen, 400 Meter hohen „Berges“. Dort oben thront die Ruine der Burg der Grafen von Nevers aus dem 13. Jahrhundert, die die sich vor langer Zeit dorthin gezimmert haben. Auch ein Kriegerdenkmal zum Gedenken der örtlichen, im ersten Weltkrieg gefallenen, und ein Kirchlein aus dem 15. Jahrhundert, kann der Ort auf sein Konto verbuchen. Mindestens jedes zweite Gebäude hier steht, oft auch herunter gekommen, seit vielen Jahren leer und wurde in unseren Köpfen gekauft und wieder aufwendig restauriert. Solche Häuser bekommt man für geschätzt zehntausend Euro, kaum zu glauben.

    Beim dreiundzwanzigsten Kilometer und wieder jeder Menge fantastischer Einsamkeit dazwischen, überraschte uns „Oulon“ mit seiner Anmut. Seine Einwohnerzahl schrumpfte von 156 Einwohner 1962 auf 66 Einwohner 2016. Und auch die waren vermutlich einmal mehr im „Urlaub“. Dieser Schwund ist exemplarisch für nahezu jedes Dorf hier, wie traurig.
    Fast alles an „Oulon“ war wunderschön, seine alten Häuser, eingebettet in eine hügelige Landschaft, sein kleiner See am Rande, seine uralte Kastanie in der Ortsmitte und sein Kirchlein „Saint-Andoche“ aus dem 16. Jahrhundert.
    Hinter dem Ort blickten wir uns noch einige Male um, weil wir uns an ihm nicht satt sehen konnten, so schön war er. Wir verstanden die Welt nicht mehr, warum will hier keiner wohnen?

    Nach bisher 28 gewanderten Kilometern kehren wir der „D129“ den Rücken, um einem vielversprechenden Feldweg die Ehre zu geben.
    Wir gingen in Frieden auseinander denn sie war gut zu uns. Sie hielt Autos von uns fern und zeigte uns ihr wunderschönes zu Hause. Aber gegen einen noch schöneren Feldweg hatte sie dennoch keine Chance.
    Zwischenzeitlich war der Tag schon weit fortgeschritten, was sich an den Temperaturen und der schon tief stehenden Sonne deutlich bemerkbar machte. Immer noch hatten wir fünf Kilometer vor uns. Wir mussten unsere Fantasie schon arg strapazieren, um uns das überhaupt noch vorstellen zu können. Unsere Batterien waren mittlerweile leer, was sich bei uns durch stolperige- und unkonzentrierte Schritte deutlich zeigte. Übrigens ist das besonders gefährlich bei viel befahrenen Straßen. Das Problem stellte sich für uns aber hier bestimmt nicht.

    Dennoch, der Weg war ein weiteres Superlativ was wir leider kaum noch würdigten. Wir überquerten eine uralte Brücke, die aussah als hätte sie noch Napoleon persönlich gebaut, passierten etwas das irgendwie auf ein menschenleeren Bauernhof im Nirgendwo hindeutete und standen plötzlich inmitten einer Wiese die nicht im Geringsten einen Weg erahnen ließ.
    Unsere fortgeschrittene Wandererfahrung hat uns aber gelehrt, dass so mancher Bauer geneigt ist, sich den Einen oder anderen Weg gerne mal „einzuverleiben“. Auf einmal sind sie futsch.

    Öffentliche Wege, die über- oder entlang ihrer Wiesen führen, sind ihre Lieblingsopfer. Das Prozedere ist einfach: Man ackert einfach jedes Jahr ein paar Zentimeter mehr vom Weg mit um und lässt so das Feld jedes Jahr ein bisschen wachsen. Irgendwann ist das Weglein dann verschwunden, keiner erinnert sich mehr daran, einfaach vergessen, böser Bauer. Nur „Komoot“, unsere Navigations-App, führt der Bauer nicht hinters Licht.

    Wie auch immer, da standen wir nun, inmitten einer unendlichen Wiese, von bösen Stacheldrähten bewacht, und ohne jedes Lebenszeichen eines längst untergegangenen Weges und damit ohne jede Orientierung.
    Marions leicht panisches Gesicht, das angesichts von mittlerweile fast dreißig Kilometern durchaus gerechtfertigt war, machte es mir nicht leicht einen klaren Kopf zu behalten, immerhin war ich unser Navigator. Um es kurz zu fassen, nach eineinhalb Kilometern durch Wiese und Acker und immer wachsam gegenüber Stacheldraht und von Bullen beschützten Kuhherden, standen wir, nun völlig verdreckt, wieder auf einer Straße, gerettet.

    Nach einem kurzen stell dich ein auf dem Asphalt, beendeten wir unsere heutige Wanderung mit einem zwei Kilometer langen Waldweg, fast 12 Stunden waren wir nun auf den Beinen. Erst kurz vor dem Ende gab unser Weg einen ersten Blick, hinunter in ein liebliches Tal, nur zivilisiert durch ein paar Gebäude, frei. Eines davon hob sich durch seinen ungewöhnlich guten Zustand und seiner gelben Fassadenfarbe deutlich ab, es war unser Ziel, das „Chambre d'hôtes La Chatelière“, eine gute Wahl.

    Eigentlich waren wir viel zu fertig, um auch nur noch einen Schritt zu laufen. Da wir aber seit rund acht Stunden nichts mehr gegessen hatten, konnten wir gar nicht anders als nach einer kurzen, aber sehr heißen Dusche, irgendwo noch etwas futtern zu müssen.

    Unser netter Vermieter, der selbstverständlich kein Wort englisch sprach, brachte uns, aus besagtem Grund, schweigend mit dem Auto zum rund vier Kilometer entfernten Prémery. Der Ort mit seinen 1.868 Einwohnern, in den ländlichen Gegenden Frankreichs fast schon eine Großstadt, war bereits im Mittelalter ein wichtiger Pilger-Sammelpunkt für deren langen Weg nach „Saint Jean-Pied-de-Port“. Er liegt direkt an der „Via Lemovicensis“, hier haben wir sie also wieder gefunden.

    Prémery hätten wir normalerweise gar nicht zu Gesicht bekommen, weil es nicht direkt auf unserem „Strichlein“ lag. Mag sein, dass es an diesem Ort irgendwo vielleicht etwas Schönes gibt. Das, was wir hier gesehen haben war grausam. Völlig herunter gekommen wirkte er so, als würde er in Kürze den letzten Rest seines langen Lebens aushauchen. Selten haben wir so viel Trostlosigkeit auf einmal erlebt. Egal, wir hatten eh nur noch einen Gedanken im Kopf.

    Bei einem drittklassigen marokkanischen Restaurant, das einzige, dass bei der fortgeschrittenen Uhrzeit, so gegen halb zehn, noch geöffnet hatte, wurden wir fündig. Die Innenausstattung erinnerte eigentlich mehr eine „Nahkampfdiele“, egal, auch, dass wir wieder einmal die einzigen Gäste waren. Der nette und gesprächige Inhaber kochte zugleich ordentlich, sehr ordentlich, einen auf. Eine andere Aufgabe hatte er vermutlich auch nicht. Es gab Couscous mit allem was nach marokkanischer Meinung so dazu gehört, köstlich. Wir waren mehr als „vollgefressen“ als uns unser Vermieter netterweise auch wieder abholte.

    Nur drei Menschen begegneten wir heute über den ganzen langen Tag verteilt:
    Der fluchenden Madam des ausgebüxten kleinen Kampfhundes, unserem Vermieter, und dem Marokkaner im Restaurant.
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  • Day 4

    Pat und Patachon

    April 24, 2019 in France ⋅ 🌧 13 °C

    Trip 5, Tag 4, Wandertag 3: Prémery - Nevers, 30,5 km, Steigung 460 Meter, Gehzeit 8:00

    Die „Chello Suite No. 1 in G major“, die morgens um halb sieben zwar sanft- aber dennoch nervend aus Günters Handy erklang, verhieß nicht Gutes: Aufstehen war befohlen. Schade, so schöne Musik damit negativ zu behaften.
    Nach nur sechs Stunden Schlaf und mit einer Vielzahl schmerzender Muskeln hinkten wir zur Dusche und hatten die Hoffnung, dass Wasser sicherlich noch einiges richten würde.
    Unser netter Vermieter bemühte sich redlich uns den Tag mit einem vermeintlich guten Frühstück buchstäblich zu versüßen, sehr croissantlastig das Ganze. Damit kam er aber nicht durch, er musste mit einem Spiegelei nachbessern.

    Um kurz vor neun hatte uns die Natur wieder. Nur die Sonne, die war heute anderweitig beschäftigt und hat vertretungsweise Regenwolken angeheuert.
    Wir fingen an für die jeweils zurück liegenden Unterkünfte deutsche Schulnoten zu vergeben. Das „Chambre d'hôtes La Chatelière“ kam mit einer 2-3 davon. Auch deshalb, weil der Monsieur uns erschöpften Wanderern leider nichts zu essen angeboten hatte. Gerne hätten wir extra gezahlt nur um das Haus nicht mehr verlassen zu müssen. Aber nein, stattdessen mussten wir auch noch einige Fahrkilometer zum Marokkaner über uns ergehen lassen. Ansonsten aber ist das ein empfehlenswertes „Chambre d'hote“.

    Unser heutiges, rund dreißig Kilometer entferntes Ziel, war das klangvolle „Château du Four de Vaux“, ein kleines Schloss ganz in der Nähe von „Nevers“. Mit rund Dreissigtausend Einwohnern war der Ort für lokale Verhältnisse eine Großstadt. Ein Taxi war für unsere Koffer zuständig.

    Während wir in unseren Regenhosen so vor uns hinwetzten (Ein schreckliches Geräusch), und auf die Wirkung der Schmerztablette, die unsere Muskeln endlich mundtot machen sollte, warteten, überkam uns die Fantasie.
    In einem Schloss die nächsten zwei Nächte zu verbringen, wir hatten morgen unseren ersten freien Tag in „Nevers“, war abgefahren elitär. Da ging doch glatt der Gaul mit uns durch. Sein Gastspiel aber war nur kurz. Bereits nach einem halben Kilometer begann das harte, achtprozentige Leiden, dass den Gaul erst nach eineinhalb Kilometern wieder in unserem Hirn galoppieren lies. Nur gut, dass die Schmerztablette mittlerweile wirkte.

    Das Gehen wurde entspannter, der Himmel aber bleib tief grau. Die Wolken spielten mit den Baumwipfeln das gute alte „fang mich doch“ Spiel. Bei dem Spiel kann die Landschaft noch so schön sein, es nützt alles nichts.
    Nur der renitente „Gaul“ und seine Geschichte „Wir im Château“ brachte etwas Abhilfe.

    Irgendwann, nach fünf Kilometern Waldweg, entdeckten wir wieder das kleine „Via Lemovicensis“ Schildchen an einer kleinen Eiche, wir waren also wieder drauf. Ein solches Schildchen zu entdecken hat immer etwas Ehrfurchtsvolles, auch wenn der Weg nicht unbedingt zur Ehrfurcht passt.

    Wir passierten den rätselhaften Ort „Le grand rigny“. Rätselhaft deshalb, weil es nicht zu ergründen war, warum dem Kaff mit seinen vierzehn von uns selbst gezählten Häusern, das Präfix „Grand“ verliehen wurde. Wir würden es nie erfahren, darüber waren wir uns einig.

    Nach rund zwölf Kilometern ging es uns schon deutlich besser. Die Sonne hatte zwischendurch wieder Zeit für uns und die Schmerztablette machte ihren Job.
    Die Landschaft hatte sich in den vorangegangenen beiden Tagen ziemlich verausgabt und schaltete jetzt erst einmal einen Gang zurück, nicht hässlich, aber auch nix besonderes. Auch die totale Einsamkeit wich mehr und mehr dem deutschen Verständnis davon. Die Dörfer reihten sich gehäufter aneinander aber immer noch mit deutlich Strecke dazwischen, keines hatte mehr als einhundert Einwohner. Sogar Strommasten waren wieder zu sehen. Ein Anblick, auf den man gut und gerne verzichten kann.
    Orte wie „Les Cours“, „Les Verdillats“, „Chaillant“, „Fourneau de la Belouse“, Mauvron“, „Les Poirant“, „L’Échenot“, „La Fontaine du Bois“ oder „Marcy“ schaffen es wegen ihrer Belanglosigkeit gerade noch so hier genannt zu werden.
    Dazwischen gab es einige alte und leerstehende Häuser die wir gerne, traurig wie sie waren, adoptiert- und danach gesund gepflegt hätten.
    Als sich die heruntergekommenen Häuser häuften landeten wir auf einer kleinen und ebenso verkommenen Strasse die uns wiederum für einen Kilometer an einer alten und nicht minder heruntergekommenen Fabrik entlang führte.
    Was für eine Tristesse, der Anblick war für uns nach all den Highlights der letzten Tagen und Stunden kaum erträglich. Der Kontrast war ungefähr so, als würde man mit dem Boot, von der Fraueninsel, dem Kleinod im Chiemsee, zum Hades, dem Werksgelände der BASF in Leverkusen, übersetzen.
    Kein Zweifel, das musste „Guérigny“ sein.

    Während wir so am Hades vorbei marschierten suchten wir nach irgendwelchen Anzeichen von Leben auf der Innenseite der einstmals äußerst aufwendig gebauten- aber mittlerweile sehr herunter gekommenen Einzäunung. Erst spät erkannten wir, dass hier noch auf Sparflamme produziert wird.

    „Guérigny“ war ein einst ein bedeutender Ort für das Schmieden- und der Verarbeitung von Metall in der Region. Der Hades wurde bereits im achtzehnten Jahrhundert gegründet. Wir waren uns einig: „Macht nichts, das machte ihn keinen Deut schöner“.

    Nach allerhand visuellen Grausamkeiten landeten wir auf etwas, was hier vermutlich als „Zentrum“ des 2.498 Köpfe zählenden Ortes angesehen wird. Den Ort selbst zu beschreiben spare ich mit an der Stelle lieber, er war grausam und verrottet, konnte nichts bieten was unsere Auge hätte wieder versöhnen können.

    Oder doch?

    Komoot, unsere Navi-App, versprach eine Bar in unmittelbarer Nähe. Für uns, deutlich desillusioniert durch die Einsamkeit, war das kaum zu glauben. Wir scannten jedes Haus und jeden Eingang und tatsächlich, da war Eine, das „La Belle Etoile“, zu Deutsch „Die schöne Toilette“ oder so ähnlich.
    Aber nicht nur, dass es hier eine schöne "Toilette" gab, sie war sogar geöffnet.

    Sehr skeptisch, da es so etwas eigentlich in den ländlichen Gegenden Frankreichs gar nicht geben darf, suchten wir immer noch nach dem vermeintlichen Haken als uns der Wirt mit seiner leicht abweisenden Coolness, die kleine- und mit braunem Kunstleder gepolsterte Speisekarte überreichte, wow.
    Nach achtzehn Kilometer die heutige Mittagspause in einer geöffneten, französischen Bar genießen zu können, war für uns unvorstellbares Glück, für Außenstehende jedoch kaum nachvollziehbar.
    Im letzten Jahr, während unserer vierwöchigen Wanderung, wurden wir nur zwei bis dreimal derart verwöhnt.
    Entsprechend gewaltig viel unsere Bestellung in dem stark nach Zigaretten müffelnden Etablissement aus. Dem Geruch nach zu urteilen lag die letzte Frischluft-Zirkulation bestimmt schon Jahre zurück.
    Dennoch war es selbst in dieser Kaschemme "state of the art" ein 3-Gänge Menü, vermutlich gedacht für die Arbeitnehmer des Hades, feilzubieten. In der kunstledernen Tageskarte war das heute so etwas wie ein Kotelette mit einem „Fromage Frais“ als Dessert. Die Vorspeise habe ich wegen Bedeutungslosigkeit vergessen.

