• 27. Juli

    July 27 in Norway ⋅ ☁️ 16 °C

    So, nun heißt es mal wieder etwas nach einem Plan in den Tag zu starten. Da das Schiff nur einmal täglich fährt, will ich sicher sein, es nicht zu verpassen. Habe mir also den Wecker auf um vier gestellt, frühstücke und schnüre mir mit dem von Hannes Mutter selbst gebackenem Brot ein kleines Proviantpaket. Noch schnell geduscht muss ich unbedingt noch einmal den Fußweg hoch auf den Hügel machen, wo ich die Bunkeranlage ja vorgestern nicht bis zum Ende erkundet habe. Das tue ich jetzt in recht schnellem Schritt, da die Zeit limitiert ist und ich am Horizont schon das Schiff der Reederei Havila kommen sehe. Um zwanzig vor sechs verlasse ich das Dorf, bin um diese Zeit am Sonntag ziemlich allein, treffe lediglich Schafe und einen Käfer auf dem Weg nach Vadsø an. Der Wind ist still, das Wetter gut und so muss ich nicht wirklich hasten, auch wenn ich das Postschiff immer in meinem Nacken wähne. Ich habe genug Zeit, doch noch hier und da anzuhalten und diese Stimmung am frühen Morgen zu genießen. Sei es die Sonne, die an bestimmten Stellen auf die Berge hinter dem Fjord scheint oder das Licht, aus dem vom Norden her das Schiff gefahren kommt. Die einzelnen Häuser oder kleinen Dörfchen an der Straße, einige wenige dieser Häuser sind noch wirklich alt und seinerzeit nicht der Taktik der verbrannten Erde zum Opfer gefallen. Da bleibt auch kurz vor Vadsø circa 1 Stunde vor der geplanten Abfahrt noch Zeit, dem Spiel oder Kampf zwischen einer Möwe und einem Seeadler zuzusehen. Im Städtchen selbst ist natürlich alles ruhig, ich fahre einmal durch den Hafen, wo die Fischerboote sich kunterbunt im Wasser spiegeln und auf der vorgelagerten Insel Vadsøya, die über eine Brücke mit dem Festland verbunden ist, kann ich den 1926 errichteten Ankermast besichtigen. Von hier aus sind die Luftschiffe von Roald Amundsen und Umberto Nobile zu den Nordpolexpeditionen gestartet. Wie schön, dass ich auch diesen Geschichten durch den Norden hier oben so konkret folgen kann. Von hier aus fahre ich über die Brücke wieder zurück in den kleinen Hafen, um dann dort am Steg festzustellen, dass ich exakt auf der falschen Seite bin. Die Havila Polaris läuft schon in den Hafen ein und so heißt es jetzt sehr flinke Füße, wieder durch die Stadt über die Brücke auf die andere Hafenseite zu gelangen. Wie schnell man doch wach ist und unheimliche Kräfte entwickeln kann, wenn es denn mal drauf ankommt. Das Einchecken ist schnell gemacht, der Lademeister nimmt mir draußen mein Fahrrad ab, es ist hier die vorletzte Station der elftägigen Reise Richtung Norden, die das Postschiff anläuft. Die zweistündige Überfahrt kostet mich alles in allem 40€, angesichts des Preises von gut zehn Euro für einen einzelreisenden Passagier ist der Aufpreis für das Fahrrad schon horrend. Die Zeit verbringe ich komplett auf dem hinteren Deck, sitze in der warmen Sonne und genieße mein Frühstück mit Tee. Die Sonne strahlt auf Kirkenes, als wir gegen neun einlaufen. Hier ist etwas mehr Trubel beim Aussteigen, da für viele die Reise hier endet und sie Richtung Süden zurückfliegen. Ich übernehme draußen neben der großen Laderampe mein Fahrrad, komme mit ein paar weiteren Radlern ins Gespräch und nachdem ich eine Extra-Orientierungslos-Runde durch die Stadt gedreht habe, lande ich bei dem selben einzig offenen Laden wie auch die anderen Biker schon vor mir, wo wir uns Kaffee und ein paar süße Teilchen gönnen. Es ist immer ganz angenehm, ein paar Geschichten von anderen, wie in diesem Fall von Vera aus Vorarlberg zu hören. Nicht nur, von wo nach wo sie gerade radelt, sondern viel mehr, was sonst in ihrem Leben passiert oder sie bewegt. Gegen elf ist dann Aufbruchstimmung, ich will zwar hier in Kirkenes einen ganzen Tag zubringen und auch Museen besuchen, da es aber Sonntag ist und das Wetter toll, werde ich heute an den nordöstlichst zugänglichen Punkt des Landes, nämlich nach Grense Jakobselv direkt an der russischen Grenze fahren. Das sind gute 60 km, die es teils am Fjord entlang, teils aber auch durch die Berge geht. An einer Tankstelle erhöhe ich noch mal meinen Reifendruck, da es sich doch leichter rollt. Gute 15 km aus der Stadt heraus komme ich, nachdem ich noch einen Tunnel umfahren habe, an