    Aber unser Glück hatte eben doch einen Haken, "ausgeworfen" von zwei „Schnapsnasen“ am Tresen, wir waren ihre Opfer. Unser Schicksal nahm seinen Lauf. Wir waren der Fisch am Haken, dessen verzweifelte Befreiungsversuche letztlich doch chancenlos bleiben würden.
    Außer dem Wirt gab es vermutlich seit Wochen kein Opfer das sie hätten zutexten können, nur uns, jetzt und hier, Scheiße!

    Der intellektuelle Unterschied der Schnapsnasen, in der Summe ohnehin nur rudimentär ausgeprägt, war dennoch gravierend. Der eine, groß und gerissen, machte den Eindruck als hätte er mit Frauen nur Eines im Sinn, er war der Sprecher und Chef der Beiden.
    Sein vormals vermutlich schönes und männliches Gesicht mit ebenfalls vermuteten dunklem Teng, war von der Bar über die Jahre deutlich gezeichnet. Eine graue Gesichtsfarbe mit Besenreiser und weißen Haaren war der Tribut, den er ihr zollte. Nein, gesund sah der nicht mehr aus.

    Die andere Schnapsnase, war ein Knilch, nicht ganz so breit wie hoch, Typ Mitläufer im Schatten des Chefs, eigentlich mehr sein Echo, für mehr reichte es nicht.
    Irgendwie erinnerten die beiden tragisch-komischen Figuren an „Pat und Patachon“, Hauptakteure der gleichnamigen, dänischen Komödie, die zwischen 1920 und 1940 entstand und ab 1969 im deutschen Fernsehen ausgestrahlt wurde.

    Hackedicht hatten sie schon am frühen Nachmittag um zwei deutliche Schwierigkeiten die komplizierten französischen Akzentuierungen in ihrem sicherlich nicht gerade üppigen Wortschatz richtig zu treffen.
    Ihr Schweigen und ihre zu uns gerichteten Blicke wirkten wie eine regungslose, aber aufgerichtete Cobra die ihr Opfer fixierte und jede Sekunde zum Angriff übergehen konnte.
    Am liebsten hätten wir uns unter dem Tisch verkrochen nur um keine Kostprobe ihres Wortschatzes ertragen zu müssen. Aber es half alles nichts und es kam wie es kommen musste, wir hingen bereits am Haken. Zwei Fremde und eine davon auch noch eine Frau die genau in das Beuteschema des Chefs passte konnte nur ungut enden.

    Verkrampf starrten Marion und ich uns gegenseitig in die Augen während wir gierig unser Kotelett verdrückten. Wir wollten verhindern, dass die uns fixierenden Röntgenblicke „Pat und Patachons“, von uns zufällig eingefangen werden.
    Es nützte alles nichts und es passierte was passieren musste. Der Chef blies mit einem „Iisch spreekke Doisch“ lallend, von Einem zum Anderen Ende der Bar, zum Angriff, auch das noch!

    Für meine strunzsdumme Frage, wieso er denn Deutsch spricht, ich wäre am liebsten sofort in den Boden versunken, ging es dann erst so richtig los, für die Cobra gab es kein Halten mehr.
    Stolz lallte der Chef quer durch die Bar seine Geschichte über sein früheres Soldatenleben im Saarland, was für ein Schwachkopf.
    Wir erahnten seine Ausführungen mehr als wir sie verstehen konnten.
    Sein deutscher Wortschatz beschränkte sich dabei auf geschätzt 13 Wörter. Den Rest seiner Ausführungen lallte er in einem wilden Mix aus Französisch und zwei bis drei Prozent Englisch.
    Mein vermeintliches Interesse, in das er reichlich Nährboden für seine heutige "Barfreundschaft“ hineininterpretierte, gab ihm die Kraft sein schützendes Terrain zu verlassen. Schwankend verließ er seinen schützenden Barhocker und den stützenden Tresen um einen Meter vor unserem Tisch zum letzten Gefecht zu blasen.

    Sein Adjutant, weiterhin auf dem Barhocker klebend weil sitzen deutlich sicherer war als stehen, begleitete die Attacke seines Chefs lallend mit wirren, französischen Parolen aus dem Hintergrund. Den kompletten Monolog wieder zu geben ist wegen reichlich fehlender Puzzlestücke kaum möglich. Selbst wenn wir französisch sprechen würden hätten wir es nicht verstanden.
    Irgendwann verkrümelte sich der Adjutant heftig schwankend aus der Bar. Vermutlich konnte er den undeutlichen Ergüssen seines Chefs auch nicht mehr so ganz folgen.

    Der Chef aber kannte keine Gnade und nervte immer mehr. Der Idiot lies mit seinem unverständlichen Geschwätz unseren Traum von der gemütlichen Mittagspause in der warmen Bar, platzen wie eine Seifenblase. Er war absolut distanzlos und wurde zusehends frecher, obwohl ein kleiner Finger gereicht hätte ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen und außer Gefecht zu setzten.

    Der Inhaber der Bar verkroch sich sicherheitshalber die meiste Zeit in seiner Küche, vermutlich kannte er das dumme Gelaber schon. War er dann doch einmal im Gastraum hagelte es aus seinem Mund unwohl klingende, französische Worte, von denen sich der „Chef“ wenig bis gar nicht beeindrucken ließ, er war einfach renitent.

    Mehr und mehr kam sein wahres Interesse aus seinem verkommenen Inneren. Auf Marion hatte er es abgesehen, fast schon bedrängt hat er sie und stand unmittelbar neben ihr. Die Situation drohte zu eskalieren und ließ eigentlich nur zwei Lösungen zu. Entweder ich hau ihm jetzt eine rein, ich hasse Gewalt, oder wir gehen. Wir entschieden uns für letzteres.

    Einen der seltenen Augenblicke, bei denen sich der Wirt im Gastraum blicken ließ nutzen wir, um schnell zu zahlen und diesen schrecklichen Ort zu verlassen. Noch mit dem leckeren „Fromage Frais“ im Mund waren wir vom Haken gesprungen und endlich wieder in Freiheit, was für ein schrecklicher Ort.

    Zwei neue Erkenntnisse konnten wir nun unserer bereits mächtigen Lebenserfahrung hinzufügen, insofern war diese negative Erfahrung nicht ganz umsonst.
    Erkenntnis Nummer eins: Das Kottelet schmeckte gar nicht so schlecht.
    Erkenntnis Nummer zwei: Wir würden niemals Barbesitzer werden.

    „Guérigny“ war an Trostlosigkeit auch im weiteren Verlauf kaum zu überbieten. Der ärmlich- und herunter gekommen wirkende Ort war geprägt von Lethargie und alten, grauen Reihenhäusern. Ein bisschen erinnerte das einheitliche Grau der Fassaden an die DDR.
    Die Hauptstraße, die uns aus der Stadt führte (In Deutschland wäre es mit 2.500 Einwohnern ein Dorf), zog sich lang wie ein Kaugummi, fast zwei Kilometer Augenkrebs. Erst mit den einundzwanzigsten Kilometer konnten wir den Zustand unserer Augen mit neuer Natur und neuem Terrain wieder deutlich verbessern, welche Wohltat. Unser Bedarf an Menschen war fürs Erste erst einmal gedeckt.

    Nach rund zwei Kilometern Trail durch Wald, dessen Typus nicht unbedingt zu Günters Lieblingswald gehörte, wurden wir nach dem vierundzwanzigsten Wanderkilometer des Tages mit dem kleine See, „Plan d'eau de Niffonds“, belohnt.
    Der See war künstlich angelegt und offensichtlich einer der wenigen Gewässer in Frankreich die öffentlich- und somit, jedenfalls im Sommer, zum Baden freigegeben sind. Meist sind Seen hier in Privatbesitz und mit bösen Zäunen und noch böseren Schildern, vor noch viel böseren Menschen, geschützt.

    Um den See erstreckten sich ausgedehnte Wiesenflächen und dahinter erneut strotzend grüner Wald. Der Himmel beeindruckte mit einem Kampf, den sich gewaltig düsteren Wolken und eine scheinbar aussichtslose Sonne lieferten. Hier war es wunderschön, welcher Kontrast zu „Guérigny“ und seiner verkommenen Bar. Die „Heilung“ unserer Augen machte weitere Fortschritte.

    Die Szenerie verlangte unseren Respekt in Form einer „Meditationspause“. Am Ufer, in der Wiese liegend, verfolgten wir den Kampf der Giganten am Himmel und genossen die Ruhe und die Schönheit des Ortes. Die Handvoll Wanderer, deren Weg ebenfalls am See vorbeiführte, störte unsere Zweisamkeit nicht. Nur die kühle Luft und der noch ziemlich kalte Boden disziplinierten uns zum Weitergehen.

    Nach weiteren eineinhalb Kilometern Wald, diesmal durch seinen Typus in Günters Gunst deutlich bessergestellt, versprach Komoot uns für heute mit weiteren dunklen Waldwegen zu verschonen und belohnte uns statt dessen mit Licht, viel Licht.
    Es war herrlich unsere Augen wieder über endlose und strotzend grüne Kulturlandschaften schweifen zu lassen.
    Die Sonne, die den „Kampf der Giganten“ unerwartet für sich entscheiden konnte, zeigte Ihre Siegesfreude in dem sie die Landschaft zusätzlich in ein farbenfrohes und kontrastreiches Kostüm kleidete.

    Die nächsten zwei Kilometer waren eine regelrechte Sinnesorgie. Die Kulturlandschaft, die Farben, die Klarheit der Luft und die Sonne, waren Ihre Gäste.

    Unsere gewohnte Einsamkeit wich langsam einer dünnen Besiedelung, nicht unangenehm und immer noch weitläufig. Mit dem achtundzwanzigsten Kilometer querten wir die „Autoroute A 77“, von „Rosiers“ nach „Nevers“, ein klares Indiz für die letzten beiden Kilometer zu unserem heutigen Etappenziel. Unsere zwischenzeitlich gefährlich torkelnden Schritte waren ein deutliches Zeichen für die bereits zurückgelegte Strecke, des anstrengenden gestrigen Tages, und des Schlafmangels der letzten Nacht.

    Einen Kilometer vor unserem Ziel lief der eingangs erwähnte Gaul in unseren Köpfen, „Wir im Château“, wieder zur Höchstform auf. In allen Fassetten stellten wir uns das Leben im Schloss als elitäre Hotelgäste vor. Auch einen Pool im Schlosspark, wo wir morgen einen Teil unseres freien Tag unter der gleißenden Sonne verbringen würden, illusionierte uns der „Gaul“.

    Während wir einen noblen- und mit schönen Villen garnierten Vorort von „Nevers“, durchschritten, öffnete sich der Blick auf eine unendliche- und tiefer gelegene Ebene bis zum Horizont. Unser Augen scannten sie nach unserem „Château du Four de Vaux“, vergebens, es ließ sich einfach nicht blicken.

    Die letzten paar hundert Meter führten uns der nervenaufreibenden „D 267“-, der „Route de Vernuche“, entlang. Sie war eng und gefährlich, denn einen Fußgängerweg gab es, wie fast immer in Frankreich, auch hier nicht.
    Auch die Gebäude entlang der Straße, passten nicht zu dem Gespinst, dass uns der „Gaul“ ins Hirn gepflanzt hat. Immer noch gab es keine Spur von Château.

    Und dann endlich, ein kleines unscheinbares Schild zum „Château du Four de Vaux“. Durch das offene und altherrschaftliche Tor betraten wir das Anwesen. Die alte Allee, wie man das eben bei Châteaus so hat, führte uns zum Schlösschen, wow, was für ein schönes, altehrwürdiges Gebäude.
    Komisch nur, weit und breit gab es kein parkendes Auto, keinen Gast und auch keinen Gastgeber.
    Die Haustür war offen und damit das ganze Château mit all seinen noch zu entdeckenden Schätzen und Antiquitäten jedem hilflos ausgeliefert.
    Wir waren beeindruckt von der historischen Ausstattung die, ebenso wie das Gebäude selbst, eindrucksvoll den Wohlstand vergangener Generationen belegte.

    Das „Château du Four de Vaux“ wurde als „Chambre d'hôtes“ vermarktet, kein First-class-Hotel, aber dennoch war es etwas ganz Besonderes. Man spürte, dass das Geld hier nicht mehr ausreichte, um es im Sinne vergangener und wohlhabender Generationen zu erhalten. Vor allen der Schlosspark war zwar in seiner Größe noch vorhanden, seine Strukturen aber waren durch einen ungepflegten Rasen ersetzt.

    Wir waren müde und hungrig und wollten, leicht genervt weil hier niemand war, nur noch unser Zimmer beziehen. Unsere Rufe im Haus verhallten aber genauso wie unsere verzweifelten Anrufe auf der Nummer die Booking uns mitteilte.
    Zufällig entdeckten wir hinter einem Tresen in der Diele, der vermutlich als Rezeption gedacht war, einen Schlüssel. Den schnappten wir uns, suchten dazu das passende Zimmer im Gebäude und nahmen es unter Beschlag. Viel falsch machen konnten wir nicht, wir waren ja die einzige Gäste.
    Alles hätte man hier raustragen und mitnehmen können. Die unsichtbare Gastgeberin hatte Glück, wir waren viel zu müde zum tragen.

    Das Zimmer war genauso ehrwürdig wie das Château und ebenso vollgestopft mit Antiquitäten, herrlich. Und da standen auch schon unsere Koffer, wir waren gerettet.
    Die Krönung des Zimmers war eine Badewanne in einem Erker mit Blick auf den Schlosspark, Günter adoptierte sie umgehend.
    .
    Eigentlich hatten wir für heute in Nevers ein Leihauto reserviert. Mit ihm wollten wir morgen, an unserem freien Tag, die Stadt und die Umgebung entdecken. Leider war es aber bereits zu spät, um es abzuholen, die Station war schon geschlossen und morgen würde sich der Aufwand nicht mehr lohnen, 120 Euro adieu.

    Wie neu geboren, bestiegen wir das gerufene Taxi zum Restaurant „Comptoir Saint Sébastien“ in „Nevers“, dass, wie fast jedes französischen Restaurant, eine obligatorische Auswahl von 3- oder 5 Sterne-Menü bereit hielt. Das gemütliche Restaurant war eine gute Wahl, das Essen war köstlich. Als Weintrinker wären wir hier sicherlich, wegen der gigantischen Auswahl, versackt.

    Ein Taxi brachte uns wieder zurück zum immer noch offenstehenden Château wo weiterhin jede Spur von der Gastgeberin fehlte. Etwas verloren im einsamen und dunklem Schloss, fielen wir müde ins Bett freuten wir uns mit verwöhntem Magen auf unseren freien Tag morgen.
    Klar, dass wir die Zimmertür zuvor ganz fest von innen verschlossen haben.
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  • Day 5

    Das Phantom

    April 25, 2019 in France ⋅ 🌧 10 °C

    Trip 5, Tag 5: Freier Tag in Nevers

    Schwer zu sagen was besser ist, noch um neun im schönen Château-Bettchen zu liegen und den draußen kreischenden Krähen zuzuhören oder-, zu wissen heute nicht schon wieder mit Sorgfalt den blöden Rucksack packen zu müssen und zusätzlich die noch blöderen Koffer.
    All unsere Dinge in den Koffern richtig zu verstauen verlangte ein Talent für vorausschauendes- und logistisches Denken. Die Aufgabe klang einfach, war aber komplex. Sie lautete: Verstaue alles so, dass du beim nächsten Öffnen alles sofort wiederfindest ohne den halben Koffer „umzugraben“ und ohne beim nächsten Packen möglichst wenig Zeit zu verschwenden. Das war eindeutig Marions Baustelle.
    Wenn ich es dennoch gewagt habe Hand anzulegen dauerte es beim nächsten Packen eben 20 Minuten länger. Das war ein gutes Argument mich davor zu drücken.

    Mit Spannung suchten wir nach dem Frühstücksraum und nach unserer Gastgeberin, das Phantom. Und tatsächlich, irgendwie war da eine Tür die wir gestern als solche gar nicht erkannten. Und, wow, was für ein schöner altehrwürdiger Raum, mit Eichen-Holz getäfelt und aufgewertet mit einem herrschaftlichen Kamin und alten Stuckdecken. Jeder Tisch war mit weißen Tischdecken festlich eingekleidet, jeder Stuhl mit weißen Hussen (Mag ich eigentlich gar nicht, finde ich spießig). Sie alle waren elegant herausgeputzt obwohl außer uns hier niemand wohnte, was für ein schönes Bild. Auch das festliche Frühstücksbuffet war für französische Verhältnisse außergewöhnlich und hielt alles feil was zwei kleine Herzen-, das Eine aus Mecklenburg und das Andere Bayern, als Grundlage für einen vielversprechenden Tagesstart erwarten. Allerdings mit der kleinen Einschränkung, dass die Auswahl akribisch abgezählt war. Eine Scheibe von jedem pro Gast, mehr war nicht drin.
    Und das Phantom?

    Es erschien ein paar Minuten später aus einer Geheimtür, die versteckt in die Holztäfelung integriert war, wie die Tür zu einem Geheimgang, die in diesem Fall vermutlich zur Küche führte. Selbstverständlich sprach das Phantom, Typ gut genährte Madame, eine typische Französin (Nicht negativ gemeint), Mitte 40 und blond, kein Deutsch. Meine französischen Sprachkenntnisse, aus rund fünf Vokabeln bestehend, eine davon "café" und eine weitere "s'il te plait", reichten aber aus, um Selbigen zu ordern. Genauso schnell wie das Phantom erschien verschwand es auch wieder nach dem Servieren des Kaffees. Da Serviceorientierung bei so einem Phantom nicht unbedingt zur Allgemeinbildung gehört, wozu auch, wollte es gar nicht wissen, ob wir noch einen anderen Wunsch hätten. Auch Empathie zählt nicht unbedingt zu seinen Stärken. Fragen wie „woher kommt ihr“ (es wusste ja, dass wir Fernwanderer waren) oder wie geht es Euch, passten einfach nicht zu einem Unsichtbaren.

    Wie auch immer, das Frühstück ohne Musik, dafür aber mit unangenehmer „Flüsteratmosphäre“ im schönen Herrenzimmer, war großartig, mit kleinen Macken. Nur die Bestellung der zweiten Runde Kaffee beim Phantom war etwas herausfordernd. Zwar hörten wir es irgendwo hinter der Geheimtür mit einem Kind sprechen, lokalisieren konnten wir es aber nicht. Die Geheimtür war von unserem Raum aus weder sichtbar noch hatte sie eine Türklinke. Unsere genervten Rufe erweckten mit ordentlich Zeit dazwischen seine Aufmerksamkeit. Ein netter, vielleicht zwölf Jahre alter Junge und vermutlich der Sohn des Phantoms, wurde an die "Front" komandiert und nahm, etwas englischsprechend, unsere Bestellung auf.

    Nach dem Frühstück hatte ich viel aufzuarbeiten wofür ich während der Wanderphase kaum Zeit finde, weil wir dann abends immer viel zu erschöpft sind. Wenn es dann an einem freien Tag auch noch ein einigermaßen funktionierendes Internet gibt, muss ich die Gelegenheit nutzen. Da müssen Fotos in die Cloud hochgeladen werden, erste Notizen über das Erlebte für diesen Block geschrieben-, oder die Planung der nächsten Tage überprüft werden, insbesondere darauf, ob es nicht doch noch irgendwo auf den Wanderetappen der kommenden Tage ein geöffnetes Restaurant oder eine eben solche Bar gibt.

    Erst am frühen Nachmittag waren wir soweit uns die Außenanlage des Anwesens anzusehen. Das Auto des Phantoms war schon wieder verschwunden und wir schon wieder allein.
    Zunächst viel auf, dass das gesamte, mit weißen Splitt belegte Areal vor dem Haus, inklusive der Parkgelegenheiten, derart mit Hundescheiße gepflastert war, dass man sich nur im Slalom-, ganz weit geöffneten Augen-, und größter Vorsicht darauf bewegen konnte. Die Hündchen des Phantoms zeichnete dafür verantwortlich, oder nicht doch die Madame, der vermutlich der Bewegungsdrang abhanden kam? Ich hasse nichts, aber auch gar nichts mehr als Hundescheiße unter dem Schuh, pfui.

    Dann entdeckten wir noch einige riesige Bäume am Ende des Areals auf denen hunderte von Krähen genau den Krach verursachten, der uns am Morgen den Ausschlaf raubte. Uns war bis dahin nicht klar wie nervig die sein können. Naturschützern, zu denen wir uns im Übrigens auch selbst zählen, empfehle ich eine Nacht zum Ausschlafen im Château zu verbringen.
    Zufällig kam ein Paketbote auf den Parkplatz gefahren der natürlich das Phantom auch nicht antraf, das Problem aber offensichtlich schon kannte und wusste was zu tun war. Wie auch immer, beim Wiedereinsteigen meinte er nur zu uns „I hate those crows, they should be shot, but they won't let us“. Na ja, nicht gerade die feine Englische.

    Es gibt hier angeblich auch einen Pool, nämlich den, der uns vom „Gaul“ ins Hirn gepflanzt wurde. Wir träumten gestern davon dort entspannt in der Sonne zu liegen, uns zu erholen und ordentlich „einzubrennen“. Die Fotos in Booking waren entsprechend vielversprechend, hatten aber wenig mit der Realität zu tun. Es ist schon erstaunlich, welche Fähigkeiten sich so mancher Fotograf im Laufe seines Lebens aneignet.
    Der Pool war ziemlich heruntergekommen und für den Sommerbetrieb noch nicht vorbereitet. Das Areal war ungepflegt, ohne einladende Gartenmöbel und natürlich überall mit Hundescheiße garniert, wo immer man auch hinsah. Niemand scherte sich drum, einfach nur ekelig.
    Und selbst wenn alles Top gewesen wäre, der bedeckte Himmel und die lächerlichen zehn Grand wären alles andere als flauschig gewesen, abhaken!
    Unser Klimaerwartubgsindex war ohnehin schon wieder ordentlich am abschmieren.

    Ein Taxi brachte uns in die Altstadt von Nevers, mittlerweile regnete es. Nichts mehr zu sehen vom schönen Wetter von heute Morgen. Zwischenzeitlich war es schon wieder spät am Nachmittag. Unglaublich, wie so ein freier Tag einfach verdampft, wir waren hungrig.

    Marion hatte die Nase von dem ganzen drei- oder fünf Gänge Scheiß bereits nach ein paar Tagen ziemlich voll und brachte die Idee eines einfachen Bistros ins Spiel wo es vielleicht ebenso einfaches Essen gibt. Wir entdeckten das „Le Lord“ zufälliger Weise ganz in der Nähe des Restaurants von gestern Abend. Gott sei Dank, denn mittlerweile schüttete es aus allen Schleusen.

    Was für eine grandiose Wahl, nette Menschen, eine gemütlich-lockere Atmosphäre, coole Musik, super nettes Personal und ein Angebot an Speisen und Getränken, das auf ein Blatt Papier passte, es war herrlich unfranzösich.
    Die Salate, die wir uns unter anderem bestellten, waren mit die Besten die wir bis dahin gegessen haben. Wirt und Kellner konnten nur schwer glauben, dass zwei Menschen allein so viel essen können. Man merkte, dass das Personal sich freut uns zu Gast zu haben, es war schön bei Euch im „LE Lord“, danke.

    Um wenigstens noch ein bisschen von der vielversprechenden Stadt zu sehen spazierten wir ein wenig in der Altstadt herum, es hatte aufgehört zu regnen.
    In kleinen Läden kauften wir Baguette und etwas regionale Wurst und regionalen Käse. Köstlich, das haben sie echt drauf die Franzosen.

    Von Nevers haben wir, wenn man es genau nimmt, kaum etwas gesehen. Dafür hat die Zeit einfach nicht gereicht, wie schade.

    Abends dann, wieder im Château-Bettchen, ohne zuvor das Phantom gesehen zu haben, verdrückten wir leider auch noch einen großen Teil unseres wertvollen Schatzes. Da uns aber unser „Fitbit Charge 3“ jeden Tag bis 50.000 Schritte und einen täglichen Kalorienverbrauch von vier- bis sechstausend Kalorien anzeigte kümmerte uns das wenig.

    Als wir an morgen dachten fühlten wir uns bereits irgendwie abgehetzt. Nur ein Tag Pause, nach 90 Kilometern Wandern in nur drei Tagen, war eigentlich zu wenig. Der eine Tag war einfach nur so „verdampft“. Wir hatten nicht das Gefühl uns regeneriert zu haben.

    Vor uns liegen jetzt fünf Wandertage mit 142 Kilometern, macht jeden Tag einen Schnitt von gut achtundzwanzig Kilometer. Danach ein weiterer Tag „Erholung“ im „Le Rianon“, einem vielversprechenden „Chambre d'hote“ in der Nähe von „Malleret-Boussac“.
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  • Day 6

    Maybach, Tesla und Bugatti

    April 26, 2019 in France ⋅ ⛅ 12 °C

    Trip 5, Tag 6, Wandertag 4: Nevers - Sancoins, 35,4 km, Steigung 340 Meter, Gehzeit 11 Stunden

    Das Fischmenü mit „Fromage Fraise“ zum Schluss, war eine ausgezeichnete Wahl für wenig Geld. Das einfache- und altehrwürdige „Hôtel Restaurant La Grenouille“, irgendwo im Nirgendwo und eines von acht Häusern des gleichnamigen Kaffs, direkt am Kanal „Rigole d'Alimentation des Lorraines“ gelegen, schien so etwas wie das „kulturelle Zentrum“ der vermutlich nicht gerade eventbeseelten Gegend zu sein.

    Die rosafarbenen Tischdecken und die wenigen freien Tische kamen nicht von irgendwoher. Der ländliche Event-Mangel und das gute Essen für wenig Geld, spülten jede Menge hungriger Gäste, die sich grob in zwei Lager aufteilten, in die „Begegnungsstätte“. Hier war ordentlich was los.

    Da waren zum einen die „Blaumänner“, keine Ahnung wo die alle herkamen denn Arbeitsplätze waren hier nirgends auszumachen. Dann gab es die größere Gruppe von älteren- und größtenteils festlich herausgeputzten „Monsieur Dames“, meist Rentnerpaare. Es schien so als wäre das tägliche Mittagsmenü, zwischen zwölf und zwei, ihr alltäglicher „Laufsteg“, so bieder aufgebrezelt wie sie sich präsentierten. Kein Zweifel, hier war ihr Kommunikationszentrum wo sie der Tristes des Tages ein Schnippchen schlugen. Der Geräuschpegel auf dem Laufsteg war entsprechend.

    Das Ganze hatte durchaus etwas skurriles. Während bei den Blaumännern Eile geboten war, hatten die „Monsieur Dames“ zentimeterdickes Sitzfleisch und reizten die mittägliche Öffnungszeit fast bis zum freundlichen Rauswurf, der in Kürze zu erwarten war, aus. Eigentlich waren es einfache Leute die mit ihrer Eleganz die Rangordnung eines jeden Tag aufs Neue „ausfochten“. Für uns war es ein witziges Treiben, in einer noch heilen- aber dennoch bedrohten Welt.
    Kellnerinnen und Kellner leisteten Schwerstarbeit in dem sie die bis zum Bersten vollen Tabletts, entweder mit bestellten Speisen oder mit dreckigem Geschirr, balancierend quer durch das Restaurant stemmten.

    Mit jedem Bissen des köstlichen Menüs kehrten die Lebensgeister Schritt für Schritt wieder in unsere beleidigten Beine zurück. Wegen der bereits fünfzehn zurückgelegten Kilometer bei spaßbremsender Kälte, dauerte das heute ein wenig länger als sonst.
    Wir hatten das „La Grenouille“ zufällig auf unserem Weg entdeckt, was ungefähr der gleichen Chance entsprach wie Donald Trump von der Kommunistische Partei Kubas zu überzeugen.

    Ziemlich früh haben wir uns heute Morgen vom immer noch verstockten Phantom, nach dem guten-, aber abgezählten Frühstück, verabschiedet. Immerhin hatten wir heute die fast schon pathologische Distanz von über fünfunddreißig Kilometern irgendwie zu bewältigen.
    Als der Fahrer von „Taxi Poy“ fluchend unsere viel zu schweren Koffer in die Tiefen seines Kofferraums wuchtete um sich mit ihnen auf den für uns teuren Weg nach „Sancoins“ zu machen, war klar, ab jetzt mussten wir „abliefern“, uns.
    Endlich keine Gäste mehr, endlich Ruhe. Das Glück war heute auf der Seite des Phantoms, nur für die blöden Krähen hat das Glück nicht mehr gereicht.

    Das „Château du Four de Vaux“ kam mit einer 3+ gerade noch mit einem blauen Auge davon. Eigentlich war es ein schöner Ort, mit viel Geschichte und ganz bestimmt nichts Alltägliches. Die mangelnde Gästeorientierung, die vielen Häuflein des Hündchens und das ungewohnte und unheimliche alleingelassen werden, haben den Schnitt deutlich nach unten gerissen, ganz zu schweigen vom ungepflegten Pool. Da kann selbst das schönste Château machen was es will.

    Besonders ärgerlich an der gewaltigen Tagesstrecke war, dass wir uns gut und gerne fünf Kilometer hätten sparen können, wenn es eine näher auf unserem Weg gelegene Querung über die Loire gegeben hätte. Ja, richtig gelesen, Nevers liegt an der Loire.
    Wir mussten uns also mit einem gewaltigen Umweg über die Brücke von „Fourchambaul“ und dem daraus resultierenden, gewaltigen Bogen um halb Nevers, abfinden. Lange habe ich bei der Planung nach einer anderen Möglichkeit gesucht, vergebens.

    In die berühmte Loire von der Brücke herab zu spucken hatte etwas Ehrfurchtsvolles. Wir hielten eine Weile inne, um uns das Bild für die Zukunft einzuprägen. Der halb ausgetrocknete Fluss in seinem gewaltigen Bett, eingepfercht von seinen Auen und Deichen, zeigte ein etwas morbides Gesicht, dass zum Teil auch den tiefhängenden Wolken und der Kälte des Tages geschuldet war. Unser Klima-Erwartungsindex war schon wieder deutlich unter 50% gefallen.