den Grenzübergang Storskog, übrigens derjenige welche, den man als letzten von allen europäischen im Zuge des aktuellen Krieges geschlossen hat. Zu sehen gibt es da natürlich nicht sehr viel, die Straßenschilder weisen auf Murmansk hin und nachdem ich ein Foto gemacht habe, bleibe ich an einem kleinen, sehr einfachen Souvenirshop direkt vor der Grenze hängen. Der Betreiber schraubt draußen in der Sonne an alten Klapprädern, er scheint etwas mürrisch, als ich ihn anspreche. Im Shop gibt er mir zu verstehen, dass er bei diesem Wetter unbedingt raus muss, da sie das hier nicht so häufig haben und ich mich doch melden soll, wenn ich was von ihm will. Nach einem kleinen Blick durch die Regale wäre da schon mal die Frage nach der Bezahlung, denn Karte akzeptiert er augenscheinlich nicht. Korrekt, wie er mir bestätigt, er akzeptiert nur Cash oder das hier geläufige Vipps. Tja, woher jetzt nehmen, wenn nicht stehlen? Da mich doch zwei oder drei kleine Teile interessieren, krame ich erst in meinem Gedächtnis, dann in meiner Tasche mit den wichtigen Sachen, um ein paar schwedische Kronen aus dem letzten Jahr hervorzuholen. Das ist Cash und das ist für ihn okay. Kurz darauf sitze ich draußen auf ein paar Holzplanken neben ihm und wir unterhalten uns über das Hier und Jetzt. Natürlich interessiert mich das Thema Russland und Russen, die Grenze hier, zu gern würde ich direkt weiter bis nach Murmansk fahren. Er fragt mich nach meinen Vorstellungen, interessanterweise entsteht daraus ein Gespräch, in dem aus dem mürrischen Männchen ein redseliger Gesprächspartner wird. Der mich als totalen Träumer sieht, der von dem Leben und der Art in Russland keine Ahnung hat. Keinerlei Geheimnis daraus macht, dass er sie nicht mag und ablehnt. Er schildert mir Situationen, die er über die Jahre erlebt hat und auch jetzt immer mal wieder erlebt. Über die Art, wie diese Menschen sich aufführen, über die Gleichgültigkeit gegenüber anderen und die Art von Anarchie, die dort drüben herrscht. All die Sicherheiten, in denen wir uns hier wiegen und auf die wir uns auch verlassen können, zählen dort nichts und mehrere Male erwähnt er, während er ein Steinchen auf den Schotterplatz wirft, dass ich bei denen nur ein völlig bedeutungsloser „Brick“ in ihrem Leben sei. Während er erzählt, lacht er zwischendrin immer wieder schallend laut, als wolle er das gesagte damit noch deutlich unterstreichen. Nach einer guten halben Stunde kommen ein paar Touristen daher, dann ist er abgelenkt und das Gespräch verläuft sich. Ich sitze noch einen Moment und denke: „Genau darum bin ich hier“. Menschen, ihre Geschichten und Meinungen zu hören. Es erinnert mich an die Situation im letzten Jahr, als ich nördlich von Hannover abends mein Zelt im Wald aufgestellt hatte und kurz darauf mit dem örtlichen Jäger in Kontakt kam, der mir, wie viele Bewohner in den folgenden Tagen auch, ein völlig anderes Bild vom Wolf in meinen Kopf gezeichnet haben. Ich habe jetzt keine Angst vor alldem, betrachte es aber aus noch mehr Perspektiven als bisher. Gegen eins breche ich auf, noch gute 45 km zu machen. Es zieht sich ganz unterschiedlich mal an den Fjord, mal wieder höher in die Berge und ich passiere immer wieder einzelne Häuser, beeindrucken tun mich am meisten wieder die, die noch von ganz früher stehen geblieben sind und seitdem Stück für Stück verfallen. Verwundert bin ich über die Menge an Häusern, die entlang dieser im Winter komplett gesperrten Straße doch immer etwas abseits stehen. Es sind also Sommerhäuser, hier und da sehe ich auch Autos oder ein paar Leute. Eine Sache ist ganz nebenbei auch irgendwie merkwürdig, aber nicht schlimm: Seit Tagen liegt mir „Katjuscha“ in den Ohren. Im Partisan-Museum lief im Hintergrund russische Musik, unter anderem dieser schöne Titel, der mich jetzt auf dem Weg nach Russland begleitet. In den Bergen weist ein Schild auf das älteste Fjäll Norwegens hin, das in dem grellen Licht der brennenden Sonne wunderschön wirkt. Gegen halb vier habe ich auf gut 200 m Höhe das Jarfjordfjellet erreicht, wo ich mich zu einer Pause niederlasse. Die ich allerdings so kurz wie möglich halte und auch nicht in großer Ruhe, die Mücken herum sind doch ziemlich penetrant. Auf der ziemlich rappeligen Straße rächt sich jetzt ziemlich der hohe Luftdruck, den ich heute Morgen verabreicht habe, denn sie ist wirklich schlecht. Immerhin ist sie aber geteert und ich gut gefedert. Um vier passiere ich das Ortsschild Grense Jakobselv, allerdings ist der Begriff Ort ziemlich irreführend. Entlang der nächsten gut 10 km Schotterpiste stehen weiterhin vereinzelt Häuser, ich passiere noch ein altes Schulgebäude. 