    Gleich hinter der Brücke links brachte uns ein Deichweg inmitten herrlicher Auenlandschaft, zum 196 Kilometer langen „Canal latéral à la Loire“, einem Seitenkanal des selbigen Flusses mit seinen siebenunddreißig, schweißtreibenden Schleusen (Gott sei Dank nur für Bootsführer). Häuser, Menschen und Straßen gehörten mittlerweile wieder mehr und mehr der Vergangenheit an.

    Die Landschaft war gewaltig, und als auch noch die Sonne den Kampf gegen die himmlische Schwermut für sich entscheiden konnte, gab es für uns kein Halten mehr. Die intensiven Farben der sonnendurchfluteten Luft waren kaum noch zu überbieten.
    Wieder einmal durften wir das erleben, was oft nur dem Fernwanderer vorbehalten ist. Unvermutete Szenarien können Emotionen innerhalb von Minuten wie aus dem Nichts umkehren und die Sinne aus der Schwermut in einen Zustand der höchsten Zufriedenheit überführen. Es ist gewaltig und kaum zu beschreiben, wenn man es nicht einmal erleben durfte.

    Fast sechs Kilometer begleiteten wir den Kanal in seiner wunderschönen Monotonie und seinen sich fast minütlich verändernden Stimmungen, je nachdem welcher Gigant sich am Himmel gerade durchsetzte.
    Fast direkt an der „Begegnungsstätte“, dem „Hôtel Restaurant La Grenouille“, teilte sich der „Canal latéral à la Loire“. Es war die Geburt seines Kanal-Bruders, des „Rigole d'Alimentation des Lorraines“.

    Aufgewärmt und mit neuen Lebensgeistern in den Beinen führte uns die kleine Straße weg von diesem etwas ungewöhnlichen Restaurant, das wir positiv in Erinnerung behalten werden. Wir folgen der kaum befahrenen „D 45“ der „Route D'apremont“, entlang des Kanals „Rigole d'Alimentation des Lorraines“.

    Nach einem Kilometer verabschieden wir uns von der schönen Monotonie der Kanäle um uns für die nächsten beiden Kilometer den „Schönheiten“ einer Bahntrasse hin zu geben. Die einsame Landschaft durchschneidend war sie dennoch bei weitem nicht so hässlich wie man sie sich vorstellen würde.

    Mit dem achtzehnten Kilometer verabschiedeten wir uns auch von ihr.
    Die nächsten drei Kilometer verwöhnte uns der „Herrgott“ mit einer lieblich- einsamen Hügellandschaft, eingetaucht in saftiges grün und verfreundlicht von der immer und immer wieder geliebten Sonne. Die offene Hügellandschaft endete nach der Durchquerung eines kleinen Wäldchens. Der Weg gab uns in die Obhut der verwaisten „D 100“, der wir für einen Kilometer zu folgen hatten.

    Mit dem zweiundzwanzigsten Kilometer drehten wir auch ihr unsere Rücken zu, um uns für den heutigen Tag, auf einem Weg in Richtung Südwesten, eine ordentliche Portion ununterbrochenen Waldes von mindestens fünf Kilometern abzuholen.

    Was soll ich noch über Wald schreiben? Ich habe eigentlich in den voran gegangenen Wanderungen schon alles darüber erzählt. Nach den tagelangen und endlos monotonen Walddurchquerungen in Deutschland, dass bekanntlich zu einem Drittel mit Wald bedeckt ist, hat sich mein Bedarf diesbezüglich für die kommenden zwanzig Jahre deutlich erledigt. So mancher Umwelt-Aktivist mag das nicht verstehen, aber so ist das eben nach so viel Wanderkilometern düsterer Walderfahrung, ich sag nur eins, „Roothaarsteig“ im Sauerland.

    Und wie nicht anders zu erwarten, hatten wir auch bei diesem Prachtexemplar leichte Schwierigkeiten mit der Navigation.
    Waldwege verschwinden halt gerne mal, keiner weiß wohin, keiner weiß warum, sie sind dann einfach weg und wir mittendrin und immer ganz allein. Wir haben uns angewöhnt in solchen Situationen ganz cool zu bleiben. Schließlich kann uns Komoot immer die Himmelsrichtung zum nächsten Weg oder zur nächsten Straße deuten, jedenfalls so lange der Akku des Smartphones genügend Saft hat. Wie weit die aber entfernt sind und wie man sich bis dahin „durchgräbt“, ist eine andere Geschichte.
    In diesem Fall mussten wir uns fast einen ganzen unangenehmen Kilometer durchgraben ehe wir auf dem Waldweg standen, der uns zur rettenden Waldstraße „D 76“, der „Route des Cocqs“, brachte.
    Sie war einmal mehr absolut unbefahren. Wir entlarvten sie im weiteren Verlauf als „Via Lemovicensis“, die wir schon vor einigen Tagen erneut verloren hatten. Ein kleiner Aufkleber auf einem Verkehrsschild half uns bei der Identifizierung.

    Mit dem siebenundzwanzigsten Kilometer wurden wir aus der Dunkelheit des blöden Waldes entlassen und konnten unseren Augen endlich wieder freien Lauf lassen. Es war zwar eine dünn besiedelte-, aber dennoch keine einsame Gegend. Auch die zuvor unbefahrene „Route des Cocqs“ nervte zwischenzeitlich alle paar Minuten mit „Feierabendverkehr“. Dieser Typus von Straßen scheint nur morgens, mittags oder am späten Nachmittag befahren zu sein, das haben wir schon so oft erlebt.

    Irgendwie machte die weitläufige Landschaft hier, obwohl waldlos, immer noch einen düsteren Eindruck und schlug uns mehr und mehr aufs Gemüt. Die mittlerweile meist geschlossene Wolkendecke, unsere erneut schmerzenden Beine und die kühle Luft hatten wieder ihren Anteil daran.

    Mit den achtundzwanzigsten Kilometer mündete die „Route des Cocqs“ in die deutlich mehr befahrene „D 78“, der „Route de Mornay“.
    Der Zufall wollte es, dass genau hier, etwas abseits der Straße, das beeindruckende- und unbewohnte „Chateau Grossouvre“ thronte. Seit 1790 befeuerte es den Sozialneid so mancher Sozialisten und einfachen Leute der Gegend und hatte sicherlich auch seinen Anteil an der Französischen Revolution von 1789 bis 1799.
    Wir waren beeindruckt, vom riesigen, altehrwürdigen Chateau. Genau der richtige Platz für unsere zweite Pause.

    Ganz in der Nähe, an der Wand einer alten Baracke lehnend, ließen wir uns nur noch fallen und schoben uns mit letzter Kraft hungrig ein mittlerweile ziemlich verwelktes Baguette, dass wir heute Morgen dem Phantom stibitzten- und redlich teilten, in den Mund.
    Wir waren schlicht und ergreifend am Ende unserer Kräfte. Allein der Gedanke an die noch fehlenden sieben Kilometer bis zum Ziel, trieb Marion schon das „P“ für Panik in die Augen. Obwohl es mir nicht viel besser ging, halfen eine längere Umarmung und ganz viel tröstende Worte, wo es doch eigentlich gar nichts zu relativieren gab. Die sieben Kilometer blieben auch danach noch sieben. Ein kurzes, aber umso intensiveres „Powernapping“ (Zu Deutsch intensives Mittagsschläfchen) setzte noch einmal allerletzte Energiereserven frei. Mehr als zwanzig Prozent neues Ladevolumen war aber nicht mehr drin.

    Wieder nach einigen Minuten aufgewacht, grub der „Gaul“ schon wieder ordentlich unser Hirn um. Er wusste ganz genau, dass das Chateau für 1,25 Millionen Euro zu verkaufen war, jede Menge Schloss fürs Geld also.
    Wir adoptierten es, pflegten es gesund und empfingen täglich gut betuchte, illustre Hotelgäste, die ihren Maybach, Tesla oder Bugatti angeberisch entlang der Auffahrt zum Chateau parkten, in Wirklichkeit aber unterschwellig ihren Reichtum präsentierten.
    Ja, es war ein gewaltiges Chateau, inmitten unseres herrlichen Schlossparks, der sich als solcher wirklich sehen lassen konnte und keinen Vergleich mit internationaler Konkurrenz scheuen musste. Es versteht sich von selbst, dass wir zuvor die umliegenden und leerstehenden Baracken, deren Zweck uns ziemlich egal war, abgerissen- und die freiwerdende Flächen in den Park integrierten. Nichts sollte das Antlitz unseres Anwesens, auch nur im Geringsten, stören. Eine ganze Heerschar von Bediensteten wusste was dafür tun war.

    Für jedes der geschätzt fünfzig Zimmer, berappten unsere Gäste eintausendzweihundert Euro, pro Nacht, versteht sich. Bei einer Auslastung von 50% macht das einen monatlichen Umsatz von gut 1,8 Millionen Euro, versprach der „Gaul“. Für einen noch intensiveren „Hirngalopp“ unter Berücksichtigung der Kosten und der virtuellen Entwicklung eines Business-Plans, reichte unsere Energie nicht mehr, da konnte der Gaul noch so wild im Hirn galoppieren. Dennoch wir waren fürs Erste mit dem Ergebnis zufrieden.

    Die Schmerztablette, die wir gleich zu Beginn der Pause eingeworfen hatten, wirkte bereits. Mühsam aufgepäppelt mit Powernapping und Ibuprofen, rafften wir uns auf, um den verbleibenden sieben Kilometern bis zum Ziel den Rest zu geben.

    Wieder einmal war es die Sonne, die auch unsere Stimmung aufhellte. Die Chemie war für den Körper zuständig und arbeitete bereits zuverlässig. Auch die Landschaft war uns wieder wohl gesonnen, obwohl sich ein zwei Kilometer langes, aber Gott sein Dank licht durchflutetes Waldstück, dazugesellte.

    Mit dem zweiunddreißigsten Kilometer mündete unser schöner Weg in die deutlich weniger schöne „D 920“, der „Route de Sancoins“. Sie war für uns der einzig mögliche Weg dorthin.

    Hier war ordentlich was los. Erstmals seit dem Start unserer Wanderung quälten auch LKW-Geräusche wieder unsere Ohren, die den aggressiven Krach längst vergessen hatten. Nun aber wurden sie aus der Harmonie sanfter Naturgeräusche unsanft in die Realität einer Bundesstraße katapultiert, es war einfach nur grausam.
    Natürlich gab es, wie in Frankreich meist üblich, keinen Rad- oder Fußweg, der uns seinen Schutz vor der bösen Straße hätte anbieten können. Klar, an der Straße hat man ja auch nichts zu suchen. Es lebe Deutschland, jedenfalls in dieser Hinsicht. Nach gut zweiunddreißig Kilometern Wegstrecke waren unsere Schritte, wegen der fortschreitenden Erschöpfung, ebenso unsicher wie der Gleichgewichtssinn, da konnte selbst die Sonne und unsere Wunderdroge Ibuprofen nichts mehr dagegen ausrichten.

    Es war die Hölle, Autos und LKWs donnerten dicht an dicht nur so an uns vorbei, es fühlte sich an wie im „Krieg“. Wir hatten vergessen, wie böse Bundesstraßen sein können.
    Nach so einer Distanz torkelnd auch noch jede Sekunde auf seine Schritte- und die des anderen achten zu müssen, war fast schon übermenschlich. Gegenseitig passten wir auf uns auf. Die meisten Verkehrsteilnehmer hier stehen nämlich auf dem Standpunkt, dass sie den Zusammenstoß mit einem Fußgänger eindeutig gewinnen würden. Folgerichtig war es auch nicht ihre Aufgabe auszuweichen.
    Bedingt durch das uneinheitliche Gelände, dass uns oft neben der Straße keinen Platz bot, mussten wir auch noch alle paar hundert Meter die Straßenseite wechseln. Bei der Verkehrsdichte ein zusätzliches Risiko, dass nur mit höchster Konzentration zu bewältigen war, es war die Hölle.

    Ein großer- und neu angelegter Verkehrskreisel erlöste von dem fast drei Kilometer langen Leiden und ein frisch asphaltierten Begleitweg der Strasse, nahm uns in seine Obhut.
    Alles hier zwar neu und ziemlich groß bis gigantisch. Aus dem frisch geborenen Gewerbegebiet erwuchsen die ersten bebauten Parzellen wie Monster-Tankstellen, LKW-Rastplätze oder sonstige, undefinierbare Industriebauten, dazwischen gab es viele Brachflächen. Auch diese Dimensionen waren wir bereits schon nach ein paar Tagen Wanderung, nicht mehr gewöhnt. Alles wirkte irgendwie wie ein fremder und abweisender Planet.

    Egal, der Planet läutete den letzten Kilometer ein, der nach unserer Erfahrung immer der Schlimmste ist, weil er sich unendlich in die Länge zieht. Das Empfinden von zurückgelegter- und noch zu gehender Strecke wird am Ende höchst subjektiv. Oft haben wir über dieses eigenartige Phänomen spekuliert.

    Ganz vergessen habe ich übrigens noch zu erwähnen, dass unsere kleine Musikbox, die „JBL Clip3“, stets am Rucksack hängend, unser treuer Belgleiter bei jedem bisher gewanderten Kilometer war. Den ganzen Tag versorgt uns „Spotify“ über die Box mit leiser- und jeweils zur Situation passender Musik. Das Spektrum reichte dabei von guter „Lounge Musik“, beispielsweise von „Mount Kimbie“, über Songs von „Dean Blunt“, bis hin zu Opern von „Verdi“, um nur einige Musikrichtungen zu nennen. Niemals jedoch war unsere Musikwahl laut oder aufdringlich, stets hatte die Natur das Sagen. Anders wäre das monotone Gehen über so viele Stunden aber gar nicht auszuhalten.

    Um uns den wie ein Kaugummi hinziehenden, letzten Kilometer mental zu verkürzen, und um die allerletzte Motivation tief aus unserem Inneren irgendwie heraus zu kitzeln, zelebrierten wir bei jeder Wanderung am Ende ein kleines Ritual.
    Mit Beginn des letzten Kilometers, hörten wir immer „New York“ von Frank Sinatra, ausnahmsweise dann etwas lauter. Das hob unsere Stimmung in der Regel schlagartig.
    So mancher entgegenkommende Fußgänger an dem wir, von Frank in Stimmung gebracht, vorbei tänzelten, hat bestimmt versucht unsere Tassen im Schrank zu zählen. Leider mussten sie aber feststellen, dass doch so manche Tasse fehlte.

    Ja, der gute alte Frank macht das Freudetänzeln am Ende einer derart langen Wanderung durch die Mobilisierung von Lebensfreude noch einmal für kurze Zeit möglich, dass soll ihm erst einmal einer nachmachen.

    Wie auch immer, während wir mit allerletzter Kraft müde vor uns hin tänzelnden und dabei immer mehr Details vom dreitausendachthundert Seelen Kaff erkennen konnten, sorgte die beinharte Realität dafür, dass aus dem Tänzeln nach kurzer Zeit wieder ein müdes Torkeln wurde.
    „Sancoins“ war an Hässlichkeit kaum zu überbieten. Es war heruntergekommen, ärmlich und einfach nur in jeder Hinsicht scheußlich. Keine Frage, das Geld war hier nicht zu Hause, aber uns war eh alles nur noch egal, denn selbst das Denken viel uns mittlerweile schwer.

    Das „Hotel Du Parc“ machte von außen gar keinen so schlechten Eindruck. Ein ziemlich altehrwürdiges Haus der unteren Kategorie, ein Besseres gab es hier leider nicht. Der Empfang war nett und freundlich, ganz im Gegensatz zum Phantom.
    In der kleinen Lobby standen auch schon unsere Koffer die wir natürlich, das gehört sich hier anscheinend so, selbst mit allerallerletzter Kraft in den ersten Stock schleifen mussten, danach ging nichts mehr!

    Das Zimmer mit seiner alten Einrichtung und seinen mindestens vier Meter hohen Decken war simpel, punkig weil alt eingerichtet, und derart Französisch, dass es schon wieder witzig war.
    Aber es hatte zumindest eine uralte Badewanne in einem an Hässlichkeit kaum noch zu überbietenden-, rosa gekachelten Badezimmer. Für mich war es dennoch ein kleines Highlight, in der sich meine geschundenen Beine ein wenig erholen konnten.

    Egal, wir hatten keinen Sinn mehr für gar nichts und wollten nur noch liegen. Immerhin war es schon halb neun Uhr abends.
    Gut, dass es morgen „nur“ fünfundzwanzig Kilometer werden.

    Noch eine Anmerkung zum Schluss:
    Hier sind zwei Karten beigefügt da die Navigation am Ende der ersten Karte Systembedingt unterbrochen wurde. Die Karte Nummer zwei beginnt am Ende der Ersten Karte. Beide Karten bilden die Tagestour ab.
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  • Day 7

    Luigi

    April 27, 2019 in France ⋅ ☁️ 9 °C

    Trip 5, Tag 7, Wandertag 5: Sancoins - Isle-et-Bardais, 25,10 km, Steigung 120 Meter, Gehzeit 6:30, Samstag, 27.4.2019

    Selten war uns ein Ort so unangenehm wie „Sancoins“. Jeder unserer Schritte aber ließ das Unangenehme kleiner werden bis es am Horizont schließlich zur Bedeutungslosigkeit verkam. Irgendwo hier betraten wir die Region „Auvergne“, die Vierte nach „Lorraine“, „Champagne-Ardenne“ und „Bourgogne“.

    Der Unterkunft der letzten Nacht gaben wir die Schulnote 3-4. Personal bemüht, Zimmer scheußlich und ein süßes Frühstück, nur was für Franzosen. Es gab Croissants, garniert mit Bonbons.

    Ziemlich mies gelaunt, denn immer noch erschöpft von gestern, spulte unser „Autopilot“ das Programm des Tages ab. Nur eiserne Disziplin, ohne Chemie kaum möglich, brachte uns auf die kleine asphaltierte Straße, passend nur für ein Auto.

    Wir waren zwei winzige Punkten in einer dunkelgrünen Unendlichkeit, die sich nur durch ihren eigenen Horizont begrenzte. Ihre depressive Stimmung konnte durch nichts überboten werden. Kein Zweifel, wir betraten gerade den „Hades“ (Schattenwelt der griechischen Mythologie).

    Es war kalt in der Schattenwelt, sehr kalt. Der eiskalte Sturm hämmerte uns den Regen nur so ins Gesicht und machte aus den sieben Grad gefühlt minus sieben. Es erforderte unser gesamtes Repertoire der Abteilung „warme Sachen“ uns davor zu schützen. In voller Regenmontur, mit einem Regenhut über der Kapuze und einem wärmenden Schal um das Gesicht gewickelt, ergaben wir uns unserem Schicksal. Unsere nasskalten Turnschuhe bestraften wir mit aufgezwungener Missachtung.

    Unser „Klimaerwartungsindex“ war heute Morgen massiv-, auf den traurigen Wert von Null, gefallen.

    Die wenigen Bäume, die uns entlang der kleinen Straße noch einige Kilometer zögerlich begleiteten, zogen sich mit jedem unserer Schritte mehr und mehr zurück, einer nach dem anderen. Es schien, als ob sie sich davor hüten wollten die Unendlichkeit zu betreten. Nein, damit wollten sie nichts zu tun haben, ganz bestimmt nicht. Lieber würden sie im grausamen „Sancoins“ schmoren als in dieser unheimlichen Gegend.
    Ja, düster war sie in der Tat die Gegend die sich, zugleich aber auch eindrucksvoll, gerade vor uns ausbreitete.

    Ich kann mich nicht erinnern, dass wir uns jemals, während unserer Wanderungen, bei der Bewertung einer Gegend, derart uneinig waren wie hier.
    Während unser waffenfreier Rucksack Marion vor der einen oder anderen selbstverschuldeten Dummheit bewahrte, konnte Günter gar nicht genug kriegen vom Ausmaß der hier reichlich vorhandenen- und unendlichen Melancholie. Aus Marions Sicht war es eher eine unendliche Depression.

    Die Armee der dunkelgrauen Wolken, bis auf die Zähne mit Regentropfen bewaffnet, tauchten das Land in ein tiefes Olivgrün. Sie drohten damit die spärlich vorhandenen- und meist völlig verkommenen Bauernhöfe in ihre gierigen Bäuche zu verschlingen.
    Selbst mit größter Anstrengung vermochten wir beim Anblick der erbärmlichen Gebäude nicht an eine funktionierende Landwirtschaft zu glauben. Noch weniger daran, dass Franzosen hier lebten.

    Es war spannend alle paar Kilometer ein neues „Superlativ“ des Siechtums visuell erleben zu dürfen, genau genommen war es mehr deprimierend. Wir konnten gar nicht glauben, dass Menschen einen derart geringen ästhetischen Anspruch an ihr zu Hause haben. So ärmlich wie das hier aussah, konnten die Bauern gar nicht sein. Immerhin beackerten sie riesige Ackerflächen im Herzen der EU.

    Die Gehöfte unterteilten sich in unterschiedliche „Sektoren“, die Bandbreite reichte von längst dem Verfall preisgegeben historischen Gemäuern, über nicht minder verfallene Holzschuppen die augenscheinlich nur unter Lebensgefahr zu betreten waren und nichtidentifizierbaren Wellblech-Tennen. Dazwischen ein wilder Mix aus Müll, Holzstapeln, ungeschützten- und längst vom Regen durchweichten Strohballen, sowie Unmengen von Schrott und landwirtschaftlichen Geräten, wobei es schwer fiel letztere zu unterscheiden.
    Irgendwo dazwischen wohnte sicherlich der Eine- oder andere französische Bauer, von denen wir auf der gesamten Wanderung nur einen oder zwei, äußerlich passend zu den Bauerhöfen, zu Gesicht bekamen.
    Jeweils ein unbefestigter Naturweg, meist vom Regen zur Schlammpiste herabgestuft, war für die Höfe der Nabel zur Welt, dahinter gab es nichts mehr.

    Vielleicht waren die meisten Gehöfte mittlerweile unbewohnt, weil der eine oder andere Bauer ein Leben im Verkommen „Sancoins“-, dem der verkommenen Einöde, vorzog. Egal, eines war gewiss, hier wurde immer noch Landwirtschaft betrieben.

    Um nicht falsch verstanden zu werden, dass alles hier war für mich, in der Komposition und Menschenleere, maximal mystisch und spannend. Hier waren gefühlt sogar die Kühe auf der Weide irgendwie anders.

    Rückblickend nimmt dieser Tag in meinen Erinnerungen großen Raum ein, in Marions Gedanken reduziert sich dieser vermutlich auf die Größe eines Dixi-Klos, sie mochte es hier eben nicht.

    Wie auch immer, irgendwann bewachte eine unbeaufsichtigte Gang von vier Kötern zähnefletschend und bellend so ein abgrundtief verkommenes Ensemble. Sie waren gerade dabei auf der kleinen Straße ihren für heute gültigen Ranglistenplatz „auszudiskutieren“.
    Zu erwähnen wäre an der Stelle noch, dass die kleine Straße über weite Strecken von hüfthohen Hecken eingesäumt war die ihr, der Straße, kaum noch Luft zum „Atmen“ ließen. Insofern gab es für uns keine andere Möglichkeit als auf alles vorbereitet zu sein und uns hautnah an der Gang vorbei zu quetschen. Halbstark wie sie waren ließen sie keinen Zweifel daran, dass sie jeden Millimeter ihres Claims mit ihren spitzen- und ungepflegten Zähnen verteidigen würden.

    Mit meinem aufgeklappten Taschenmesser in der Hand, die ich, um keine Aggression zu provozieren, mit dem Messer in den Tiefen meiner Jackentasche verschwinden ließ, bewegten wir uns auf die bereits wartende Meute zu. Von der vierer Gang waren drei Tölen beängstigend groß, während der Vierte seinen nicht zu übersehenden Zwergenwuchs regelrecht niederkläffe. Als Schäferdackel wollten er den anderen „Senfhunden“, bei denen viele Hunde ihren Senf dazugaben, wenigstens in dieser Hinsicht imponieren.

    Während wir uns angespannt an der Meute Meter für Meter vorbeimogelten, wurde es bei den Senfhunden unerwartet ruhig, während der Schäferdackel weiter verbal protzte. Ein paar Meter weiter bestrafte uns die Gang nur noch mit unerwarteter Ignoranz.
    Der Kleine jedoch erkannte seine Chance, kündigte seine Mitgliedschaft in der Meute, hörte mit seinem Gekläffe auf, und beschloss ab sofort unserer Gang beizutreten.
    Die neue Gang hatte so seine Vorteile, denn die Ranglistenplätze des heutigen Tages und die der nächsten tausend Tage, waren längst geklärt. Das Gebelle konnte er sich auch sparen, denn so laut hätte er im Leben nicht bellen können, um seine Größe gegenüber unserer zu kompensieren.

    Der Kleine war renitent, jeder Versuch ihn zu verscheuchen oder zu ignorieren scheiterte kläglich an seiner unerträglich loyalen Toleranz.
    Längst hatten wir es aufgegeben seine Herkunft zu ergründen. Hier war weit und breit nichts wo so ein Hündchen hingehören könnte. Die drei anderen vom verkommenen Ensemble waren offensichtlich nur flüchtige Wegbekannte.
    Außerdem hatte die kleine Straße mittlerweile derart viele Windungen und Abzweige, dass es schon ein Superhirn bräuchte, um sich auch nur einen Kilometer des Weges zu merken.

    Nach ein paar Kilometern war der Kleine, mittlerweile auf „Luigi“ getauft, nicht mehr bereit die vielversprechende Mitgliedschaft in seiner neuen Gang zu kündigen. Guter Rat ihn loszuwerden war teuer, eine Lösung nicht in Sicht. Luigi nannten wir ihn weil er uns, klein und mutig wie er nun einmal war, irgendwie an einen italienischen Mini-Macho erinnerte. Der eine oder andere Italiener, der vielleicht einmal dieses Kapitel liest, möge uns bitte an der Stelle, solche, nicht böse gemeinten Vorurteile, verzeihen.

    Mehr und mehr versuchten wir uns vorzustellen wie das Wandern mit Luigi wohl funktionieren könnte. Ein entsprechender Tagesablauf wurde intensiv durchgespielt. Aber allein der Gedanke uns abends todmüde auch noch um das Habi für den Köter kümmern zu müssen, der dann nach einem regenreichen Tag streng müffelnd in unserem Zimmer schläft und dann vielleicht auch noch mitten in der Nacht kurz Gassi gehen muss, erstickte jeden positiv aufkeimenden Gedanken an den neuen Wandergefährten in Nullkommanix.

    Kein Zweifel, der Köter musste weg, und damit basta.

    Dem Gaul, der uns schon wieder im Hirn rumspukte, um dort Köter-Gedanken einzubrennen, haben wir sofortiges „Hausverbot“ erteilt, mit mäßigem Erfolg.
    Visuell und verbal ignorierten wir Luigi folglich, wobei uns, zugegebener Maßen, sein freundliches und loyales Gemüt, mehr und mehr einlullte, er war höllisch süß.
    Der Gaul grinste erhaben und zeigte uns seinen im Huf eingewachsenen Stinkefinger. Innerlich waren wir uns bereits einig, wenn es denn unbedingt ein Köter sein musste, dann so ein kleiner Italiener. Diesen Gedanken jedoch, auch nur ansatzweise, offiziell auszusprechen war verpönt und strikt verboten.

    Nach gut 13 Kilometern, man glaubt es kaum, ließ sich die Sonne blicken und verwandelte schlagartig den Hades in eine freundlichere Zwischenwelt. Und auch die Erbärmlichkeit der landwirtschaftlichen „Betriebsstätten“ verbesserte sich um ein paar Punkte auf ein „französisches Bauernhof-Mittelmaß“, was aber keinen gravierenden Unterschied ausmachte.
    Luigi schwärmte gerne aus und führte uns ebenso gerne an der Nase herum. Immer wenn wir dachten „Jetzt ist er endlich weg“ war er endlich wieder da, ein italienischer Schlawiner eben.

    Ein Abzweig beim vierzehnten Kilometer führte über einen ungewöhnlich gepflegten Privatweg zu einem in der Ferne gelegenen Anwesen. Es war das „Ferme Auberge des Pirodelles“, ein „Chambre d'hôte“ mit Landwirtschaft und Hofladen. In Deutschland so etwas wie „Ferien auf dem Bauernhof“. Für eine Besichtigung hat es dennoch nicht gereicht. Liegen am Wegesrand, bei endlich wieder wärmender Sonne, war deutlich entspannter.
    Die Räudigkeit der Gegend fand hier offensichtlich auch ihr Ende. Ein schöner Platz für unsere Rast garniert mit einem kleinen Teich, rechts des Weges, Balsam für unsere geschundenen Augen.

    Gleich am Abzweig legten wir uns, geschützt vor dem nassen Boden durch unsere wetzenden Regenklamotten, auf den Grünstreifen zwischen Privatweg und Weidenzaun. Autos oder Landmaschinen fuhren hier eh nicht. Es gab nichts als die Ruhe und ab und zu ein angenehm-nervendes-, unsere Ohren umkreisendes Insekt. Die Sonne und die lieblicher gewordene Landschaft waren Vitamine für unsere ausgezehrten Seelen.

    Jetzt hatte das letzte Stündchen unseres Baguettes, dass wir uns heute Morgen noch im „Hotel Du Parc“ in „Sancoins“ eilig belegten, geschlagen. Luigi brachte sich in sicherer Distanz in Stellung, offensichtlich hatte er ein riesen „Loch“ im Bauch. Sein Pech nur, dass wir mindestens genauso hungrig waren wie er und leider nur dieses Eine Baguette für uns zum Teilen hatten. Es würde bei weitem nicht einmal für uns beide ausreichen, um den Hunger mundtot zu kauen.

    Luigis Zähne tropften nur so vor sich hin. Er robbte auf seinen kleinen Beichen und den Bauch am Boden schleifend, Zentimeter um Zentimeter in Richtung Baguette. Und immer, wenn er gerade seine gierige Zunge aus seinem Schlund holte, um den Geschmack des mickrigen Baguettes darauf zu verewigen, verscheuchten wir ihn mit Nachdruck. Das Spiel wiederholte sich einige Male. Wir waren nicht bereit ihm etwas abzugeben, dass hätte seine Mitgliedschaft in unserer Gang nur noch weiter manifestiert.