10 Minuten nach dem Ortsschild kommt die Straße dann direkt an das Flüsschen Jakobselv. Da bin ich nun also an der russischen Grenze, die in der Flussmitte durch die tiefste Stelle repräsentiert wird. Diesseits stehen die gelben Grenzpfosten der Norweger, jeweils gegenüber die grün und rot lackierten der Russen. Es stehen genau hier an diesem Punkt einige Schilder, die deutlich darauf hinweisen, wie man sich zu verhalten hat. Dass das Überqueren des Flusses, das Provozieren oder Fotografieren speziell von Militärpatrouillen auf der anderen Seite verboten ist ebenso wie das Werfen von Steinen in oder über den Fluss. Eben all das, was der gesunde Menschenverstand als Provokation ansehen würde. Ich sehe an ein paar wenigen Stellen Leute auf der anderen Seite, die gerade angeln, einer von ihnen ist in soldatischer Kleidung. Auf ein freundliches Hej bekomme keine Antwort. Später lese ich noch auf einem anderen Schild, dass selbst die Kontaktaufnahme und Gespräche über die Grenze ausnahmslos jedem auf beiden Seiten per Gesetz untersagt ist. Warum erinnert mich das so stark an die ehemalige Grenze der DDR zum Westen? Und rolle weiter entlang dieses mystischen Flusses, während auf der anderen Seite die Berge genauso schön sind wie diese hier und immer mehr denke ich bei mir: „Ja, warum sollte da auch irgendetwas anders sein?“ Es ist nur eine von Menschen gemachte und erdachte Linie und einfach zu schade, dass ich nicht auf einen ihrer Berge steigen kann. Hoch oben diesseits auf dem Berg haben die Norweger einen Stützpunkt, von dem aus sie mit moderner Technik das Areal überwachen, die Russen tun selbiges auf einem nicht so hohen Berg ihrerseits. Gegen fünf erreiche ich ziemlich das Ende der Straße, hier verläuft sich der Fluss etwas breiter gleich ins Meer und ich besuche noch die an diesem speziellen Ort in 1869 errichtete König-Oskar-II.-Kapelle. Sie wurde wegen wiederholter Grenzstreitigkeiten als Grenzzeichen erbaut und nach seinem Besuch in 1873 nach dem König benannt. Gleich auf der anderen Seite der Piste sind die Überreste einer weiteren Bunkeranlage aus dem zweiten Weltkrieg zu sehen, die ich noch kurz aufsuche. Es ist schon irgendwie skurril, da sind die Reste dieser letzten übermächtigen Aggression noch nicht weggeräumt, da stehen schon die nächsten an, um es ihren Vorgängern ziemlich gleich zu tun. Von hier aus ist es jetzt noch ein halber Kilometer und ich habe das Ende der Straße erreicht. Auf einem sandigen Parkplatz stehen 10-15 Wohnmobile, es gibt einen Shelter und ein Toilettenhaus. Vor dem Shelter stehen zwei junge Militärs, die bewusst hier mit den Touristen Kontakt aufnehmen während ihrer Patrouillen, um aufzuklären und dem, was eh auf den Schildern geschrieben steht, noch einmal Nachdruck zu verleihen. Denn wie sie mir erzählen, gibt es immer mal wieder besonders schlaue, die auf der anderen Seite des Flusses Fotos machen, um sich dann in den sozialen Medien damit zu rühmen. Es ist sehr interessant und angenehm, sich mit diesen ungefähr 20-jährigen Wehrdienstleistenden zu unterhalten, die nach einer besonderen Ausbildung seit Januar hier eine besondere Art von Dienst machen, der gleichzeitig aber auch sehr an Urlaub erinnert. Kurz darauf finde ich über der Düne gleich neben dem breiten weißen Sandstrand ein wunderbares Plätzchen, an dem ich mein Zelt einrichte. Aufgrund der Schönheit dieses Fleckchens bin ich direkt so angetan, dass ich das ursprünglich schon für morgen geplante Zurückfahren nach Kirkenes streiche. Das Wetter ist so wunderbar mit dem warmen Wind von Süden und der Sonne dazu. Aus den Bergen hinter mir kommt ein kleiner Bach heruntergelaufen, an dem ich mich auch morgen mit Frischwasser versorgen kann und so fühlt es sich wieder einmal an, als wäre ich in ein neues Paradies gestolpert.
    Спасибо, здесь очень приятно.
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