    Und der Gaul? Na ja, der hat sich gewunden vor Lachen. Ich muss an der Stelle nicht erwähnen, dass wir unter unserer Härte genauso litten wir der kleine Italiener.

    Irgendwann, man mag es kaum glauben, näherte sich langsam ein Auto, um in unsere Allee abzubiegen und schleichend an uns vorbei-, in Richtung Anwesen, zu rollen. Sicherlich waren wir für die Fahrerin genauso exotisch wie ihr Auto für uns.
    Luigi aber stand auf und sah dem Auto hinterher. Man spürte förmlich wie es in seinem kleinen Hirn „ratterte“. Entweder der geizigen Gang, mit ungewissen Ausgang folgen, oder diese Chance nutzen.

    Er lief dem Auto hinterher und ließ uns, nach gut acht Kilometer gemeinsamen Weges und mit all unseren Gedanken, den der „Gaul“ bereits in unser Hirn gepflanzt hat, wieder alleine.
    Unserer Vernunft folgend waren wir froh. Unsere Herzen aber hatte er längst erobert, wir waren glücklich traurig.

    Der Hades gehörte der Vergangenheit an. Fortan zeigte sich „unser“ sonnenverwöhntes Frankreich von seiner schönen Seite. Eine leicht geschwungene Landschaft nur begrenzt vom Horizont, eingetaucht in sattem Grün, ohne jegliche visuelle Verschmutzung und garniert mit einem bayerischen, weiß-blauen Himmel, das war die neue Szenerie. Unsere Regenklamotten schmorten fortan im Rucksack.

    Mit dem zwanzigsten Kilometer querten wir auf der „D 564“, den „Étang de Goule“. Ein flacher See der einen Kilometer für etwas Abwechslung sorgte.
    Die nachfolgende und unbefahrene „D 14“ brachte uns nach dem einundzwanzigsten Kilometer nach „Valigny“, einem ungewohnt modernen und aufgeräumten Ort mit 376 Einwohnern. Eine neue Bank auf dem neu gestalteten Dorfplatz kam uns gerade recht für eine kurze Rast.

    Kurz vor dem Verlassen des Ortes fand Marion ein auf dem Boden liegendes-, relativ neues iPhone. Der Besitzer war nicht auszumachen. Wir nahmen es mit, um es später unseren Gastgebern zu übergeben, die es dann morgen zum Fundbüro bringen sollten. Im Moment war hier alles geschlossen.

    Wiederum zwei Kilometer später führte uns die kleine „D 111“ sanft hinunter ins circa dreißig Meter tiefer gelegene „La Marmande“ Tal, nach „Isle-et-Bardais“, unserem heutigen Ziel. Es war eigenartig, wir hatten das subjektive Empfinden wieder in der Zivilisation zu sein obwohl die 266 Einwohner nicht viel dazu beitragen konnten. Dennoch, etwas hier war gefühlt anders.

    Unsere heutige Unterkunft das „Le Matou Roux“, lag etwas außerhalb, am Rande einer riesigen- noch brachliegenden Ackerfläche. Vermutlich war es einmal ein altes Bauernhaus, liebevoll wieder zum Leben erweckt.
    Nicole, die nette und hilfsbereite Madame, erwartete uns schon. Gäste gab es hier, vermutlich wegen der Jahreszeit, schon länger nicht mehr. Ohnehin verfügte das Haupthaus nur über zwei Zimmer unter dem Dach, eines davon unseres. Ein weiteres gab es in einem kleinen Gästehaus, in Frankreich „Gite“ genannt, Franzosen lieben „Gites“.

    Hunderte Liter warmen Duschwassers waren nötig, um unserer Gänsehaut Einhalt zu gebieten.
    Einen Tipp der Madame folgend dinierten wir, deutlich erwärmt, im einzigen Restaurant des Ortes, dem „Le Relais de Pirot“.
    Es war herrlich hier dieses köstliche 3-Gänge-Menü, nach dem sonderbaren- und ereignisreichen Tag, zu genießen. Immer mehr Gäste füllten die kühl eingerichtete „Begegnungsstätte“, die sich in der umgebenden Einsamkeit offensichtlich einen Ruf als Gourmet Tempel erkocht hat.

    Heimlich schlich sich der Gaul wieder in unser Hirn, und strapazierte einmal mehr unser Gewissen.

    Wir lagen dabei todmüde im Bett und der vor sich hin müffelnde Luigi neben uns auf dem Bettvorleger. Verhalten-glücklich und vollgefressen lag er da, allerdings mit vorwurfsvollen-, auf uns gerichteten Blicken.
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  • Day 8

    Eichenscheiß

    April 28, 2019 in France ⋅ ☁️ 11 °C

    Trip 5, Tag 8, Wandertag 6: Isle-et-Bardais - Vallon-en-Sully, 25,20 km, Steigung 450 Meter, Gehzeit 6:00, Sonntag, 28.4.2019

    Nicole, unsere überaus zuvorkommende Gastgeberin der letzten Nacht vom „Le Matou Roux“, entpuppte sich im Nachhinein als liebenswerte Holländerin. Sie und ihr Mann Rob, den wir leider nicht kennenlernten, zogen ein beschauliches Leben in der Auvergne-, einem Hektischen im zu dicht besiedelten Holland, vor.
    Ihr Frühstück war grandios. Es verfügte über alles, was so ein rustikales deutsches Herz wie meins um diese Uhrzeit begehrte, inklusive Frühstückseier! Aber auch Marion, von Natur aus mit etwas feineren Geschmacksnerven ausgestattet, kam auf ihre Kosten. Nicoles Hilfsbereitschaft bescherte uns auch frisch frischgewaschene- und von ihr eigenhändig gebügelte Wäsche, welche Freude, vielen Dank Nicole!
    Das „Le Matou Roux“ bekam von uns eine glatte zwei. Gastgeberin hilfsbereit und nett, Zimmer mit Bad gemütlich, Frühstück grandios. Hätte das Mansardenzimmer anstelle des Dachfensters ohne Fernblick eines mit- gehabt, wäre es eine deutliche 2+ geworden.
    Die „D 411“ führte uns noch einmal schnaufend am Restaurant des gestrigen Abends vorbei. Gleich danach brachte uns die kleine Straße „La Salle“, auf der rechten Seite abzweigend, zum „Étang de Pirot“, ein stattlicher See, gut bewacht von einem gemischten Wald und intensivem Grün.
    Stolz präsentierte sie uns, ein wenig später, das äußerst gepflegte Camping-Areal „Camping Caravaning Des Ecossais“. Links der Straße posierte der Camping-Bereich direkt am Ufer des Sees, rechts davon, seine kleinen Holz-Bungalows in einem parkähnlichen Gelände.
    Der Campingplatz war das exakte Gegenteil der räudigen Bauernhöfen von gestern. Hier hätte hier schon ein Vogelschiss als Vorwand für Renovierungsarbeiten gereicht, so übergepflegt war es hier. Auch Gänseblümchen im Rasen haben hier sicherlich kein leichtes Leben.
    Aber wie fast immer in Frankreich war auch dieser See fast ausschließlich den Anglern vorbehalten. Sie müssen über eine gut funktionierende Lobby verfügen. Denn wie sonst wäre es zu erklären, dass so eine kleine Gruppe, der viel größeren, freizeitbedürftigen Masse, den Badespaß durch flächendeckende Badeverbote derart vorenthalten darf.
    Am See war das Schwimmvergnügen nur den Gästen des Campingplatzes gegönnt, und das auch nur in einem eng begrenzten- und streng markierten Bereich im See von vielleicht 10 x 5 Metern, winzig im Verhältnis zur Größe des Areals. Das normale Volk hatte am See nichts zu suchen, rein gar nichts.

    Ich hab mal nachgelesen, gegen diese Art von Egoismus geben auch die zehn Gebote nichts her. Vermutlich hat der Herr, mangels Gelegenheit, auch nie gebadet, denn ansonsten hätte er einem solchen Treiben sicherlich seinen „Gebotsriegel“ vorgeschoben.
    Wir wanderten hier im „Département Allier“, das zur „Auvergne-Rhône-Alpes“ Region gehört und genau im Herzen Frankreichs liegt.
    Ein letztes Mal blickten wir zurück zum entfernten Örtchen „Isle-et-Bardais“, das sich aus südlicher Richtung deutlich vorteilhafter präsentierte.
    Unser „Klimaerwartungsindex“ klebte heute Morgen weiterhin bei null Punkten. Es war immer noch ziemlich kalt und Wolkenverhangen, nur geregnet hat es bisher noch nicht.

    Gleich hinter dem Campingplatz begann der Wald, sehr viel Wald, ein Eichenwald, der „Foret de Troncais“.
    Der Abzweig zum Wanderweg „Ligne de Pirot“, eher eine perfekte Wanderhighway, führte uns nach den ersten beiden Wanderkilometern hinein in seinen unendlichen Schlund.
    Der „Foret de Troncais“ ist ein rund 11.000 Hektar großer, französischer Nationalwald und damit nicht nur der Größte-, sondern angeblich auch der schönste Eichenwald Europas. Einst war er in Besitz der Herzöge von Bourbone. Gepflanzt wurde er von „Colbert“, dem Handelsminister des 15. Ludwigs, den im Mai 1774 die Pocken holten. Die Schmach der französische Revolution, von 1789 bis 1799, blieb ihm damit erspart, Glück im Unglück also.
    „Colbert“ wollte mit dem Wald einst Holz für den Schiffsbau erzeugen. Nach der Revolution aber wurden aus dem Wald keine Schiffchen mehr gebaut, sondern vom gemeinen Volk Holzkohle produziert, welche Schmach.
    Heute müssen die Eichen dort mindestens 225 Jahre alt sein bis sie gefällt werden dürfen. Zentrum des Waldes, den man nur zu Fuß betreten darf, für uns natürlich das geringste Problem, ist die „Rond Gardien“, ein Kreuzungspunkt aller Forststraßen.

    Das mit dem Wald klingt alles sehr interessant, ist am Ende aber eben doch nur Wald. Ein etwas hellerer- und parkähnlicher Eichenwald zwar, aber für einen Fernwanderer am Ende eben doch langweiliger, Wald. Leser, die unsere Wanderung bis hier verfolgten, wissen um unsere „Waldschädigung“ die wir uns noch in Deutschland, bei tagelangen- und nicht enden wollenden Waldetappen, zugezogen haben.
    Selbstverständlich geht es bei unserer „Waldschädigung“ nicht um den Wald als solches, wir schätzen seinen Wert sehr, versteht sich von selbst. Nur, beim Wandern schätzen wir eben das vom Licht verwöhnte, offene Land.
    Über die nachfolgenden neun Kilometer gab es, wie nicht anders zu erwarten, über nichts anderes zu berichten als über menschenleeres-, unendlich ödes, und unterbelichtetes Eichengrün. Einzige Abwechslung bescherten uns zwei baumlose Lichtungen gigantischen Ausmaßes. Es waren „Treffpunkte“ der Forstwege die sich dort jeweils, aus allen Richtungen kommend, ein Stelldichein gaben.

    Der erste „Treffpunkt“, die „Rond de la Cave“, sorgte bereits nach zwei Kilometern für die Lichtmenge, die wir benötigten, damit unser Gemüt nicht noch mehr dem Klimaerwartungsindex des Tages folgte. Es reichte gerade noch so aus, um dem mentalen Abwärtstrend, kurz vor der Depressionsgrenze, Einhalt zu gebieten. Mehr gab der immer noch wolkenverhangene Himmel an Lichtmenge leider nicht her.
    Außer ein paar Schutzhütten und einer großen Hirschkäferskulptur, mühsam aus einem Baumstamm herausgeschnitzt, war hier nichts zu holen. Musste auch nicht, die riesige baumfreie Fläche und der geringfügig höhere „LUX“-Wert reichten uns als willkommene Abwechslung.
    Weitere drei Schattenkilometer auf dem Forstweg „Route Forestière de Placegrosse“, Nummer „D978A“, brachten uns zum zweiten „Treffpunkt“, der Lichtung „Rond Gardien“. Auch er diente keinem anderen Zweck als anderen Forstwegen, die ebenfalls kerzengerade aus allen Richtungen hierher strömten, eine „Heimat“ zu geben.
    Eine große Informationstafel gab der Öffentlichkeit ihr Wissen über die umgebende Region „Allier“ preis. Außerdem gab es noch ein paar „Marterpfähle“, sollte wohl Kunst sein, sowie eine Informative Schutzhütte zum Unterstellen.

    Eine kleine Sensation für uns aber war hier das kleine Hotel-Restaurant, „Auberge du Rond Gardien“. Wo gibt es in Frankreich schon eine mittags geöffnete Auberge mit Draußen-Sitzgelegenheiten im Wald.
    Wir gingen in „sicherer“ Distanz daran vorbei, um der Versuchung nicht zu erliegen. Für uns war die Zeit noch nicht reif für eine Rast, schade.

    Dort sah es, sehr zu unserem Leidwesen, auch noch ziemlich gemütlich aus, fast wie im Biergarten. Kein Wunder, stand ja auch auf dem Werbe-Schild.
    Einige hartgesottenen Franzosen kauerten sich dort, bei unter zehn Grad, im äußerst schattigen „Biergarten“, zusammen. Für uns, eh schon fröstelnd, kaum vorstellbar, das linderte unseren Sehnsuchtsschmerz ein wenig.
    Aber, wie die armen Würstchen da so saßen, erweckten sie dann doch das Mitleid meines tief bayerischen Herzens, denn "Biergarten" war ja wohl etwas geprahlt, oder?

    Ich empfehle euch biergartenverliebten Franzosen dringend einmal einen Urlaub am Chiemsee.
    Hier solltet ihr eure überaus hochnäsig geratenen Gaumen, wenigstens einmal im Leben, mit einem echtes 3-Gänge-Biergarten-Menü wieder erden, und danach, eure völlig außer Kontrolle geratenen Geschmacksnerven wieder neu sortieren.

    Als Entrée empfehle ich eine Leberknödelsuppe, als „Plat Principal“ eine ordentliche Schweinshaxe, und als Dessert einen noch ordentlicheren Kaiserschmarrn, das wäre doch mal was genaueres, oder? Kein Hungerleiden mehr auf dem langen Weg zum dritten Gang!
    Und ganz nebenbei werdet ihr feststellen, dass es beim Servieren der Gänge gar nicht so einfach ist die Beilagen der reichlich gefüllten Teller, unter den üppig im Dirndl des bayerischen Urweibs in Schach gehaltenen Möpsen, überhaupt noch zu erkennen, dass ist Bayern, „Viva La Bavière“!

    Nachdem der „Gaul“ wieder zur Besinnung kam, waren es immer noch gute vier Kilometer bis zum Licht der Welt. Fairer Weise muss aber erwähnt werden, dass wir schon deutlich dunkleren und erdrückenderen Wald erlebt haben. Der hier war sehr weitläufig, machte einen eher herrschaftlichen Eindruck und war ziemlich „aufgeräumt“. Die Wege waren wahre „Wanderautobahnen“.
    Ein kleinerer, nahe des Sees „Étang de Saloup“ abzweigender Weg, der „Cehmin Rural“, manchmal auch als „Les Chérons“ in Karten eingezeichnet, führte uns schließlich, nach gut elf gewanderten Kilometern, zum Licht der Welt. Endlich, vorbei mit dem Eichenscheiß, es werde Licht.
    Die von Viehwirtschaft geprägte „Freiheit“ präsentierte sich mit strotzend grünen Weiden, durchsetzt mit Bäumen und kleinen Wäldchen. Die kleinen bäuerlichen Betriebe waren auffallend gepflegter als die gestrigen, wobei man dazu sagen muss, dass vermutlich jedes Gebäude gepflegter gewesen wäre.
    Kurz vor dem dreizehnten Wanderkilometer mündete der Weg in das einsame Sträßlein „D 39“. Es war außer sich vor Freude über unsere illustre Gesellschaft. Immerhin brachten wir wenigstens etwas Abwechslung in ihr ansonsten einsames und tristes Leben.
    Ihr Vergnügen fand nach ein paar hundert Metern, leider ein jähes Ende. Fortan folgten wir rechts der nicht minder von uns entzückten „D 145“ in Richtung Westen, „Le Brethon“.
    Vor Einsamkeit befand auch sie sich bereits am depressiven Abgrund. Einmal mehr war hier nichts und niemand, nur wir und unser erheblicher Waldschaden im Kopf.
    Immer noch getrübsalt vom tristen Grau des Himmels gab uns „Estas Tonne“, über unsere am Rucksack hängende „JBL Clip3“-Box, eine Kostprobe seines gitarrenvirtuosen Könnens, das zu unserer Stimmung passte wie die Faust auf dem Auge.

    Vierhundert Metern weiter wurde die „D145“ zur „Route Forestière du Ris Sanglier“. Nach insgesamt drei waldfreien Kilometern mentaler Erholung, mutierte die traurige Straße damit erneut zu einem Forstweg, der mit dem vierzehnten Kilometer unweigerlich das nächste „Waldvergnügen“ einleitete. Nach weiteren vier Kilometern gehörte auch dieser Forst endlich der Vergangenheit an. Für heute war unser „Waldkonto“ kurz vor dem Bersten, weitere „Einzahlungen“ würden nicht mehr angenommen.
    Und wie so oft, kommt unverhofft oft, besonders beim Fernwandern.
    Es war unglaublich, mit dem Wanderkilometer 18,3 und dem Verlassen des letzten Waldes, kehrte sich alles gleichzeitig ins Gegenteil.
    Der trübselige Himmel hatte ein Erbarmen und gab auch der Sonne eine Chance. Der endlose Wald wurde nun von einer offenen- und fantastischen Landschaft abgelöst. Das monotone Grün des Eichenwaldes ließen uns die bunten Frühblüher am Wegesrand und in den naturbelassenen Wiesen, schnell vergessen. Zusätzlich verteilten sich gepflegte und altehrwürdige Häuser zurückhaltend entlang des Wegesrands und warteten auf unsere Entdeckung.
    Alles war perfekt herrlich und ließ uns den endlosen Eichenscheiß langsam vergessen. Hier war es wieder, unser unglaublich schönes Frankreich, WOW, vive la France!
    Die endlose- und leicht abfallende Landschaft führte kilometerweit hinunter ins „La Vallée de l´Aumance“, der Heimat des gleichnamigen Flüsschens.
    Gerne würde ich die Glücksgefühle beschreiben, die uns bei einem derart schönen und unerwarteten Landschaftswechsel durchströmen, aber mir fehlen einfach die Worte. Der Umstand aber, dass unsere selbst geplanten Touren, die in keinem Wanderführer zu finden sind, immer entlang der imaginären Luftlinie zum Endziel führen und dabei alle möglichen Landschaften „durchschneiden“, ist sicherlich ein Grund für deren Intensität.
    Vieles gab es hier zu entdecken, überall. So etwas wie ein steinaltes Kloster, irgendwo am Horizont, gepflegte Landwirtschaft und eine wunderschöne-, von Alleen gesäumte-, kleine Straße, deren Gäste wir waren.

    Kaum ging es uns mental besser, spukte auch der „Gaul“ schon wieder ordentlich in unserem Hirn rum und präsentierte uns in allen Details das „Château de Peufeilhoux“, dessen Gäste wir ab heute, für zwei Nächte sein würden. Er gab sich ordentlich Mühe uns den Vorfreude-Puls, auf ein ungesundes Niveau zu beschleunigen, denn immer noch vermochten wir nicht zu glauben, dass die traumhafte Abbildung im Internet, der Realität das Wasser reichen konnte.
    Besonders in meinem Hirn hackte er auf der vermeintlich luxuriösen Badewanne im uralten Gemäuer rum, wohl wissend, wie oft ich eine Solche nach den langen Wandertagen bisher vergeblich suchte. Einzig das „Hotel Du Parc“ in „Sancoins“, bildete hier eine Ausnahme.
    Wir erreichten mit dem zweiundzwanzigsten Kilometer das Tal und querten über eine kleine Brücke die „l´Aumance“. Sofort danach begann für einen Kilometer das zehnprozentige Leiden des Tages. Schon deutlich geschwächt von der bisherigen Strecke, hechelten wir nur so dem Sieg über den Berg entgegen. Auch die Sonne verabschiedete sich wieder, um den Regenwolken einmal mehr den Vorzug zu geben.

    Nach gut vierundzwanzig Kilometern landeten wir auf der „D2144“, der „Route de Paris“, einer stark befahrenen Bundesstraße unbeliebtester Art. Vom Schloss weit und breit immer noch keine Spur.

    Wie immer und mit Beginn des letzten Kilometers am Ende eines Wandertages, dröhnte „New York“ von „Frank Sinatra“ aus unserer kleinen Wanderbox.
    Gut gelaunt vor uns hin tänzelnd, war der letzte halbe Kilometer dieses unmenschlichen Molochs gerade noch ertragen. Gleichzeitig konnten wir es uns aber keine Sekunde leisten unaufmerksam zu werden, was unsere Tagesendeuphorie deutlich bremste. Nur gut, dass es neben der Straße einen komfortablen Grünstreifen mit etwas Platz für uns gab.
    Ein kleines rotes Hinweisschild markierte endlich die sehnsüchtig erwartete Auffahrt zum immer noch verborgenem Schloss. Es musste hier irgendwo links oben, auf der dicht bewaldeten Hügelkette zwischen dem „Cher“-Tal im Süden, in dem wir uns gerade befanden-, und dem „Aumance“-Tal im Norden, zu finden sein.
    Noch einmal quälten wir uns ein paar hundert Meter auf dem Privatweg hinauf zum Hügel ehe wir die ersten Teile des beeindruckenden- und hoch über uns thronenden Châteaus, erspähten. Zweihundert Meter weiter durchschritten wir ehrfürchtig das monomentale Eingangstor der Schlossmauer und standen völlig überwältigt im Innenhof des ehrwürdigen Gebäudes aus dem fünfzehnten Jahrhundert.
    WOW, unser Schloss, der Gaul hatte nicht zu viel versprochen. Nichts störte die komplett erhaltene, historische Szenerie des wunderschönen Gemäuers.

    „Antoine“, ein gutaussehender und überaus freundlicher Sohn des Inhabers „Claude Thévenin“, bereitete uns, ganz im Gegensatz zum Phantom von „Nevers“, einen fürstlichen Empfang. Hier war der Gast willkommen.
    Andächtig und deutlich eingeschüchtert folgten wir Antoine, der uns über enge Turm-Wendeltreppen und über hinter meterdicken Mauern versteckten Fluren die liebevoll im Stil der Zeit ausgeschmückt waren, zu unserem Zimmer führte.
    Wir waren zwar erschöpft, aber dennoch mehr als beeindruckt, als wir unser „zu Hause“ für die kommenden beiden Tage ehrfürchtig betraten. Wir hatten reichlich damit zu tun den „Gaul“ in Schach zu halten.
    Das schöne Zimmer war komplett saniert, behielt aber, wegen des antiquaren Mobiliars, dennoch seinen historischen Charakter ohne Stilbruch zum Schloss selbst. Das verbleite Fenster am äußeren Ende der meterdicken Mauer, eröffnete einen erhabenen Blick auf den zuführenden Weg und das schöne- und immer noch wolkenverhangene „Cher“-Tal. Von der Bundesstraße war hier oben nicht mehr zu hören, nur die Gespenster flüsterten ab und zu, oder war das der „Gaul“?
    À propos, seine versprochene Badewanne gab es leider nicht, dafür aber ein stylisches-, und modern ausgestattetes Duschbad.
    Nach reichlich warmen Wasser unter der Dusche gab es für den heutigen Tag nur noch eine einzige, letzte Herausforderung: Wo gibt es hier etwas zu essen?
    Einfache Antwort, nirgends.
    Es war ja Sonntag, und am Tag des Herren hat man eben nicht essen zu gehen, basta.
    Antoine, etwas beschämt, weil es sich in der Nebensaison nicht lohnte selbst den Gästen etwas anzubieten, strapazierte sein Handy nach allen Regeln der Kunst. Hartnäckig versuchte er, trotz des Sonntags und des fortgeschrittenen Abends, doch noch irgendwo einen Tisch- und ein uns dort hinbringendes Taxi, das mindestens genauso schwer zu finden ist, zu organisieren, mit Erfolg.
    Frisch und schick begrüßte uns der Chauffeur, um uns zu Antoines organisierten Tisch zu bringen. Es dauerte fast eine Stunde bis wir nach gefühlt mindestens fünfzig Kilometern, das vorgegebene Ziel erreichten. Es war irgendein Hotel-Restaurant, den Namen habe ich wegen Bedeutungslosigkeit vergessen.

    Hier machten sie ordentlich einen auf „dicke Hose“, obwohl der Stoff ganz dünn war. Die Gaststube glich mehr einem neonbeleuchteten Speisesaal, das Personal war pseudo-vornehm-hochnäsig und das drei-Gänge-Menü hat es gerade noch so geschafft die gröbsten Löcher in unseren Bäuchen zu stopfen, und das alles auch noch in der gehobenen Preiskategorie, ein klassischer Reinfall.
    Ich glaube die Madame war froh, als wir dem Speisesaal wieder seine „Würde“ zurückgaben und die Tür hinter uns schlossen.
    Draußen wartete immer noch unser Taxi, ein anderes hätten wir am Sonntag-, und so spät abends, nicht mehr gefunden. Wieder beim Château, nach weiteren gut fünfzig Kilometern Rückweg, wollte unser netter Chauffeur natürlich auch verdient fürstlich entlohnt werden.

    Für das mittelmäßige- und bescheidene drei-Gänge-Menü, inklusive Taxi-Service, berappten wir sage und scheibe rund dreihundert Euro, was für ein Reinfall.
    Unser schönes Zimmer aber entschädigte uns fürstlich für diese Dummheit.
    Es war schon etwas unheimlich, als einzige Hotelgäste um Mitternacht auf verschlungenen Wegen im Schloss unser Zimmer zu suchen.
    Rein vorsichtshalber verschlossen wir sorgfältig unsere Zimmertür bevor wir, kurz vor Mitternacht, dem „Gaul“ freies Geleit gaben.
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  • Day 9

    Einsam

    April 29, 2019 in France ⋅ ☁️ 10 °C

    Trip 5, Tag 9, Wandertag 7: Vallon-en-Sully - Archignat, 32,3 km, Steigung 500 Meter, Gehzeit 5:49, Montag, 29.4.2019

    Im alten Schloss aufzuwachen ohne nächtliches Generve von traumatisierten Seelen, war befreiend.
    Auch das Frühstück erfüllte unsere „strengen Vorgaben“ in jeder Hinsicht. Antoine kümmerte sich einfühlsam um uns croissant-verschmähende Fernwanderer mit den unfranzösischen Geschmacksnerven.

    Während ich Bissen um Bissen meine Muskeln stählte, um für die heutigen, rund zweiunddreißig Kilometer gut gerüstet zu sein, eröffnete mir Marion feierlich, dass sie heute nicht gedenke wieder den ganzen Tag auf den Beinen zu sein. Sie wollte heute einen freien Tag, Punkt.

    Schluck, das hat gesessen und gabs noch nie, außer wenn Marions Füße, vom vielen Gelatsche, allergische Reaktionen zeigten. Dann jedoch hatte sie sich stets irgendwo ein Fahrrad gemietet und die Etappe damit fußschonend geschlossen. Schließlich sollte ja jeder Kilometer bis nach Santiago de Compostela und weiter zum Ende der Welt, nach „Kap Finisterre“, zu Fuß erwandert werden.
    Die "Palast-Revolution" heute Morgen aber war anders.
    Seit unserem letzten freien Tag in Nevers sind wir in drei Tagen gut fünfundachtzig Kilometer marschiert. Das war zwar nicht unbedingt etwas Besonderes, aber seit unserem Start in „Vézelay“, vor acht Tagen, waren es rund einhundertfünfundziebzig Kilometer, ein Schnitt von fünfundzwanzig Kilometer am Tag. Dazwischen hatten wir nur einen Tag frei, ein straffes Programm.

    Marion war einfach müde, aber vor allem breitete sich in ihr das Gefühl aus, nur noch durch Frankreich zu hetzen und es nicht mehr richtig zu erleben. Zugegebenermaßen war sie damit nicht allein.

    Verstärkt wurde ihr Gefühl auch durch das wunderschöne Château, von dem wir, laut unserem Wanderplan, tagsüber kaum etwas haben würden.
    Wir logieren hier nur deshalb zwei Nächte, weil die menschen- und unterkunftsleere Zielgegend der heutigen Etappe, dies unbedingt erforderte.

    Am Endpunkt des Tages, "Archignat", habe ich ein Taxi für den Rücktransport organisiert. Morgen früh wird es uns dann dort wieder hinbringen.

    Marion wollte heute einfach frei haben und war der Meinung, dass „zu Fuß von Hamburg nach Santiago und weiter zum Ende der Welt“, trotz der dann heute fehlenden Tagesetappe, dennoch gilt.
    Was Marion anbelangt war das ihre Sache, was mich jedoch betraf, hinlänglich als monochromer Extremist bekannt, war das inakzeptabel. Denn das Bewusstsein, nicht wirklich auch jeden einzelnen Kilometer der insgesamt dreitausendzweihundert, zu Fuß gegangen zu sein, hätte mir schlichtweg den Spaß verdorben, auch wenn die dreißig Kilometer im Verhältnis zur Gesamtstrecke als völlig lächerlich erscheinen. So bin ich eben, ganz oder gar nicht, schwarz oder weiß, Null oder Hundert, dazwischen gibt es nichts, monochrom halt.

    Irgendwie fand ich Marions freien Tag auch gut. Mir war es wichtig, dass sie ihre gute Laune und Motivation behielt. Denn, was sie noch nicht realisierte war, dass der bisherige Tagesschnitt mit fünfundzwanzig Kilometer zwar schon recht ordentlich war, dass der aber mit den kommenden Tagen noch auf über Dreißig steigen würde.
    Außerdem waren Marions Füße auch schon wieder an der Grenze zur Allergie.
    Insofern war ich sehr einfühlsam mit meiner Frau, gleichzeitig aber hatte ich heute damit aber, einen langen und einsamen Wandertag vor mir.

    Das „Château de Peufeilhoux“ war übrigens ein geschichtsträchtiger Ort. Frühe Entwicklungsstufen aus Holz gab es bereits zur Römerzeit. Ab dem 12. Jahrhundert wurde daraus das erste Stein-Gemäuer, die Fundamente sind bis heute erhalten.

    Irgendwann im 16. Jahrhundert wechselte das kleine Renaissance-Schlösschen den Besitzer, der nach dessen Ausbau dafür das "Lehen ohne Recht" zugesprochen bekam.
    Danach würde es an den Knappen, Lord „Pierrebrune“, übergeben, und so weiter und so fort. Die weitere Geschichte über die Jahrhunderte war völlig verworren.

    Dann, 1822, ließ „Jean Antoine Villatte de Peufeilhoux“ das „Château de Fremnet“, wie es damals hieß, zum Jagdschloss umbauen. Mehrmals verlassen und schließlich vergessen, wurde das Château irgendwann aufgegeben und blieb bis 1920 eine romantischen Ruine.
    Der Retter, „Monsieur Michel Machart“ kaufte sie danach und ließ sie vom größten Architekten der damaligen Zeit, „Sappin des Raynaud“ und seinen etwa dreißig Bauarbeitern, fast sieben lange Jahre aufwendig restaurierten.
    Zu dieser Zeit umfasste der dazu gehörige Besitz fast 650 Hektar Land und ein Dutzend landwirtschaftliche Betriebe.

    Nach einem Englischen- und einem Holländischen Besitzer, landete das Schloss schließlich bei einem Belgier, der es, mittlerweile war es wieder eine Ruine, 2013 an unseren Gastgeber, „Claude Thévenin“, für 1,1 Millionen Euro, verkaufte. Der investierte noch einmal zweihunderttausend Euro, bevor er schließlich das Château als Bed & Brakfast in der heutigen Form anbieten konnte.

    Claude hat sein Vermögen mit einem Tierpark auf der französischen Atlantik-Insel, „Ile de Ré“, erwirtschaftet. Ursprünglich kommt er aber aus dem rund zwanzig Kilometer entfernten „Bourbon-l'Archambault“. Wer sich die Bilder dieses Ortes einmal genauer im Internet angesehen hat weiß, warum Claude „Château-süchtig" ist und unbedingt eins besitzen musste.

    In voller Regenmontur machte ich mich auf den langen Weg. Mein Klimaerwartungsindex lag bei null, es regnete und war kalt, grässlich.

    Mein Plan war, die heutigen, gut zweiunddreißig Kilometer, in Rekordzeit hinter mich zu bringen. Zum einen, weil mein Schritttempo alleine höher war, und zum anderen, weil ich von der Tagesstrecke mehr als die Hälfte auf viel befahrenen Bundesstraßen verbringen würde. Es war echt verrückt, nach meiner Planung gab es in dieser Gegend keine Alternative dazu.
    Völlig genervt von der Bundesstraße „D 2144“ erlöste mich nach drei Kilometern der Ort „Vallon-en-Sully“. Mit seinen 1.578 Einwohnern ist er das Zentrum des Départements Allier. Immer noch sind wir in der Auvergne-Rhône-Alpes Region. Weitere Zeilen über diese traurig-verkommene Gemeinde zu verlieren wäre reine Zeitverschwendung.

    Auf der Rue des „Trois frères pasquier“, die etwas später zur „D 40“ wurde, schlich ich mich schnellen Schrittes aus der dürsten Häuseransammlung.

    Die „D 40“ war zwar nicht ganz so schlimm wie die „D 2144“, nervte aber dennoch gewaltig. Mit meinem derzeitigen Speed von rund 6 Kilometern in der Stunde versuchte ich das Molloch möglichst schnell zu überwinden. Dass ich dabei immer höllisch auf den Verkehr achten musste versteht sich von selbst. Diese Bundesstraße war deutlich schmäler als die „D 2144“, bot aber kaum Platz zum Ausweichen, und war häufig von Leitplanken eingepfercht.
    Leitplanken sind das Gefährlichste, was man einem Fußgänger an einer vielbefahrenen Straße zumuten kann.
    Unmenschliche, dreizehn Kilometer war ich ihr Gefangener. Dreizehn Kilometer geradeaus, dreizehn Kilometer Langeweile. Nur der sich ab und zu durchsetzende, weißblaue Himmel und die davon neu eingefärbte Landschaft, boten zwischendurch etwas Abwechslung.

    Meinen schnellen Schritt ließ ich mir dabei von der Indie-Hip-Hop Band, „Astronautalis“, einpeitschen. Die mitreißende Musik trötete so laut aus meiner kleinen JBL-Box, dass sich selbst der Straßenlärm geschlagen geben musste.
    Nach insgesamt siebzehn zurückgelegten Kilometern schenkte mir ein kleiner unscheinbarer Wegweiser, abzweigend in Richtung „Les Franchises des Barrières“, meine Freiheit, endlich weg von diesem Molloch.

    Nachdem die Musik von „Astronautalis“ ihren Job erledigt hatte, war nun der Singer-Songwriter, „Jose Gonzalez“, an der Reihe, mir mit seiner schönen melancholischen Gitarrenmusik zu helfen die böse Straße zu vergessen.
    Meine Stimmung drehte sich innerhalb von Minuten, ganz im Einklang mit der beeindruckenden Kulturlandschaft und der freundlichen Sonne, die Welt war wieder in Ordnung.

    Müde vom bisher hohen Schritttempo legte ich mich, immer noch in Regenklamotten, unter einen Obstbaum am Rande der schönen kleinen Straße. Eigentlich war es mehr Versorgungsweg der hauptsächlich von der Landwirtschaft genutzt wurde. Nach einem Müsli-Riegel fielen mir sofort die Augen zu, Power Napping.

    Fünfzehn Minuten später war ich wieder zurück im Leben. Welche Befreiung, nunmehr in leichten Wanderklamotten vor mich dahin zu „schweben“, ohne das nervige Gewetze des Regenschutzes, den ich fürs Erste, voller Erwartung auf stabileres Wetter, wieder im Rucksack versenkte.

    Nach dem winzigen Ort „La Grange-Neuve“, eher eine kleine Ansammlung von alten Bauernhäuser, wurde die Landschaft durch ihre sanften Hügel noch lieblicher und mehr und mehr zum reinen „Augenschmaus“, unglaublich schön.

    Die kleine-, von Wildblumen gesäumte Straße, abwechslungsreich eingebettet in endlose- und von der Zivilisation unverdorbenen Hügel unter weißblauem Himmel, wirkte wie sorgfältig komponiert. Sie war eine wild geschlängelte Schönheit, ohne Menschen, ohne Autos, von weit entfernten Kühen aufmerksam beobachtet, und nur von den Stimmen der Vögel begleitet.

    Mit dem dreiundzwanzigsten Kilometer des Tages brachte mich meine Navi-App am kleinen Ort „La Vallas“ vorbei. Die üppig blühenden Büsche entlang des Weges verzauberten meine ohnehin schon beeindruckten Sinne noch mehr.
    Ein links abzweigender Feldweg führte mich nun weg vom Ort und mit zwölf Prozent Gefälle hinunter zum 360 Meter tiefer gelegenen “Meuzelle“-Tal. Die Vegetation der kaum berührten Natur links- und rechts des Weges erinnerte an einen undurchdringlichen, tropischen Dschungel.

    Das Bächlein etwas später auf einem kleinen Steg im wildromantischen Tal zu überqueren, war etwas ganz besonderes. Hier wäre ich gerne länger geblieben, um die Einsamkeit der wilden Schönheit zu inhalieren. Aber allein, ohne Marion, hatte ich dafür keine Muße.

    Was unmittelbar danach kam war die reinste Plagerei.
    Schon deutlich geschwächt von den bereits dreiundzwanzig zurückgelegten Kilometern, verfluchte ich das schöne Tal nach allen Regeln der Kunst. Ein ganzes Leben hätte sicher nicht ausgereicht, um einer später auferlegten Buse Genüge zu tun.

    Der missratene „Dschungelweg“ schlängelte sich nun in Serpentinen und einer unglaublichen Steigung von sage und schreibe sechzehn Prozent, einen endlos langen Kilometer wieder hinauf zum Berg auf der anderen Seite des Tals.
    Der Regen der letzten Tage verwandelte ihn dabei in eine steile, unberechenbare und tief zerfurchte Schlammrutsche, die mich an die Grenzen meiner Belastbarkeit brachte. Mit dem Rucksack auf dem Rücken kroch ich auf allen Vieren, Meter um Meter, dem Bergkamm entgegen. Dennoch rutschte ich immer wieder ab, was mich zusätzlich Kraft kostete.

    Das Problem waren meine Laufschuhe der Marke „Hoka One One“. Sie hatten eine sehr komfortable, weiche und gut gepolsterte Sohle, damit schwebte man förmlich auf der Straße. Zum Nachteil jedoch, dass ich das einstmals vorhandene Profil in kürzester Zeit komplett abgelaufen hatte.
    Damit wurde der Schlammweg für meine Schuhe zum reinsten Fiasko. Nur mit Hilfe der Vegetation am Wegesrand, an der ich mich Schritt für Schritt nach oben zog, konnte ich das Duell, Schlammpiste versus Günter, für mich entscheiden.
    Kriechend, triefendnass und am Ende meiner Kräfte, lag das steilste Stück nun hinter mir, markiert durch das Ende des dichten „Dschungels“. Völlig verdreckt ließ ich mich am Rande des Weges fallen und wartete, bis mein Puls einen nicht mehr „pathologisch“ auffälligen Wert erreichte.

    Nachdem ich meine vor Dreck triefenden Regenklamotten-, die ich in weiser Voraussicht noch im Tal übergezogen hatte, wieder im Rucksack verstaute, sah ich fast wieder aus wie ein Mensch. Nur meine verschlammten-, und klitschnassen Schuhe, bleiben unbestechliche Zeitzeugen.

    Das Gröbste lag nun hinter mir aber zu Ende war das Leiden noch nicht. Ein weiterer Kilometer, allerdings bei weitem nicht mehr so steil, forderte nun meine wirklich allerletzten Energiereserven, wo auch immer die noch herkamen.
    Wieder in offener Landschaft und hoch über dem verfluchten Tal, verbesserte sich die Beschaffenheit des Weges-, und damit auch meine Stimmung, kontinuierlich. Mein Freund, der weißblaue Himmel, hat es wieder einmal gerichtet. Nur gegen meine körperliche Erschöpfung konnte er leider nichts mehr ausrichten, ich hatte mich zu sehr verausgabt.

    Irgendwann begegnete mir etwas, dass ich bisher in ganz Frankreich so gut wie noch nie gesehen hatte, eine gemischte Wandergruppe mit größtenteils älteren Wanderern, alle mit Nordic-Walking Stöckern bewaffnet.
    Ich konnte erst gar nicht glauben was ich da sah, so ungewöhnlich war der Anblick für mich mittlerweile. Mir kamen wirklich Menschen entgegen die sich freiwillig in ihrer unglaublich schönen Natur bewegten, was in Frankreich nicht besonders populär zu sein scheint.
    Da erfreut sich die allabendliche "Wanderung", vom Parkplatz zum Restaurant-Eingang, schon deutlich größerer Beliebtheit.

    Als ich die behäbig mit ihren Stöckchen vor sich hin klappernden Senioren mit einem verhaltenen „Bonjour“ zackig passierte, konnte ich mir eine gewisse innere „Arroganz“ absolut nicht verkneifen.
    Immerhin war ich zu Fuß aus dem rund eintausendsechshundert Kilometer entfernten Hamburg hierher gewandert, oh Mann war ich stolz ...

    Es war wie im Kino, ich war die mit eitler Brust geschwellte Leinwand. Obwohl die Gruppe das mit Hamburg nicht wusste, schienen die "Klapper-Sportler" zu fühlen, dass mit mir einsamen Wanderer irgendetwas „nicht stimmte", entsprechend neugierig und durchdringend waren ihre Blicke.
    Man verzeihe mir an der Stelle meine etwas bissig ausgefallene- und nicht ganz ernst gemeinte Ironie.

    Fünfundzwanzig Kilometer lagen nun hinter mir. Immer noch waren es noch gute sieben bis zum Ziel, dem Rathaus von „Archignat“. Von dort sollte mich, wie eingangs erwähnt, ein reserviertes Taxi zum „Château de Peufeilhoux“ zurückbringen.

    Der heute mies begonnene Wandertag endete wie so oft, in einem großartigen Finale. Trotz meiner völligen Erschöpfung versuchte ich mein hohes Schritttempo einigermaßen beizubehalten.

    Das schöne Wetter schien sich endlich durchgesetzt zu haben. Bisher hatte ich meine Regenkluft wegen seiner Unbeständigkeit sicherlich mehr als fünfmal an- und ausgezogen. So verschlammt wie sie nun war hätte ich sie gewiss kein weiteres Mal in Anspruch genommen, so viel war klar.

    Nach den vielen Straßenkilometern und dem bisher meist grau verhangenen Himmel, konnte ich mich gar nicht mehr satt sehen. Alles war wunderschön, der Himmel, die von kleinen Hecken eingerahmte Kulturlandschaft, die kleinen und einsamen Bauerhöfe, die Einsamkeit, die Weite, einfach alles.

    Irgendwo am Horizont der sanft abfallenden Landschaft, erspähte ich das etwas tiefer gelegene, vielversprechende- und wunderschön in die Landschaft eingebettete „Archignat“, endlich.

    Der schöne, von Liegewiesen eingerahmte Dorfteich, war das Erste, was der Ort preisgab. Selbstverständlich war er den Anglern vorbehalten, wie sollte es auch anders sein, ich spare mir an der Stelle jeden Kommentar.

    Immer mehr eroberte ich den 365 Metern hoch gelegenen Ort, mit seinen 336 Einwohnern. Er gehörte immer noch zum Département Allier, im Nordwesten der Auvergne-Rhône-Alpes-Region und war so ganz anders als die meisten seiner Kollegen. Hier war es gepflegt und sauber, fast schon etwas bürgerlich, beinahe Deutsch.

    Die alte Bausubstanz wurde mit neuen Gebäuden behutsam gemischt. Blumen zierten die gepflegten Häuser mit ihren blühenden Vorgärten, sogar grüßenden Menschen begegnete ich.

    Viele Blickachsen gab es im Dorf zu entdecken, die meisten führten hinunter ins offene Tal.
    Nach einigen Schwierigkeiten fand ich auch das nicht beschriftete Rathaus, wo mich zehn Minuten später auch schon das Taxi erlöste.
    Auch der Rückweg zum Château führte auf kleinen und kurvigen Straßen durch die weiterhin verzaubernde- und permanent abfallende Landschaft.

    Die gut zweiunddreißig Kilometer bin ich in unter sechs Stunden gelaufen. Ohne das verfluchte Tal hätte ich es in gut fünf Stunden geschafft, sinnierte ich stolz, während die Landschaft nur so an mir in "Lichtgeschwindigkeit" vorbeiflog.

    Im Château bereitete mir Marion, guter Laune und gut erholt, einen köstlichen Empfang. Sie war zu Fuß in „Vallon-en-Sully“ einkaufen und zauberte damit ein köstlich-französisches Abendbrot mit allerlei Delikatessen in fürstlicher Ambiente für uns.
    Man merkte, dass ihr das Einkaufen Spaß machte.
    Welch ein Genuss nach der befreienden Dusche.

    Irgendwann danach ertönte gewaltige-, klassische Orgelmusik vom Schloss-Hof zu uns herauf. Es war Claude, der Schlossbesitzer, der hier virtuos einen aufspielte und so den Zuschauern jeden Tag ein imposantes OpenAir-Spektakel in passender Ambiente bot.
    Was für eine Persönlichkeit, wir waren tief von ihm und seinem Lebenswerk beeindruckt.
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